virselis

Antanas Maceina, bekannt durch seine hervorragende Deutung von Dostojewskijs Großinquisitor-Legende, erschließt im vorliegenden Werk die „Erzählung vom Antichrist" Solowjews. Dieses Werk des russischen Dichterphilosophen hat in unserer Zeit viele neue Freunde gefunden, weil es Themen aufrollt, die jeden, der nicht nur oberflächlich in unsere Welt hineinschaut, bedrängen. Das Buch ist aber zugleich mehr als nur eine Deutung von Solowjews Erzählung. Diese dient mit ihrer Darstellung des Antichristen nur als Ausgangspunkt für eine Analyse des Bösen in der Geschichte, für die Analyse eines weltgeschichtlichen Kampfes, für den es keine klaren Fronten mehr gibt. Symbolisiert durch die Bilder des Lammes und des Drachens, wird die Geschichte zum Kampfraum der transzendenten Mächte. Der Antichrist wird zur geschichtlichen Macht und greift in die gesamte geistige Welt ein. Er ist ein Usurpator der Stellung Christi, er bedient sich nicht der Freiheit, sondern des Zwanges, er vergewaltigt alle Seinsbereiche. Sein Reich wird zum Schauplatz des Kampfes aller gegen alle, im Satt-sein erstickt er den metaphysischen Hunger der Menschen und täuscht sie hinweg über ihre Grundsituation des Unterwegs-seins. Das letzte Kapitel Uber die Kirche unter der Bedrängnis des Antichristen stellt uns besonders zeitnahe Probleme vor Augen.

Das neue Werk Maceinas erweist wieder seine große Belesenheit und sein tiefes Eindringen in philosophische und theologische Fragen. Das Buch geht geistig interessierte und um ihre Verantwortung wissende Menschen an.

ANTANAS MACEINA

DAS GEHEIMNIS DER BOSHEIT

VERSUCH EINER GESCHICHTSTHEOLOGIE DES WIDERSACHERS CHRISTI ALS DEUTUNG DER «ERZÄHLUNG VOM ANTICHRIST» SOLOWJEWS

VERLAG HERDER FREIBURG

Alle Rechte vorbehalten — Printed in Germany
Druckerei von Herder & Co. GmbH., Freiburg im Breisgau 1955

VORWORT

Ihrem Inhalt nach ist die vorliegende Studie nicht ein Buch über Solowjew, sondern über den Antichrist als das Geheimnis der Bosheit. Solowjew lieferte uns nur das notwendigste sinnbildliche Material.

Als der Verfasser in seinem vor drei Jahren erschienenen Versuch über die Dostojewskijsche Legende vom Großinquisitor1 die inquisitorische Ordnung im Sinne der Erhebung des Menschen „wider den Herrn und seinen Gesalbten" (Ps 2, 2) geschichts-philosophisch deutete, stellte er dabei fest, daß all die Probleme des geschichtstheologischen Abschlusses bedürfen. Das Ringen zwischen Christus und Inquisitor beginnt schon im Herzen des Menschen und erscheint als Widerstand des fleischlichen Ich gegen das Gesetz der Vernunft (vgl. Rom 7, 14—23); es objektiviert sich aber sogleich in Raum und Zeit und wird zum Universalstreit zwischen Kirche und Welt: einem Streit, der die Weltgeschichte in zwei entgegengesetzte Lager, ja Heere sondert und von ihr die endgültige Entscheidung verlangt. Gegen die Gemeinschaft der Heiligen erhebt sich ein Ameisenhaufen in Form des totalitären Staates. Am Horizont unseres historischen Daseins erscheinen zwei große Zeichen: das mit der Sonne bekleidete Weib und ein feuerroter Drache (vgl. Offb 12, 1—3), deren Kampf, laut Offenbarung, das Hauptthema des geschichtlichen Verlaufs der Menschheit bildet. Die geschichtsphilosophische Untersuchung dieses Themas mündet also von selbst in eine Geschichtstheologie des Widersachers Christi und seiner Kirche.

Diesen theologischen Abschluß bietet uns gerade Wladimir Solowjew mit seiner „Erzählung vom Antichrist".

Wiewohl die Erzählung Solowjews die literarische Höhe der Legende Dostojewskijs nicht erreicht — das Allegorische drängt hier das echt Symbolische etwas zu stark zurück —, so sind doch diese zwei Werke ihrem Inhalt nach eng miteinander verbunden. Sie behandeln dasselbe Thema, und dabei ergänzen sie sich gegenseitig. Der Inquisitor Dostojewskijs ist nur noch Philosoph. Er kommt allein ins Verließ des Gefängnisses von Sevilla und bemüht sich, Christus durch seine scharfe Logik zu bekämpfen. Der Antichrist Solowjews dagegen ist bereits Theologe, der Christus nicht mehr durch eine rationelle Analyse der menschlichen Natur, sondern durch die Erfüllung einer Mission ,von oben' und folglich durch die Bemächtigung des geschichtlichen Lebens überwältigen will. Er diskutiert daher nicht; er handelt, indem er sein ,Evangelium' verkündet und sein ,Reich' errichtet. Gibt sich der Inquisitor für den richtigen Ausleger der menschlichen Existenz aus, so beansprucht der Antichrist, „der vollkommene und endgültige Erlöser"2 der Geschichte zu sein. Im Wesen jedoch bleibt der Antichrist derselbe Inquisitor, nur daß er die Schwelle der Gefängniszelle, d. h. das Innere des Menschen, bereits überschritten hat und sich in den objektiven Gebilden des Daseins einzurichten versucht. Wollen wir also den widergöttlichen und widerchristlichen Menschen bis zu seiner letzten Tiefe verstehen und die Entwicklung der von ihm gegründeten Weltordnung bis zu ihren letzten Konsequenzen verfolgen, so müssen wir dem Antichrist Solowjews Schritt für Schritt nachgehen und seinen Geist, seine Tätigkeit und sein Reich einer geschichtstheologischen Analyse unterziehen. Das Bild des Antichrist ist in Solowjews Erzählung fürwahr großartig entworfen. Dieser russische Denker, der zugleich auch ein Dichter war, bemühte sich, den Gegner Christi so deutlich wie nur möglich, selbst bis in kleinste Einzelheiten zu schildern. Nicht jede von diesen Einzelheiten ist im gleichen Verhältnis bedeutsam. Einige von ihnen sind rein aus der dichterischen Einbildungskraft geschöpft und dienen ausschließlich dazu, die poetische Anschaulichkeit des Bildes zu vervollständigen. Dies gibt auch Solowjew selbst zu, wenn er sagt, er messe den Zügen letzterer Art „keine ernsthafte Bedeutung" bei und erwarte auch von seinen Kritikern, daß „sie sich zu diesem Gegenstand ebenso verhalten werden". Davon aber abgesehen, finden wir darunter auch solche Züge, die dem antichristlichen Geiste wesentlich sind und seine schaudervolle Tiefe ans Tageslicht bringen. Die Analyse eben dieser Züge wird uns ermöglichen, sowohl der inneren Struktur der antichristlichen Mächte näher zu kommen, als auch ihre Erscheinungen in der Geschichte leichter zu erfassen und zu bewerten.

Indem Solowjew die Menschheitsgeschichte im Lichte des Antichrist — „sub specie antichristi venturi", wie er selbst sagt — betrachtet, zeichnet er uns den Gang des gesamten historischen Prozesses, denn der Antichrist ist der Träger des immerwährenden Geheimnisses der Bosheit, und „das Geheimnis der Bosheit ist schon am Werk" (2 Thess 2, 7). Heutigentags fühlen wir es besonders deutlich. Einst standen das Christentum und das Heidentum nebeneinander. „Heute hingegen stehen die beiden Reiche einander nicht mehr von außen, sondern im Innern gegenüber: sie sind aufs engste miteinander verzahnt. Eine säuberlich abgeschlossene Christengemeinschaft, die von heidnischen Einflüssen abgeschirmt wäre, ist nicht mehr denkbar."3 Daher erwächst die Pflicht, nicht jedem zu trauen, sondern die Geister zu prüfen (vgl. 1 Jo 4, 1) und das Maskenhafte der Zeit zu entlarven.

Ein kleiner Beitrag dazu will auch die vorliegende Studie sein.

Freiburg i. Br., am Fest des hl. Johannes des Täufers 1954.

A. Maceina

Der Großinquisitor. Geschichitsphilosophischie Deutung der Legende Dostojewskijs. F. H. Kerle Verlag, Heidelberg 1952.

Solowjews Erzählung wird nach der Übersetzung von Ludolf Müller (VI. S. Solowjew, Kurze Erzählung vom Antichrist, München 1947) zitiert.

3 Kard. Suhard, Essor ou déclin de l'Église (ein Hirtenbrief vom 11. Februar 1947).


INHALT

EINFÜHRUNG Der Sinn der Erzählung.............................. I

ERSTER ABSCHNITT

Der Antichrist als geschichtliches Problem

1. Der religiöse Charakter der Geschichte..............................17

2. Der christozentrische Charakter der Geschichte...............24

3. Geschichte als Unterscheidungszeit..................................30

4. Der Widersacher Christi .................................................. 37

ZWEITER ABSCHNITT

Der antichristliche Geist

1. Die Eigenliebe....................................................................46

2. Die Einstellung zu Christus..............................................54

3. Die satanische Sendung...................................................65

4. Die unzüchtige Herkunft.................................................73

DRITTER ABSCHNITT 

Die antichristliche Tätigkeit

1. Verstellung als Wirkungsweise.......................................83

2. Die Ausschaltung des Übernatürlichen.........................91

3. Die Usurpation der Stellung Christi.............................103

4. Vernichtung der Gottesidee..........................................114

VIERTER ABSCHNITT

Das antichristliche Reich

1. Ähnlichkeit mit dem Reiche Christi............................126

2. Das antichristliche Evangelium...................................133

3. Die erzwungene Liebe.................................................142

4. Die Einheit....................................................................151

5. Der Wohlstand.............................................................160

6. Das Vergnügen.............................................................168

FÜNFTER ABSCHNITT

Die Kirche unter der Bedrängnis des Antichrist

1. Verbannung in die Wüste...........................................175

2. Die blutigen Verfolgungen..........................................183

3. Der große Abfall..........................................................194

4. Läuterung des Menschlichen......................................203

5. Rückkehr zum Anfang................................................212

Namen- und Sachverzeichnis.........................................223

EINFÜHRUNG

DER SINN DER ERZÄHLUNG

Die kurze Erzählung vom Antichrist, der Schwanengesang Solowjews1, bildet den Schlußteil seines letzten Werkes „Drei Gespräche" und will ein Hinweis auf den geschichtlichen Ausgang unseres Kampfes mit dem Bösen sein. Ein weltanschaulicher Umbruch, der in der Seele dieses großen Denkers ziemlich kurz vor seinem Tode stattfand, rief in ihm, wie er selbst dazu gesteht, „den starken und inständigen Wunsch" wach, die Frage nach der Rolle des Bösen im historischen Prozeß gründlicher zu untersuchen und die Ergebnisse auf eine anschauliche, allgemeinverständliche Art darzulegen. Im Jahre 1899, als Solowjew im Ausland (in Cannes an der Riviera) weilte, bekam der Plan Gestalt und wurde, dem Beispiel Piatos folgend, in Dialogen ausgeführt. Im Garten einer Villa, die dicht am Fuße der Alpen liegt und in die tiefe Bläue des Mittelmeeres schaut, treffen fünf Russen zusammen: ein alter General, ein Politiker, ein junger Fürst, eine Dame und ein gewisser Herr Z, der in den Unterhaltungen Solowjews Anschauungen vertritt. An drei Nachmittagen versammeln sie sich und rollen dabei in drei Gesprächen das Grundproblem des Bösen auf : Ist das Böse nur eine natürliche Unzulänglichkeit oder eine tatsächliche Kraft? Wenn es nur eine Unvollkommenheit des Seienden ist, dann genügt es, sich um das Gute eifrig und intensiv zu bemühen, seine natürliche Entwicklung in der Welt zu fördern, und das Böse verschwindet von selbst, wie die Finsternis verschwindet, wenn man die Lampe anzündet. Die Selbstentfaltung der Natur und die schöpferischen Taten des Geistes sind in diesem Fall geeignete und ausreichende Mittel, um das Böse aus unserem Dasein zu beseitigen. Der Sieg des Guten erscheint dann als Endergebnis des rein immanenten Weltprozesses.

Ist aber das Böse eine Kraft, die sich des gesamten irdischen Daseins durch ihre Lockungen und Verführungen bemächtigt, so genügt es nicht mehr, das Gute ruhig wachsen zu lassen, denn dieses Wachstum selbst wird ja von den bösen Mächten gestört und behindert, hie und da sogar gänzlich vereitelt. In diesem Fall muß man der Kraft des Bösen die Kraft des Guten entgegenstellen, eine Kraft, die allerdings stärker sein soll als die des Bösen. Der Zusammenstoß dieser Kräfte bildet dann die eigentliche Gestalt des geschichtlichen Verlaufs, und der Sieg des Guten ergibt sich nicht auf dem Weg der ruhigen Entfaltung und Schöpfung, sondern ist nur durch unerbittlichen Kampf zu erreichen. Da aber die gesamte irdische Ordnung mit dem Bösen durchtränkt ist, können wir hienieden keinen Stützpunkt finden, der unüberwindlich ist und der uns gleichsam als Festung in diesem Ringen dienen kann. Der Kampf mit dem Bösen weist uns auf eine andere Seinsebene hin, und sein Erfolg hängt nicht nur von der Natur oder von dem Geiste allein ab, sondern gleichzeitig auch von jenem Höheren, der sich zur natürlichen Entwicklung und zu unseren schöpferischen Bestrebungen wesentlich gesellt. In diesem Fall ist der Sieg des Guten nicht mehr immanent, nicht mehr rein geschichtlich, sondern transzendent und übergeschichtlich. Er vollzieht sich bereits im Jenseits.

Es ist leicht zu erraten, welche von diesen Lösungen Solowjew sich zu eigen macht. „Das Böse existiert tatsächlich", behauptet er durch den Mund des Herrn Z. „Es kommt nicht allein im Mangel an Gutem zum Ausdruck, sondern auch in dem wirklichen Widerstand und Übergewicht der niederen Eigenschaften über die höheren auf allen Gebieten des Daseins." — Es gibt ein individuelles Böse, das sich in tierischen Leidenschaften der menschlichen Natur ausdrückt und die Oberhand über bessere Bestrebungen des Willens bei der überaus großen Mehrzahl der Menschen gewinnt. Es gibt auch ein gesellschaftliches Böse, das darin besteht, daß die Masse den Einzelnen versklavt, seine Persönlichkeit verstümmelt und „den Rettungsbemühungen einiger weniger Menschen Widerstand leistet". Es gibt schließlich ein physisches Böse, das sich im Kampf der materiellen Elemente des Körpers gegen „die lichte Kraft" des Lebens äußert und seinen Triumph im Tode feiert. In der sichtbaren Wirklichkeit erscheint das Böse sogar stärker als das Gute. Und wenn man diese Sichtbarkeit für das einzig Reale hält, kann man tatsächlich glauben, die Welt sei „ein Werk des bösen Prinzip«". Um Mißverständnissen in der Auffassung des Bösen vorzubeugen, müssen wir hier bemerken, daß der uns auf den ersten Blick befremdende Solowjewsche Satz, „Das Böse existiert tatsächlich", lediglich ein geistiges Erlebnis, nicht aber den metaphysischen Begriff des Bösen ausdrückt2. Im Vorwort zu „Drei Gespräche" gibt Solowjew selbst zu, daß eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob das Böse nur eine Unvollkommenheit oder eine „tatsächliche Kraft" ist, allein „innerhalb eines vollendeten metaphysischen Systems" möglich wäre. Dieses zu schaffen, war ihm jedoch nicht beschieden. Deshalb begnügte er sich, das Problem des Kampfes gegen das Böse zu stellen und es von drei Gesichtspunkten — von dem des Konservativismus, des Fortschrittsglaubens und der Religion her — zu beleuchten. Anders gesagt: das Problem des Bösen ist in „Drei Gespräche" nicht metaphysisch, sondern geschichtstheologisch gestellt. Solowjew untersucht hier das Böse nicht in seinem abstrakten Begriff, sondem in seinen geschichtlichen Trägern, die tatsächlich existieren, eine Kraft besitzen und infolgedessen eine bedeutende Rolle in dem historischen Prozeß spielen. Das Böse in sich ist gewiß nichts Positives. Es ist Mangel an Sein (privatio entitatis, St. Thomas) oder an Gutem (amissio boni, St. Augustinus). Es widerfährt dem freien Willen der vernunftbegabten Kreatur, die sich gegen Gott entscheidet und somit den Weg ins Nichtsein einschlägt. Solowjews Lehre über die urprimäre und künftige Harmonie aller Geschöpfe miteinander und mit Gott, seine Kritik des platonischen Dualismus, sein Glauben an die endgültige Beseitigung des Bösen aus dem Weltall zeigen eindeutig, daß er der orientalisch-manichäischen Auffassung des Bösen nicht huldigte, denn in dieser gibt es ja keine Eintracht und keine Überwindung. Spricht jedoch Solowjew hie und da über „die Wirklichkeit des bösen Prinzips", so versteht er darunter nicht ein ungeschaffenes böses Urprinzip3, sondern stets eine freie, von Gott abgefallene und daher in eine Schuld verfallene Schöpfung, die dadurch, daß sie ihrem Abfall eine objektivierte Daseinsform zu geben versucht, zu einem tatsächlich existierenden Träger des Bösen und somit zu einer Kraft wird. Diese gegen das Gute wirkende dunkle Kraft zu entlarven, ihren Betrug in der Geschichte der Menschheit aufzudecken, gleichzeitig aber die guten Kräfte, d. h. die geschichtlichen Träger des Guten, zum Kampf dagegen aufzurufen, war die Grundabsicht, die Solowjew zu den Dialogen der „Drei Gespräche" bewog.

Trotz des Erlebens der tatsächlichen Kraft des Bösen glaubt Solowjew fest „an das Gute und seine eigene Macht". Mehr noch: er glaubt an den endgültigen Sieg des Guten über das Böse. „Schon im Begriff dieser guten Kraft", sagt er, „liegt ihre wesentliche und unbedingte Überlegenheit." Zwar tobt der Kampf zwischen dem Bösen und dem Guten nicht allein in der Seele des Einzelnen und in der Gemeinschaft, sondern zugleich auch in der physischen Welt, doch der Sieg des Guten ist sicher, denn Gott ist, nach Solowjew, nicht wie jener Gutsbesitzer, der seine Mietlinge auch im Sturm des Herbstes in seine Weinberge schickt, während er selbst irgendwo im Süden lebt und des schlechten Wetters spottet. Nein, Gott kämpft mit. Er ist zu uns gekommen, hat unsere Natur und unser Schicksal angenommen, ist unseres Todes gestorben, aber auch auferstanden. Die persönliche Auferstehung Christi und die universale Auferstehung aller Menschen ist für Solowjew die wahre und einzige Gewähr für den endgültigen Sieg des Guten. „Ohne Glauben an die vollzogene Auferstehung des Einen", behauptete er gegen das, moralische Christentum' L. Tolstojs, „und ohne das innere Wissen um die künftige universale Auferstehung kann man nur schöne Worte über irgendein Reich Gottes machen, indes allein das Reich des Todes sich als sicher erweist." Mit Recht daher unterstreicht K. Močulskij, daß der Glaube an die tatsächliche Auferstehung Christi und an die Unsterblichkeit des Menschen „nicht nur im Zentrum seiner Polemik gegen Tolstoj, sondern auch in dem seines ganzen geistigen Lebens steht"4. Der geschichtliche Prozeß geht auf die Auferstehung zu. „Wenn der Kampf mit dem Chaos und Tod", schreibt Solowjew an Tolstoj, „das Wesentliche im Weltprozeß bildet, so ist die Auferstehung der unentbehrliche Moment in diesem Prozeß." 5 Das unmittelbare Eingreifen Gottes in den Kampf mit dem Bösen dadurch, daß er den Tod, dieses „äußerste Böse", endgültig überwindet, ist für Solowjew unbedingte Voraussetzung, damit dieser Kampf mit Erfolg geführt und mit dem Sieg gekrönt werden könnte.

Womit aber endet dieser Kampf in unserer Wirklichkeit? — Darauf will uns Solowjew eine Antwort gerade mit seiner Erzählung vom Antichrist geben. Er schildert hierbei nicht die Universalkatastrophe des Weltgebäudes, wenn „die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden" (Mt 24, 29), sondern „einzig und allein das Ende unseres historischen Prozesses". Der physische Zusammenbruch der Weltordnung, der einen bedeutenden Platz in der Prophezeiung Christi und in den Visionen des hl. Johannes einnimmt, kommt in der Erzählung Solowjews kaum zur Darstellung. Zwar berichtet er von einem starken Erdbeben, vom Ausbruch eines Vulkans am Toten Meer, von Feuerströmen, die den Antichrist verschlangen, doch all dies ist lediglich in wenigen Zeilen wiedergegeben, das Ganze indessen ist geschichtlichen und geistigen Ereignissen gewidmet. Die Erzählung vom Antichrist ist die dichterische Vision der letzten geschichtlichen Epoche der Menschheit. Ihr Kennzeichen besteht „im Erscheinen, in der Verherrlichung und im Zusammenbruch des Antichrist". Da aber dieser „eine persönliche, in ihrer Endgültigkeit und Vollendung einzigartige Verkörperung des Bösen" ist, so endet unser historischer Verlauf mit dem größten Triumph des Bösen, gleichzeitig jedoch auch mit seiner endgültigen Niederlage.

Ursprünglich wollte Solowjew auch diesem Gedankengang dieselbe dialogisierte Form wie auch den vorhergehenden Teilen der „Drei Gespräche" geben. Doch überzeugte ihn die Kritik seiner Freunde, solche Darstellungsweise würde dem schaudervollen Ernst des Gegenstandes kaum entsprechen. Darum änderte er die Fassung des dritten Gesprächs und fügte ihm eine Erzählung hinzu, die Herr Z den Unterhaltungspartnern vorliest6. Gewoben aus allem, was man über das Erscheinen des Antichrist „nach der Heiligen Schrift, der kirchlichen Überlieferung und dem gesunden Menschenverstand sagen kann", läßt diese Erzählung den Triumph und den Fall des Bösen in einer menschlichen Persönlichkeit erscheinen, die zum Universalmonarchen nicht nur der politischen, sondern sogar auch der religiösen Ordnung wird. Der Antichrist beherrscht das gesamte menschliche Dasein auf Erden. Er triumphiert zwar nicht lange, nur etwa dreieinhalb Jahre. Gleich darauf wird er samt seinem falschen Propheten und seinen zahllosen Regimentern vom Flammensee verschlungen. Damit aber schließt auch unser irdischer geschichtlicher Prozeß ab. Der letzte Moment des Kampfes mit dem Bösen erweist sich als der letzte Akt der Weltgeschichte. Der endgültige Sieg des Guten erhebt die Menschheit in eine andere Seinsebene, in das tausendjährige Reich Christi, das nicht mehr zum Diesseits gehört. — Das ist die Antwort Solowjews auf die von ihm selbst gestellte Frage, womit unser sittlicher Kampf mit dem Bösen in der Geschichte endet.

Und doch ist diese Antwort nicht das Endergebnis der natürlich entwickelten Solowjewschen Weltanschauung. Sie ist eher ein Bruch mit dem Früheren, ein Verzicht auf die große Hoffnung, die der Denker beinahe sein ganzes Leben lang hegte. Sie birgt in sich ein tiefes menschliches Drama, dessen Wesen darin besteht, daß der Mensch stets vor Leiden und Tod flieht und sich in wirklichkeitsfernen Theorien zu verbergen sucht. Als Jesus vor dem Ende seines irdischen Lebens begann, „seinen Jüngern zu zeigen, er müsse vieles leiden und getötet werden", nahm ihn Petrus beiseite und sagte zu ihm: „Das sei ferne von dir, Herr! Das darf dir nicht widerfahren" (Mt 16, 22—23). Was wollte Petrus damit sagen? Die Antwort gab er selbst auf dem Berge Tabor, als er im Angesicht des verklärten Jesus seine Freude über das dortige Dasein äußerte und den merkwürdigen Vorschlag machte: „Herr, es ist ein Glück für uns, hier zu sein! Willst du, so werde ich hier drei Hütten bauen" (Mt 17, 4). Tabor ist Symbol der kämpf- und schmerzlosen Verklärung des Seins. Es ist ein kurzes Aufblitzen jenes für immer uns verlorengegangenen Zustandes, der mit der Fleischwerdung des Logos universal eingetreten wäre, wenn die Menschheit nicht gesündigt hätte. Die Sünde zog aber Leid und Tod nach sich, bürgerte diese im Dasein ein und sperrte somit den Weg für die spontane Seinsverklärung. Jedoch sehnt sich der Mensch von Natur aus nach derartiger Verklärung und versucht deshalb, die Augenblicke jenes Aufblitzens einzufangen und sie zur bleibenden Form seines ungeläuterten Daseins auszubauen.

Die göttliche Entgegnung darauf ist aber eindeutig: Jesus sprach mit Moses und Elias „von seinem Ende, das er in Jerusalem finden sollte" (Lk 9, 32). Die irdische Existenz soll zuerst ihr Ende erleben, erst dann kann sie die gnadenhafte Verklärung ertragen. Leid und Tod sollen durch Leid und Tod überwunden werden, damit wir uns des neuen Daseins freuen könnten. Die Verklärung des sündhaften Seins kann nur durch die Beseitigung der Sünde ermöglicht werden, d. h. durch die göttliche Erlösungstat, die sich im Sterben und in der Auferstehung Christi erfüllte. Der Leidens- und Todesweg ist der einzige Weg zur Befreiung der Menschheit aus ihrem gefallenen Zustand. Und diesen Weg sollen nicht nur Einzelne, sondern auch die ganze Weltgeschichte gehen, wie ihn auch „der Erstgeborene aller Schöpfung" (Kol 1, 16) gegangen ist. Deshalb äußert sich das Evangelium über den erwähnten Vorschlag Petri: „Er wußte nicht, was er redete" (Lk 9, 34). Deshalb weist auch Christus die Bemühung Petri, der ihm von Leiden und Tod abraten will, schroff zurück: „Weg von mir, Satan! Denn du hast nicht Sinn für die Sache Gottes, sondern für die Sache der Menschen" (Mt 16, 23). Die Sache der Menschen besteht darin, daß diese sich auf Erden einrichten wollen, als ob sie nie gesündigt hätten und der Erlösung durch Leid und Tod nicht bedürften. Die Sache Gottes dagegen ist, die Sünde nicht zu überdecken, sondern sie radikal zu überwinden und somit uns das neue Leben zu erwerben.

Daher ist jede Geschichtsphilosophie zum Scheitern verurteilt, die das universale Leiden und den universalen Tod aus ihrem System ausschaltet und die Vollendung des Seins aus der natürlichen Entwicklung der Natur oder der schöpferischen Tat des Geistes ableitet. Jeder Immanentismus in der Auffassung der Geschichte entbehrt des Grundes. Er ist im Wesen nichts anderes als die hoffnungslose Übertragung des paradiesischen Zustandes auf den irdischen Lauf der Dinge — eine Illusion, die in sich zwar sinnvoll ist, weil sie die Erinnerung an den unschuldigen Ursprung der Menschheit hütet, die aber hienieden immer undurchführbar bleibt, weil sie die ihr entgegenwirkende Kraft des Bösen außer acht läßt. Solowjew huldigte dieser Illusion jahrelang, bis er endlich einsah, daß er nicht wußte, was er redete. Als „die nicht mehr allzu ferne Gestalt des bleichen Todes" sich anschickte, sein kaum aufgeschlagenes Lebensbuch zu versiegeln, begriff Solowjew, daß das Schicksal des Einzelnen lediglich eine Zusammenfassung des Gesamtschicksals ist; daß der Sieg des Bösen über einen Teil zugleich auch auf den Sieg über das Ganze hindeutet. Da riß er die utopischen Hütten ein, die er so planmäßig und systematisch in seiner früheren Geschichtsphilosophie gebaut hatte, und bekannte sich zur christlichen Auffassung des historischen Prozesses als Verlaufs in den allgemeinen Tod, gleichzeitig aber auch in die allgemeine Auferstehung. Zum dichterischen Ausdruck der veränderten Einstellung wurde gerade die Erzählung vom Antichrist. In dieser apokalyptischen Vision steigt Solowjew vom trügerischen Tabor herab und entschließt sich, den Weg nach Golgotha einzuschlagen7.

Wenn Solowjew auch kein ausgesprochener Hegelianer war, bediente er sich trotzdem des dialektischen Schemas, um sein eigenes Geschichtsbild zu konstruieren. Im Ablauf des historischen Prozesses unterscheidet er drei Entwicklungsstadien, und zwar: das der Vermischung oder der äußeren Einheit, das der Spaltung und das der freien oder inneren Einheit. In der ersten Phase des Geschichtsganges sind alle Daseinselemente zwar vorhanden und miteinander verbunden, doch so, wie etwa Anlagen eines künftigen Organismus in seinem Keim: sie sind da, aber sie sind noch nicht erwacht und entfaltet; in sich jedoch besitzen sie die Kraft zur Entwicklung, eine Kraft, welche die ursprüngliche Einheit zersprengt und damit eine neue Epoche in der Weltgeschichte einleitet. Es beginnt dann die zweite Phase, die der Spaltung, in der die Daseinselemente sich gegeneinander aufbäumen, voneinander trennen, nur sich selbst behaupten, als ob ein jedes von ihnen das eigentliche Zentrum des Lebens bilde. Die zweite Epoche des historischen Prozesses ist daher die Zeit der allgemeinen Wirrnisse. Ihr Sinn aber ist, einzelne Lebensgebiete zur Reife zu bringen. Darauf folgt die dritte und letzte Phase, in der die reifgewordenen Daseinselemente wieder nach der Einheit trachten, diesmal jedoch nicht mehr nach einer äußeren, unbewußten, zwangsmäßigen Einheit, sondern vielmehr nach der freien und bewußten Vereinigung. Hier liegen sie nicht mehr ungegliedert als Keime oder Anlagen, hier sind sie als selbständige Teile einer höheren Ganzheit tätig. Behauptet man in der zweiten Periode das Besondere, womit sich der eine von dem andern unterscheidet, so sucht man in der dritten Epoche mehr nach dem Gemeinsamen, das bindet und vereinigt. Die Weltgeschichte mündet, nach Solowjew, letztlich in eine universale Harmonie ein8.

Dieses allgemeine Schema wendet Solowjew auch auf einzelne Gebiete des geschichtlichen Lebens an.

Das theoretische Gebiet beginnt nach ihm mit der naiven Erkenntniseinheit, welche die sinnliche Erfahrung, das geistige Denken und die göttliche Offenbarung in eins verschmilzt und daraus halb natürliches, halb übernatürliches Wissen entstehen läßt. Später zerfällt diese Einheit, und aus ihren Trümmern erwachsen Naturwissenschaften, Philosophie und Theologie. Auf ihrem Wege zur Reife begegnen sie allerdings vielen Mißverständnissen, Zwistigkeiten und Kämpfen, doch endlich vereinigen sie sich wieder miteinander und gründen dadurch eine höhere Erkenntniseinheit, die Solowjew die freie Theosophie oder das integrale Wissen nennt. — Das praktische Lebensgebiet zeigt sich ursprünglich als eine patriarchalische Einheit, in welcher der Familienvater nicht nur Versorger, sondern auch Gesetzgeber und Priester ist. Er unterhält die Urgemeinschaft ökonomisch, regiert sie politisch und opfert für sie religiös. In der Phase der Spaltung entstehen daraus drei selbständige Gemeinschaften: Wirtschaft, Staat und Kirche. Sie entstehen ebenfalls nicht ohne Reibungen und Feindseligkeiten. Schließlich aber vereinigen sie sich zu einer höheren gesellschaftlichen Ganzheit, die Solowjew mit dem Namen der freien Theokratie oder der integralen Gemeinschaft bezeichnet. — Auf ästhetischem Gebiet gestaltet der Urmensch durch ein und denselben Akt die Natur, schafft die Formen des Schönen und vollzieht den religiösen Kult. Magie, Schöpfung und mystische Schau bilden in dieser Periode eine Symbiose, aus der sich Technik, Kunst und Mystik entwickeln. Ja sie verlieren in der zweiten Phase sogar den notwendigen Zusammenhang und werden zu Sondergebieten des Lebens. Jedoch in der dritten Periode kommen sie wieder zu-sammenund bilden ein höheres Ganze, dem Solowjew denNamen der freien Theurgie oder des integralen Schaffens beilegt.

Die freie Theosophie im Erkennen, die freie Theokratie im Handeln und die freie Theurgie im Schaffen sind also die Hauptziele der Weltgeschichte9. Wie bereits die Namen selbst zeigen, ist Gott (Theos) ihr wesentlicher Bestandteil, nicht aber als Urgrund des Seins, sondern als Person, die der Mensch frei anerkennt und mit der er in religiöse Beziehung tritt. Den Hauptbestrebungen des historischen Prozesses liegt ein tiefer religiöser Akt zugrunde, der den Menschen aus der Kategorie der zitternden Kreatur heraushebt und zum Mitarbeiter Gottes an der Weltgestaltung macht. Die letzte Epoche der Weltgeschichte soll, nach Solowjew, gerade diese Mitwirkung des Menschen ans Licht bringen, befestigen und in Raum und Zeit entfalten. Sie soll die endgültige gottmenschliche Einheit sichtbar objektivieren und sie in der Gemeinschaft der Heiligen vollenden. Solowjew selbst fühlte sich berufen, den Eintritt dieser seligen Periode mit Wort und Tat vorzubereiten und als Herold der kommenden Univer-salsynthese zu wirken. „Der Grund seines Schaffens war theur-gisch", sagt K. Močulskij10 und drückt damit den tiefsten Charakter des Solowjewschen Lebens und Wirkens aus.

Vergleichen wir aber das geschilderte Bild des geschichtlichen Verlaufs mit dem, das uns Solowjew in seiner Erzählung vom Antichrist bietet, so müssen wir feststellen, daß inzwischen eine große Wandlung eingetreten ist. Die Erzählung vom Antichrist ist, wie gesagt, eine dichterische Vision der letzten geschichtlichen Epoche des Menschenlebens. Sie sollte also entweder die Erreichung der obengenannten Geschichtsziele bereits schildern oder wenigstens eine Hoffnung auf ihre baldige Verwirklichung in uns erstehen lassen. In Wirklichkeit aber ist das Gegenteil der Fall.

Unter dem Begriff der freien Theosophie versteht Solowjew die organische Vereinigung der Naturwissenschaften, der Philosophie und der Theologie oder die höchste Synthese zwischen dem menschlichen Erkennen und der göttlichen Offenbarung als Endergebnis des gottmenschlichen Weltprozesses. In der Epoche des Antichrist erreicht jedoch die Menschheit diese Synthese durchaus nicht. Zwar erwähnt Solowjew „eine allseitige Vermischung und tiefe gegenseitige Durchdringung europäischer und östlicher Ideen", die unter der Herrschaft der Mongolen über Europa stattfand. Doch das war keine Synthese und noch weniger die freie Theosophie, wie sie Solowjew haben wollte, sondern nur „der alte alexandrinische Synkretismus", der sich im großen wiederholte. Er zeigte nur, daß die Menschheit gerade unfähig geworden ist, eine wahre und große Synthese auf dem Gebiet des Erkennens zu schaffen. Anderseits schreibt der Antichrist selbst ein Werk, das dem Schein nach für eine Synthese gehalten werden kann, weil in ihm „alle Widersprüche versöhnt sind". Jedoch der Name Christi ist „in ihm nicht ein einziges Mal erwähnt". Das besagt, daß der Antichrist die göttliche Offenbarung aus der Erkenntnis ausschließt. Sein Buch „Der offene Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Welt" ist lediglich Ergebnis der menschlichen Genialität und der dämonischen Eingebung. Für Gott gibt es hier keinen Platz mehr. Damit aber ist das Ideal der freien Theosophie als Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen im Erkenntnisprozeß endgültig begraben. Das theoretische Gebiet mündet während der letzten Epoche der geschichtlichen Entwicklung in die wahre Satano-sophie ein.

Die freie Theokratie stellte sidi Solowjew als eine organische Verbindung der Wirtschaft, des Staates und der Kirche vor, in der die Kirche die führende Rolle übernimmt, wohlverstanden nicht im technischen, sondern im geistigen Sinne. Gerade an dieses Ideal glaubte er, und für seine Verwirklichung arbeitete er unermüdlich11. Auch diese Erwartung wird jedoch durch den Antichrist vereitelt. Am Ende der Geschichte verliert die Kirche jeden Einfluß auf das öffentliche Leben und wird in die Wüste verbannt. Sie erhält sich nur durch Beten und Fasten, d. h. durch rein geistige Mittel. Jeder politischen Macht ist sie beraubt. Zwar beschreibt Solowjew die Vereinigung der von Christus abgefallenen ,Kirche' mit dem Staat in der Person des falschen Propheten Apollonius, welcher der Kanzler des Weltstaates ist und gleichzeitig zum ,Papst' erwählt wird. Doch diese Vereinigung geschieht nicht im Namen Christi, sondern gerade auf Wunsch seines Widersachers. Anstatt eine Theokratie als integrale Gemeinschaft zu verwirklichen, endet die Geschichte mit der ausgesprochenen Satanokratie.

In der freien Theurgie wollte Solowjew die Verbindung der schöpferischen Kräfte des Menschen mit der Verwandeinden Gnade Gottes sehen. Daraus sollte sich die Verklärung des Seins ergeben. Keine derartige Verbindung aber tritt am Ende der Zeiten ein. Man könnte wohl Apollonius für einen ,Theurgen' halten, denn er beherrscht die Naturkräfte und bedient sich zugleich der übernatürlichen Mächte. Er wirkt große Zeichen und Wunder, damit sich die Menschenmassen daran ergötzen. Seine Hände bringen überirdische Werke in Gestalt des Lichtes, der Blumen, der Düfte, der Musik hervor; er tut dies jedoch nicht kraft der göttlichen Gnade. Im Gegenteil, Apollonius ist ein Schrittmacher des Dämonischen. Seine Zeichen und Wunder sind gerade das, wovor uns Christus in seiner Rede über das Weltende warnt (vgl. Mt 24, 24). Seine Macht entspringt nicht der Vereinigung von Technik, Kunst und Mystik, sondern der Unterwerfung der menschlichen Geschicklichkeit unter die Einflüsse des Teufels. Anstatt Mitwirker am Schöpfertum Gottes zu sein, wird der Mensch in der letzten Epoche der Geschichte zum Diener der Dämonen.

Die Satanosophie im Erkennen, die Satanokratie im Handeln und die Satanourgie im Schaffen sind also die tatsächlichen Ergebnisse der letzten Entwicklungsphase des irdischen historischen Prozesses. An Stelle Gottes wird der Teufel verehrt. Auf dem Kalvarienberg erhebt sich ein „Tempel für die Vereinigung aller Kulte" als das sichtbare Zeichen der Satanolatrie. — Das ist der Ausgang der Weltgeschichte, wie wir ihn in der Erzählung vom Antichrist geschildert finden, ein Ausgang, dem eine ganz andere, ja entgegengesetzte Auffassung der Geschichte zugrunde liegt, als Solowjew bis dahin hatte.

Beim Lesen der Schilderung des früheren Geschichtsbildes von Solowjew konnte man leicht feststellen, daß das Böse in diesem Bilde kaum eine Rolle spielt. Es ist hier nur als eine harmlose Unvollkommenheit des Seienden verstanden, deshalb verschwindet es von selbst, sobald sich der historische Prozeß seinem Abschluß nähert. K. Močulskij stellt fest12, daß Solowjew um 1870/80 kein scharfes Gefühl für die Sünde und kein Empfinden des universalen Bösen hatte. Er wurde stets vom jugendlichen Optimismus beherrscht, dem er einen anschaulichen Ausdruck in seinem Gedicht „An Prometheus" (1874) gab: „Die Schranken fallen, die Ketten schmelzen im göttlichen Feuer, der ewige Morgen als neues Leben geht auf." Lüge und das Böse sind nur „Trugbilder der kindlichen Vorstellung", nur Nachtmahr: es kommt „die letzte Stunde der Schöpfung", und diese Trugbilder und Alpe zerstieben13. Die dritte Phase, die der inneren und universalen Harmonie, vereinigt das menschliche Dasein mit dem göttlichen und gewährleistet somit die ewige und absolute Herrschaft des Guten, ohne daß dieses einen nennenswerten Kampf mit dem Bösen führen müßte. — Es fragt sich aber von selbst im Angesicht dieses schattenlosen Bildes: Ist es eine uferlose Phantasie oder etwas Geschautes und Wahres? Wo findet man solch einen glücklichen Prozeß, in dem das Böse keine Kraft hat und sich deshalb nicht herausfordernd zum Guten verhält?

Auf den ersten Blick erscheint das frühere Geschichtsbild Solowjews wahrlich wie ein erdichtetes Gebilde, das sich auf keine Wirklichkeit stützt. Erinnern wir uns aber an das von Gott selbst geoffenbarte Urdasein des Menschen, so wird uns der eigentliche Charakter der früheren Geschichtsphilosophie Solowjews plötzlich klar: es ist die Geschichtsphilosophie des paradiesischen Zustandes, wo das Böse tatsächlich nur eine Unzulänglichkeit des Geschaffenen war und wo der Mensch durch seine schöpferische Tätigkeit — „daß er ihn (Edens Garten) bebaue und pflege" (Gn 2, 15) — „die höhere Physis des Paradieses über die ganze Erde erstrecken und die irdische Physis in paradiesische verwandeln sollte"14. Der paradiesische Prozeß wäre in der Tat nur ruhige Entwicklung, nicht aber Kampf gewesen, und zwar eine doppelte Entwicklung: die der Natur und die der Gnade. Der Mensch hätte seinen gnadenhaften, ihm durch die Geburt selbst zugekommenen Zustand auf dem Wege der natürlichen Vermehrung im Kosmos erweitert und den Kosmos in ein universales Paradies verwandelt. Gnadenstand des Menschen wäre dann zugleich auch Gnadenstand der Welt geworden. Die Endphase dieses Prozesses hätte tatsächlich die universale Eintracht der Kreaturen auf Erden geschaffen. In diesem Sinne ist das frühere Geschichtsbild Solowjews als Philosophie des Paradieses tief und berechtigt.

Doch dieser gnadenhafte Urzustand ist uns für immer verlorengegangen, und zwar durch die Sünde, d. h. nicht durch eine harmlose Unvollkommenheit des Seienden, sondern durch den freien und aktiven Willen, der sich jedoch nicht auf das Schaffen und Hüten des Seins, sondern gerade auf sein Zerstören und Vernichten richtet. Das Erscheinen des Bösen in Gestalt der Sünde war ein Ereignis von tiefster ontologischer Bedeutung, das dem paradiesischen Zustand ein jähes Ende setzte, indem es die ruhige Entfaltung in einen entfesselten Kampf zwischen zwei entgegengesetzten Kräften verwandelte. Damit fing die irdische Geschichte an, in der das Böse als zerstörende Macht durch seine Träger bereits eine wesentliche Rolle spielt. Es versteht sich von selbst, daß die früheren geschichtsphilosophisdien Träume Solowjews auf den irdischen Weltprozeß nicht mehr anwendbar sind. Seien sie auch noch so schön und, abstrakt genommen, sogar berechtigt, sie passen nicht zur tatsächlichen Geschichte der Erde. Sie sind aus der Erinnerung an den seligen Urzustand der Menschheit geflochten, deshalb tragen sie das untilgbare Mal der Utopie. Wollte daher Solowjew nicht auf dieser utopischen Insel seiner Weltanschauung verbleiben, so mußte er die frühere Geschichtsauffassung tiefgreifend korrigieren.

Die Erzählung vom Antichrist ist diese Korrektur. Ihr Wesen besteht darin, daß Solowjew die Geschichte nicht mehr im Hinblick auf die ewige Harmonie als Endergebnis der kampflosen Entwicklung der Welt, sondern bereits sub specie antichristi venturi (im Hinblick auf den kommenden Antichrist) betrachtet. Dieser Ausdruck, den der Denker selbst im Jahre 1888 in einem Brief an Tavernier15 geprägt hat, zeigt deutlich, daß er nunmehr dem Bösen eine bedeutungsvolle Rolle im geschichtlichen Verlauf zuerkennt und das Böse selbst nicht mehr als eine rein natürliche Unzulänglichkeit, sondern als eine tatsächlich widerstrebende und zerstörende Kraft erlebt. Die Einschaltung des Antichrist in den historischen Prozeß ist die größte Veränderung, die Solowjew an seinem Geschichtsbild vornimmt. Somit verziehtet er auf die frühere Drei-Stadien-Theorie, denn wo das Böse eine Kraft besitzt, kann es nur ein Stadium geben: das des Kampfes, der entweder mit dem Sieg oder mit der Niederlage endet. Dann ist auch der historische Prozeß nicht mehr ein sicheres Schreiten der Menschheit durch Raum und Zeit ihrer Vollendung entgegen, sondern ein Risiko und eine ständige Gefahr. Gewiß hat Solowjew nie am endgültigen Triumph des Guten gezweifelt — das zeigt auch seine Erzählung klar genug —, doch dieser Triumph vollzieht sich nicht in der Zeit, in der letzten Phase der irdischen Geschichte, wie er früher geglaubt hat, sondern erst in der Ewigkeit. Auf der Erde indessen gewinnt das Böse die Oberhand, erscheint letztlich in der fleischgewordenen Gestalt einer menschlichen Persönlichkeit, erreicht dadurch den höchsten Gipfel seines Widerstandes gegen das Gute und wird dann durch das direkte Eingreifen Gottes für ewig beseitigt. Für den bleibenden Sieg des Guten muß die irdische Ordnung zerbrechen. — Das ist die Korrektur, die das frühere Solo-wjewsche Geschichtsbild durch die Erzählung vom Antichrist erfahren hat. Ein umfassenderer Ausbau der Geschichtsphilosophie bzw. Geschichtstheologie Solowjews nach dieser Korrektur blieb leider aus.

Was ergibt sich nun daraus, wenn man die Geschichte unter dem Gesichtspunkt des kommenden und bereits schon wirkenden Antichrist betrachtet? — Darauf möchten wir eben mit der vorliegenden Studie eine Antwort geben. Wir möchten die Erzählung Solowjews einer geschichtstheologischen Deutung unterziehen, um die ihren Bildern und Symbolen zugrunde liegenden Ideen herauszuschälen, näher zu untersuchen und ihren aktuellen Wert hervorzuheben.

Bevor wir sie zu analysieren beginnen, möchten wir eine kurze Betrachtung über die christliche Geschichtsauffassung voran-schidten, um in ihrem Lichte den Begriff des Widersachers Christi genauer zu bestimmen. Darauf lassen wir eine Untersuchung des antichristlichen Geistes, der antichristlichen Tätigkeit und des aus diesen beiden entstehenden antichristlichen Reiches folgen. Schließlich versuchen wir zu zeigen, welches Schicksal die Kirche erleidet, wenn sie sich mutig und opfervoll gegen antichristliche Anschläge wehrt. — Das ist der Gedankengang dieses Buches, das ein kleiner Beitrag zum Kampf „mit den finsteren Weltbeherrschern" (Eph 6, 12) sein will.

Im Vorwort zu „Drei Gespräche" schreibt Solowjew: „Spürbar steht die nicht allzu ferne Gestalt des bleichen Todes vor mir, der mir leise rät, den Druck dieses Buches nicht auf unbestimmte und unsichere Zeit zu verschieben." Diese dunkle Ahnung ging tatsächlich bald in Erfüllung. Solowjew hatte die obigen Worte am Ostersonntag 1900 niedergeschrieben, am 12. August desselben Jahres starb er.
2 Wie Solowjew „den göttlichen Urgrund der Welt" unter der Gestalt des Ewigweiblichen in seinen mystischen Visionen (vgl. sein Gedicht „Drei Begegnungen") sah, ebenso spürte er gegen das Ende seines Lebens die Macht des Bösen. Am Ostersonntag 1898, als sich der Denker auf einer Seereise nach Ägypten befand, erblickte er plötzlich den Teufel, der auf dem Kissen in seiner Kajüte „in Gestalt eines zottigen Tieres" saß. Solowjew fragte ihn: „Und du, weißt du, daß Christus auferstanden ist?" Als Antwort stürzte sich der Teufel auf Solowjew, den man später bewußtlos auf dem Boden fand. Mag dieses Erlebnis, das eine sinnvolle und kaum beachtete Parallele in der Halluzination von Iwan Karamasow Dostojewskijs hat, auch anders verlaufen sein (Makleeva zum Beispiel erzählt davon etwas anders), „sein innerer Sinn", sagt K. Močulskij, „ist unbedenklich: im Jahre 1898 hatte Solowjew eine reale Erfahrung der dunklen Mächte" (Wladimir Solowjew, Paris 1951. S. 251, russ.). Dieses Erlebnis erwähnt auch Solowjew selbst im Vorwort zu „Drei Gespräche" und in seinem Gedicht „Nachts im Archipel"; es war Grundmotiv, warum er das Problem des Kampfes gegen das Böse vor seinem Tode aufrollen wollte.
In „Vorlesungen über das Gottmenschtum" (1878) vertritt Solowjew den Standpunkt, daß „das Böse keinen eigenen Ursprung des Daseins haben kann, denn jedes Dasein ist in Gott" (3. Vorlesung). Damit lehnt er das böse, ungeschaffene Urprinzip des Manichäismus klar ab.
Wl. Solowjew S. 246.
 Vgl. K. Močulskij a. a. O. S. 249.
Das Vorlesen der Erzählung konnte der Fürst der „Drei Gespräche", der L. Tolstojs Anschauungen vertritt, nicht ertragen. Bei der Stelle, wo Starez Johannes den Antichrist fragt, ob er „Jesus Christus, den Sohn Gottes, erschienen im Fleisch, auferstanden und wiederkommend", offen bekennen kann, ist der Fürst heimlich weggegangen. Und nicht nur er allein. Als Solowjew selbst diese Erzählung am 26. Februar 1900 im Saal der Petersburger Duma öffentlich vorlas, regnete es Protest und Spott, und die Studenten der Technischen Hochschule erklärten den Verfasser für geistesgestört.
 In seinem Artikel „Das Judentum und die christliche Frage" (1884) erkannte Solowjew bereits an, daß der Weg zur universalen Theokratie nur durch das Kreuz Christi geht, jedoch erlebte er damals das Kreuz nicht als Universalschicksal der Menschheit, sondern nur als das individuelle Opfer Jesu und verstand noch nicht, daß Golgotha im menschlichen Dasein stets gegenwärtig bleibt.
 Die Drei-Stadien-Theorie der Geschichte hat Solowjew zum erstenmal in seiner Abhandlung „Philosophische Grundlagen des integralen Wissens" (1877) geschildert und später in „Vorlesungen über das Gottmenschtum" (1878), „Kritik der abstrakten Prinzipien" (1880) und „Rechtfertigung des Guten" (1897) wiederholt.
9 Diese drei Hauptziele des historischen Prozesses haben bei Solowjew weder mit irgendeiner modernen theosophischen Bewegung etwas gemeinsam, noch mit theokratisdien Versuchen der Vergangenheit, noch mit der Wiederbelebung des antiken Mysterienkultes. Sie sind Ergebnisse seiner
eigenen Spekulation über den Gang der Weltgeschichte. 
10
a. a. O. S. 12.
11  Vgl. seine Werke „Geschichte und Zukunft der Theokratie" (I.Bd. 1887) und „La Russie et l'Église universelle" (1889) sowie seine Unterredungen mit dem BischofStroßmayer über die Vereinigung der Kirchen, woraus ein konkreter Plan entstand, der von Stroßmayer an Papst Leo XIII. geleitet wurde und von dem der Papst gesagt habe: „Bella idea, ma fuor d'un miracolo è cosa impossibile." „Jedoch Solowjew glaubte an dieses Wunder" (K. Močulskij a.a.O. S. 190), und lange Jahre kämpfte er für das theokratische Ideal und für die Rolle Rußlands, die es dabei spielen sollte.
12 a. a. O. S. 102.
13  Vgl. Močulskij a. a. O. S. 59.
14  W. Moock, Natur und Gottesgeist, Frankfurt a. M. 1947. S. 175.
15 Vgl. Wl. Szylkarski, Solowjew und Dostojewskij, Bonn 1947, S. 57.

ERSTER ABSCHNITT

Der Antichrist als geschichtliches Problem

l.

DER RELIGIÖSE CHARAKTER DER
GESCHICHTE

Was ist Geschichte im Lichte des christlichen Glaubens? — Bossuet hat sie gesta Dei per Francos (Gottestaten durch die Franken) genannt. Der litauische Philosoph und Theologe A. Dambrauskas-Jakštas erweiterte diese Begriffsbestimmung und nannte die Geschichte gesta Dei per homines (Gottestaten durch die Menschen)1. In jedem Fall aber, ob wir die Geschichte im engeren Sinne des nationalen Lebens oder in dem der ganzen Menschheit verstehen, ist sie im Wesen ein Zusammenwirken Gottes und des Menschen in der Zeit. Dem Christen ist Geschichte nie ein rein diesseitiger Verlauf, denn ihr wahrer Quell, von dem sie ihren ersten Anfang nimmt, liegt nicht hienieden. Die Geschichte hat ihren Prolog im Himmel. Das Drama des alttestamentlichen Job ist ein deutlicher Hinweis der Offenbarung selbst darauf. Job war „lauter und redlich, den Herrgott fürchtend und dem Bösen abhold" (Job 1, 1). Er sorgte gewissenhaft für seine Familie und seinen Reichtum, „erhob sich früh am Morgen und brachte Brandopfer dar" (1, 5). Und doch, eines Tages erschien der Satan, dieser ewige „Ankläger unserer Brüder" (Offb 12, 10), vor Jahwes Antlitz und zieh Job der Kriecherei: „Ist es umsonst, daß Job den Herrgott so verehrte? Machtest du selbst nicht eine Hecke um ihn und um sein Haus und um seine ganze Habe? Allseits segnetest du seiner Hände Werke, und sein Besitz breitete sich im Lande aus. Hingegen, strecke nur deine Hand aus und rühre an seine ganze Habe: fürwahr, ins Gesicht wird er dir fluchen" (Job 1, 9—11). Der Ausgang dieser Beschuldigung ist jedem bekannt. Der Herrgott ließ zu, daß der Satan vorerst Jobs Habe samt seinen Söhnen und Töchtern vernichtete, später aber sogar „an sein eigen Gebein und Fleisch rührte" (2, 5).

Der Prolog im Himmel erweist sich also als wesentlicher Bestandteil des menschlichen Geschickes auf Erden2. Er besagt, daß wir hienieden nie allein gelassen sind, daß unsere Existenz ihrem Wesen nach offen und daher zugänglich ist. Sie ist ein Zusammenwirken von Mensch und Gott, von Mensch und Satan. Der Mensch existiert immer in bezug auf etwas. Er ist „dem allen zugewandt" (Rilke), ein Zuschauer, mehr noch: ein Mitwirkender und Mitvollziehender.

In erster Linie — nicht zeitlich, sondern logisch (natura prius) — nimmt der Mensch Bezug auf die ihn umgebende Naturwelt. Dies tut er nicht aus seinem „Willen zur Macht" (Nietzsdie), sondern aus der eindeutigen Bestimmung des Schöpfers: „Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllt die Erde und macht sie euch untertan" (Gn 1, 28). Der Mensch darf durch seine Gestaltungsgabe an der Weltregierung des Allmächtigen teilnehmen, ihn auf Erden vertreten und sein Werk fortsetzen. Gerade deswegen wird er zum „kleinen Gott der Welt", wie ihn Goethes Mephistopheles nennt. Die Umwelt jedoch, in welche dieser „kleine Gott" gesetzt ist, bietet ihm keine vollendeten Existenzbedingungen dar. Ursprünglich und unmittelbar ist die Natur kaum imstande, den Menschen am Leben zu erhalten, und noch weniger, seinen Geist zu entfalten. Im Hinblick auf seine rein natürliche Beschaffenheit vermag der Mensch mit keinem Tier im Kampf ums Dasein wettzueifern. Konnte er sich trotzdem auf der Erde behaupten und sogar sie selbst sich untenan machen, so erreichte er es nur dadurch, daß er eine neue Umwelt hervorbrachte, die seinen Leibes- und Geistesforderungen besser entsprach und somit seine irdische Existenz ermöglichte.

Diese neue Umwelt, diesen echt menschlichen Daseinsraum mit seinem gesamten Inhalt pflegen wir Kultur zu nennen. Kultur ist die menschliche Schöpfung. Sie ist das Menschenwerk im wahren und direkten Sinne des Wortes: seine erfüllte Hoffnung und sein Sieg über die Naturkräfte. Infolgedessen bildet der Prozeß der Kulturentstehung und -entwicklung die erste Hauptform der geschichtlichen Existenz. Das menschliche Leben offenbart sich zuallererst als Kultur. Im Hinblick darauf können wir die Geschichte den Prozeß der Kulturwerdung nennen: einen Prozeß, während dessen die Erde immer mehr beherrscht wird, die Naturgeheimnisse immer deutlicher ans Licht gebracht und die Naturkräfte immer stärker in den Bereich der menschlichen Existenz einbezogen werden. In diesem Sinne ist die Geschichte das Sich-Zurechtfinden des Menschen in der Welt.

Doch der Prozeß der Kulturwerdung allein erschöpft die Gesamtwirklichkeit der Geschichte bei weitem noch nicht. Da der Mensch berufen ist, nicht nur im Diesseits zu existieren, bildet weder die Erde seinen einzigen Daseinsraum noch ihre Gestaltung seine einzige Lebens- und Wirkensform. Dem Menschen steht auch eine andere Seinsebene offen, und zwar die des Übernatürlichen. Ohne seinen Bezug auf die Naturwelt zu verlieren oder seine schöpferischen Kräfte irgendwie zu beeinträchtigen, richtet der Mensch seinen Blick nach oben und begreift sich nicht nur als schaffenden Genius, sondern zugleich auch als Geschöpf, das dem Willen des Absoluten sein Dasein verdankt. Außer dem Bezug auf alles, was „zu seinen Füßen gelegt" ist (Ps 8, 7), entdeckt er einen anderen Bezug, der auf den Schenker all der Geschenke hinweist, auf einen, der den „kleinen Gott" mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt und ihm Macht über das Werk seiner Hände gegeben hat (vgl. Ps 8, 6—9). Fühlt sich der Mensch in der Kultur als alleiniger Herr und waltet in ihrem Bereich ziemlich souverän, so erfährt er in diesem neuen Bezug seine absolute Abhängigkeit und Unterworfenheit, sieht sich einem stärkeren Dasein gegenüber und erlebt dieses als eine persönliche Macht, die sich ihm offenbart, ihn anredet und ihn beauftragt.

Diesen neuen Bezug, diesen höheren Daseinsraum des Menschen nennen wir Religion. Die Religion kommt dem Menschen ebenso von Natur aus zu wie die Kultur. Beide wurzeln in seinem tiefsten Wesen, beide sind Hauptformen seiner Existenz. Wie es kein Volk ohne Kultur gibt, so gibt es auch kein Volk ohne Religion. Überall, wo der Mensch nur erscheint, rauchen nicht nur Feuerherde, sondern auch Opferaltäre, ragen nicht nur Zelte, sondern auch Tempeltürme, hallen nicht nur Hochzeitsgesänge, sondern auch Priesterlieder. Folgerichtig bildet der religiöse Prozeß die zweite Hauptform der Geschichte der Menschheit. Religiöse Ideen, Erlebnisse, Akte, Institutionen, Gemeinschaften wirken stark und tief auf den historischen Verlauf und prägen seiner Entwicklung und Gestaltung ihre Merkmale ein. Das geschichtliche Dasein des Menschen auf Erden entfaltet sich nicht nur kulturell, sondern auch religiös. In diesem Sinne kann man, ja muß man die Geschichte auch den Prozeß der Religionswerdung nennen, währenddessen der Mensch seine Beziehung zu Gott immer mehr klärt, sein irdisches Dasein immer tiefer versteht3, seinem Glauben immer festere Gemeinschaftsformen verleiht. In dieser Hinsicht ist die Geschichte das Sich-Zurechtfinden des Menschen in den Fragen nach seinem Ursprung, seiner Berufung und seinem Ziel.

Die Geschichte erschöpft sich also weder in der Gestaltung der Natur noch in der Beziehung zur Ubernatur. Sie umfaßt beides. Sie ist die Offenbarung des Menschlichen und des Göttlichen in ihrer Beziehung zueinander. Mit Recht behauptet deshalb N. Berdjajew, daß „die Geschichte und das Geschichtliche nicht lediglich Phänomena sind", sondern ein Noumenon, worin sich „das Wesen des Seins" und „das innere geistige Wesen der Welt", zugleich aber auch „das innere geistige Wesen des Menschen" erschließen. „Das Geschichtliche ist eine Offenbarung, die das tiefste Wesen der Wirklichkeit zum Gegenstand hat: das Weltgeschick und das menschliche Geschick als den Mittelpunkt des Weltgeschickes."4 Und an einer anderen Stelle: „Der ganze Weltprozeß steht im Zeichen des Menschen; des Menschen nicht in kleinen Buchstaben ausgedrückt, sondern in großen; in seiner Mitte liegt das Geschick des Menschen, das bestimmt wird vom Urdrama der Gottheit. Nur der Mythos5 vom Menschen als dem Zentrum jenes Weltgeschehens und einem Moment im Gottheitsgeschick selber enträtselt das Grundproblem der Geschichtsmetaphysik und bestimmt jene geistigen Grundkräfte, die hier wirken. Nur der Zusammenhang zwischen dem theo-gonischen, kosmogonischen und anthropogonischen Prozeß gibt die Erklärung der Geschichte." 6 Wir verpflichten uns allerdings nicht zur Lehre Berdjajews vom „Drama der Gottheit" oder vom „theogonischen Prozeß", die ihre Wurzel in der Mystik J. Böhmes faßt. Doch seine Gesamtschau der Geschichte als eines einheitlichen Prozesses, der das Wesen des Seins erschließt und an dem Welt, Mensch und Gott teilnehmen, ist begründet und tief.

Stellt aber die Geschichte das Menschengeschick dar, so ist die Rolle der Religion hierin weitaus wichtiger als die der Kultur. Ohne Kultur vermag der Mensch sich zwar nicht in der Welt zu erhalten und gegen die Natur zu behaupten. In diesem Sinne ist die Kultur Grundlegung der Geschichte. Ohne Religion vermag er nicht, das Problem seines Gesdiickes zu lösen, weil dieses nicht nur von ihm allein abhängt. Der Mitverwirklicher des menschlichen Geschickes ist Gott selber. „Getrennt von mir könnt ihr nichts tun" (Jo 16,5) — diese Worte Christi weisen eindeutig auf den sowohl persönlichen als auch geschichtlichen Weg hin, den der Mensch gehen soll, um zur Lösung seines mysteriösen Daseins zu gelangen. Der Bezug auf Gott erscheint also als ein schicksalsschweres Prinzip, das die endgültige Entscheidung über die menschliche Existenz birgt. In diesem Sinne ist die Religion Vollendung der Geschichte. Sie ist die Macht, die den gesamten Weltprozeß zu seinem universalen Abschluß bringt.

Die Naturwelt liegt stumm und passiv vor uns. Wir gestalten sie daher nach unserem eigenen Willen und sind im Kulturbereich, wie gesagt, alleinige Gebieter. In der Religion dagegen betragen wir uns weder allein noch souverän. Im religiösen Akt stehen wir als Personen vor Gott ebensowohl als vor einer Person, deren Wort und Tat hierin viel wichtiger sind als die unsri-gen. Die Religion ist ihrem Wesen nach eine zweipersonale Beziehung. Aus seinem eigenen Willen vermag der Mensch die Kultur, nicht aber die Religion zu erzeugen. Die Seinsfrage des Menschen, die nur in der Religion wesentlich gestellt werden kann, bedarf der Antwort Gottes, um überhaupt gelöst zu werden. Sie bedarf der Offenbarung, der Erlösung, der Gnade. Jede sogenannte ,menschliche' oder ,humanistische' Religion, die lediglich eine Beziehung zu unpersonalen Werten des Menschlichen oder des Kulturellen pflegt, ist im Grunde eine Fälschung der Religion. Echte Religion haben heißt ganz Ohr sein gegenüber dem göttlichen Wort. Der religiöse Prozeß der Welt ist ein dauernder Dialog zwischen Gott und Mensch, ein ständiges Zusammenwirken zwischen dem Himmel und der Erde.

Gerade deshalb aber, weil die Religion ein Dialog und ein Zusammenwirken ist, läuft sie immer Gefahr, vom Menschen unterbrochen zu werden. Wenn der Mensch auch von Natur aus religiös ist, wenn auch der Bezug auf das Übernatürliche seinem innersten Wesen entspricht, kann er trotzdem, weil er ja frei ist, in diesem Dialog verstummen und die ihm untenan gewordene Erde aus dem Zusammenwirken mit dem Himmel herausreißen. Es gibt zwar keinen ontologischen Atheismus, und es kann auch keinen geben, doch es gibt eine psychologische Religionslosigkeit, eine bewußte Abkehr von Gott, ein trotziges Schweigen im Dasein. Die Ablehnung Gottes ist eine Erfahrung im Leben sowohl des Einzelnen als auch der Gemeinschaft. Der Nymphenchor in „Prometheus" von Aischylos singt: „Niemals wird das Planen der Sterblichen Gottes Ordnungen überschreiten." Die Gottesordnung ist ja Seinsordnung. Sie überschreiten können hieße sich selbst überschreiten oder, anders ausgedrückt, sein Dasein sich selbst verdanken, d. h. Schöpfer seines eigenen Selbst sein, was einen Unsinn bedeutet. Daher ist jede Ablehnung der Gottesordnung im tiefsten Sinne eine Zerstörung des Seins, damit aber zugleich auch der eigenen Existenz. Die Nymphen des Aischylos fügen ihrer Feststellung noch einen sinnvollen Satz hinzu: „Das lernten wir, da wir die Vernichtung sehen an deinem Los, Prometheus." Die Empörung des Menschen gegen Gott bedeutet seine eigene Vernichtung. Und doch hören die Sterbliehen nie auf, gegen Gott zu rebellieren. Der Turm von Babel blieb zwar unvollendet, und er wird so bis zum Ende der Zeiten bleiben. Was ist aber die Kulturgeschichte, wenn nicht eine ständige Bemühung der Menschheit, diesen Turm zu vollenden? Die Geschichte ist nicht nur die Religionswerdung, sie ist gleichzeitig auch ein Gottloswerden der Menschheit. Der Faktor der Freiheit spielt hier die entscheidende Rolle und verwandelt die Geschichte in das eigentliche Geschick des Menschen und der Welt, ein Geschick, in dem die Religion, d. h. das Sichentscheiden der Menschheit Gott gegenüber, das letzte Wort zu sagen hat. Die Religion, nicht die Kultur, wahrt den Schlüssel zu den Geheimnissen der Geschichte. Im Prozeß der Religion, nicht in dem der Kultur, eilt die Zeit ihrem Abschluß zu: adesse festinant tempora. Die Geschichte ist die Objektivation unserer Entscheidung im Bezug auf Gott. Und gerade darin liegt ihr Segen, zugleich aber auch ihre Gefahr, weil diese Entscheidung nicht eindeutig zu fallen braucht.

Was ist also Geschichte im Lichte des Christentums? — Nichts anderes als die uns von Gott geschenkte Zeit. Die Philosophie der Geschichte hat bereits seit langem einen bedeutenden Satz herausgearbeitet, und zwar: die Zeit wird erst dann zur Geschichte, wenn ihr Verlauf dem Menschen bewußt wird. Das Bewußtsein der Zeit und die Geschichte beziehen sich wesentlich aufeinander. Dieses Bewußtsein tritt jedoch am hellsten hervor nicht in der Geschichtsphilosophie, wie es manch einer annimmt (z. В. K. Joël), sondern gerade in der Religion. Die Geschichtsphilosophie behandelt die Zeit nur als unser Erkenntnisobjekt, als etwas, was uns zwar durchdringt, aber nicht zu unseren Verpflichtungen zählt. Daher ist das Bewußtsein der Zeit in der Geschichtsphilosophie immer nur ein logisches, nicht ein sittliches Bewußtsein. Ein rein logisches Bewußtsein kann jedoch weder so hell noch so scharf sein wie ein sittliches. Dieses aber1 vermögen wir nur in der Religion zu erreichen, denn in unserer Beziehung zu Gott erleben wir die Zeit als seine Gabe, als die uns gegebenen Talente, über die wir eines Tages Rechenschaft ablegen müssen. Die philosophische Zeit ist ein abstrakter und allgemeiner Lauf der Dinge; die religiöse Zeit dagegen ist unsere Zeit, uns anvertraut, uns geschenkt, daher persönlich und konkret. Die religiöse Zeit ist Entscheidung und Verpflichtung, von der unser Schicksal abhängig ist. Damit wir unserer Existenz diese oder jene Sinnrichtung geben können, braudien wir hie-nieden nichts anderes als nur die Zeit. Im Lichte der christlichen Religion erscheint also die Zeit als das kostbarste Geschenk unter allen natürlichen Gaben Gottes, als Werkzeug für unsere Freiheit, als Feld unserer Tätigkeit. Solange wir die Zeit haben, halten wir auch unser Geschick in eigenen Händen.

2.

DER CHRISTOZENTRISCHE CHARAKTER
DER GESCHICHTE

Die Beziehung des Menschen zu Gott vollzieht sich eigentlich nur in der Zeit, d. h. nur geschichtlich. Was sich außer der Geschichte im stillen „Kämmerlein der Seele" ereignet, bedarf einer Prüfung gemäß den geschichtlichen Normen der Religion, um als echt anerkannt zu werden. Die Geschichte ist der einzig wahre Raum, wo der eigentliche und echte Dialog zwischen Gott und Mensch geführt wird.

In diesem Sinne ist die Geschichte Offenbarung des Gottmensch-tums, d. h. sie ist die innige Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen, die Gegenwart Gottes in der Zeit. Gott als Urgrund des Seins und Schöpfer des Menschen existiert zwar jenseits der Geschichte. Er ist der verborgene Gott — Deus abscon-ditus, keinem Geschöpf zugänglich und keinem Verstand begreiflich. Doch Gott als Mitglied der religiösen Beziehung, als Erlöser und Vollender des Menschen, läßt sich von seiner unerreichbaren Transzendenz herab und kommt in die Zeit, d. h. in die Geschichte. Er wird der enthüllte Gott — Deus revelatus, der in unserem Dasein lebt und mit uns unsere Alltäglichkeit teilt. Die wahre Beziehung zu Gott oder die wahre Religion ist erst dann möglich, wenn Gott sich tatsächlich in der Zeit offenbart und in ihr bleibt, denn erst dann besitzen wir mit ihm eine gemeinsame Seinsebene. Die Zeit ist der einzige ,Ort', wo wir Gott treffen können. Kommt Gott nicht in die Zeit, so bleibt unsere Beziehung zu ihm nur einseitig, deshalb abstrakt und sogar unecht. Existiert er nur als der verborgene Gott, so können wir lediglich die Klage Jobs wiederholen: „Siehe, gehe ich nach Osten — er ist nicht da, nach Westen — und ich gewahre ihn nicht. Wirkt er im Norden, so erschaue ich (ihn) nicht; wendet er nach Süden, erspähe ich ihn nicht..., er zieht an mir vorbei, und ich sehe es nicht" (Job 23, 8—9; 9, 11). Die Offenbarung Gottes in der Zeit ist die Grundbedingung für die wahre Religion. Die Geschichte hat also die Aufgabe, diese Offenbarung vorzubereiten. Ihr tiefster Sinn liegt darin, daß sie das Zusammentreffen zwischen Gott und Mensch ermöglicht, indem sie Voraussetzungen schafft, um dieses Zusammentreffen in die personale, daher unlösbare Vereinigung einmünden lassen.

Ist das aber nicht bloß ein Traum? Kann die Zeit einmal so voll werden, daß der wahre Gott dem wahren Menschen begegnet, dem Menschen ohne Sünde und Makel, wie er im ewigen Urbild des Schöpfers leuchtet? Kann die Geschichte eines Tages zum Schauplatz der personalen Verbindung des Absoluten mit dem Relativen werden und somit das Gottmenschtum in seiner vollendeten Gestalt offenbaren? — Darauf gibt uns das Christentum die eindeutige Antwort: diese Zeit ist schon gekommen. Die personale Vereinigung Gottes mit dem Menschen ist bereits vollzogen in der gottmenschlichen Persönlichkeit7 Christi, geboren aus Maria, der Jungfrau, gekreuzigt unter Pontius Pilatus, gestorben, auferstanden am dritten Tage, aufgefahren in den Himmel, woher er zurückkommt, Gericht zu halten über Lebende und Tote. Christus ist jene so sehnsüchtig erwartete Fülle der Zeit, jene nicht mehr zerstörbare Einheit Gottes mit dem Menschen, jene vollkommene Antwort der Menschheit auf den göttlichen Ruf. Er ist die Erfüllung der Geschichte und das wahre Geschick des Menschen. — In dreierlei Hinsicht steht Christus in Verbindung mit der Geschichte: als Verheißung, als Erfüllung und als Vollendung.

Ob die Fleischwerdung des ewigen Logos dadurch angeregt worden ist, daß Gott die ganze Schöpfung durch die Annahme der menschlichen Natur mit sich vereinigen und somit den schöpferischen Akt selbst vollenden wollte, wie dies Duns Scotus behauptet, oder ob die Menschwerdung eine Antwort der gött-liehen Liebe auf den menschlichen Sündenfall und damit ein Er-lösungsmittel war, wie Thomas von Aquin meint, in jedem Fall war sie seit Ewigkeit her im Schoß der Heiligsten Dreifaltigkeit selbst vorhergesehen und vorherbestimmt. Christus — nicht nur als Gottessohn, sondern auch als Menschensohn — steht vor jeder Schöpfung als ihr Urbild, als ihr Erstgeborener und als ihr letztes Ziel. „Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. Er ist vor allem, und alles hat in ihm Bestand" (Kol 1, 16—18). Als die Menschheit in ihre selbstverschuldete außerparadiesische Existenz versetzt war, trug sie bereits Christus in sich als ihre große Hoffnung, die sich eines Tages in der irdischen Zeit erfüllen sollte. Der Sproß des Weibes sollte das Haupt der Schlange zertreten (vgl. Gn 3, 15) und das zuckende Flammenschwert, das den Weg zum Baum des Lebens verwehrte, beseitigen.

Ist aber Christus die göttliche Verheißung an die gefallene Menschheit, so ist dementsprechend die ganze vorchristliche Geschichte die menschliche Sehnsucht nach der Erfüllung dieser Verheißung. Die Jahrtausende vor Christus schritten ihrer Fülle entgegen, und ihr letzter Augenblick sollte den göttlichen Logos in den Schoß Maria, der Jungfrau, einbetten. Im Lichte der Offenbarung des Messias war die vorchristliche Geschichte im Wesen eine lange Adventszeit, in der die gesamte Kreatur mit Isaias seufzte: „Tauet, Himmel, den Gerechten von oben her; regnet ihn herab, ihr Wolken; öffnen möge sich die Erde und den Heiland tragen als Frucht" (Is 45, 8). Der Heiland sollte nicht nur als Geschenk von oben, sondern zugleich auch als Frucht der Erde erscheinen. Die Menschheit selbst sollte ihn in ihrer Tiefe austragen und durch ihre unversehrte Vertreterin gebären. Christus als Verheißung lenkte die ganze Geschichte in Richtung auf seine Menschwerdung hin und bestimmte ihre Bahn. Er war der eigentliche Vater der Zukunft — pater futuri saeculi, wie ihn die Litanei sinnvoll nennt. Die Fleischwerdung des göttlichen Wortes war das eigentliche Ziel der vorchristlichen Geschichte der Menschheit. Den Tag der Geburt des Erlösers zu sehen, wünschte nicht nur Abraham (vgl. Jo 8, 57), sondern in ihm auch das ganze Menschengeschlecht.

Die Verheißung Gottes ging endlich in Erfüllung. „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt" (Jo 1, 14). Der ewige Logos ließ sich in die Zeit herab, nahm unsere Natur und Daseinsweise an und wurde Mensch bis in die äußersten Grenz-Situationen des Menschlichen — Leiden und Tod. Der Schöpfer und das Geschöpf vereinigten sich zur hypostatischen Union, denn es gefiel Gott, in und durch Christus „alles mit sich zu versöhnen" (Kol. 1, 20).

In Christus wohnt also die ganze Fülle der Göttlichkeit, aber auch die der Menschlichkeit. Er ist der wahre Gott und der wahre Mensch: der Gottmensch im höchsten Sinne des Wortes. Ist aber die Geschichte, wie gesagt, Offenbarung des Gottmenschtums, so findet diese Offenbarung in Christus ihren vollendeten Ausdruck. Ist die Geschichte die menschliche Antwort auf den göttlichen Ruf, so bildet diese Antwort in Christus eine absolut positive Bejahung des göttlichen Willens. Alles, was in der Geschichte zu ihren Wesensmerkmalen gehört, ist in Christus zur höchsten personalen Einheit gebracht. Christus ist die Fülle der Geschichte. Die von Gott dem Menschen geschenkte Zeit ist in ihm voll geworden: das messianische Selbstbewußtsein Christi erhellte sein Zeitbewußtsein bis zum Grund und erhob somit die Geschichte bis zu ihrem Gipfel. Daher ist Christus nicht eine geschichtliche Persönlichkeit neben vielen anderen, sondern er ist die geschichtliche Persönlichkeit, denn nicht er wohnte in der Geschichte, sondern die Geschichte wohnte in ihm, in seinem vollkommenen Zeitbewußtsein, und wir sind geschichtlich nur in und durch Christus, d. h. insofern wir an Christi Zeitbewußtsein als Erfüllung des göttlichen Willens teilnehmen. Die Geschichtlichkeit Christi als Ausdruck der vollkommenen Vereinigung zwischen Gott und Mensch, zwischen dem Himmel und der Erde trägt jede andere Geschichtlichkeit und gibt der Zeit ihren tiefsten Sinn. Christus ist der Mittelpunkt der ganzen kosmischen Entwicklung.

Gleichzeitig ist er auch Vollendung dieser Entwicklung. Seit dem Tage, an dem er uns verhieß, „in den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit" (Mt 24, 30) zurückzukommen, alle Völker der Erde vor seinem Thron zu versammeln und Gericht über sie zu halten, verwandelte sich das Leben der Menschheit in ein beständiges Wachen und Warten. Das von Christus verkündete Ende der Welt wird nicht eine zufällige Naturkatastrophe sein, sondern das unmittelbare Einschreiten Gottes in den Lauf der Zeit. Wohl fügte Christus zu seiner Prophezeiung hinzu: von jenem Tag „hat niemand Kenntnis, auch die Engel des Himmels nicht" (Mt 24, 36). Geheimnisvolles Dunkel liegt über dem Datum der zweiten Ankunft Christi und ermöglicht es somit unserem Dasein, seinen gewöhnlichen Gang fortzusetzen. Wie in den Tagen Noes die Menschen aßen und tranken, heirateten und verheirateten, bis die Sintflut kam und alles wegraffte, so wird es auch bei der Ankunft des Menschensohnes sein (vgl. Mt 24, 39). Er wird wie. ein Blitz erscheinen und wie ein Dieb kommen, ohne daß jemand auf ihn wartet und ihm zu begegnen eilt. Er wird in der Nacht der größten Vergessenheit kommen. Denn je länger die Geschichte dauert, um so unglaublicher wird seine Wiederkunft. Mehr noch: je länger die Geschichte dauert, desto besseren Anlaß glauben die Spötter zu haben, die mit ihren Reden auftreten und die Menschheit fragen: „Wo bleibt die verheißene Wiederkunft? Seitdem die Väter heimgegangen sind, bleibt alles so, wie es vom Anfang der Schöpfung an war" (2 Petr 3, 4). Eine scheinbar endlose Reihe von Jahrhunderten schwächt den Glauben an die Erfüllung der Verheißung Christi, und die Menschheit fängt bereits an, sich ruhig und sicher auf Erden zu fühlen.

Doch voll drohenden Ernstes ist die Warnung Christi an diejenigen, die sich die heidnische Auffassung der Geschichte als eines ewigen Kreislaufs anzueignen versuchen: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen" (Mt 24, 35). Das Ende der Geschichte ist im Lichte der Offenbarung so klar und eindeutig wie kaum eine andere Wahrheit. „Nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne verfinstert werden, der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben, die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden": der Zusammenbruch der kosmischen Ordnung (Mt 24, 29). „Hierauf wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Geschlechter der Erde weheklagen, und sie werden den Menschensohn kommen sehen in den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit" : der Zusammenbruch der menschlichen Ordnung (Mt 24, 31). „Dann wird er sich auf seinen herrlichen Thron setzen. Alle Völker werden vor ihm versammelt werden, und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet": die Vollendung der göttlichen Ordnung (Mt 25, 32). Mit Christus als der Verheißung der Heiligsten Dreifaltigkeit angefangen, schließt die Geschichte ebenfalls mit ihm als dem obersten Richter der Zeiten ab. In dieser Hinsieht ist die ganze nachchristliche Geschichte eine Vorbereitung für die zweite Ankunft des Menschensohnes. Im Zeitabschnitt vor der Menschwerdung lebte Christus in der Geschichte als die göttliche Verheißung und lenkte ihren Lauf in Richtung auf seine Geburt. In der kurzen, aber vollen Zeit in Palästina erfüllte er die Geschichte durch seine gottmenschliche Persönlichkeit. In der Epoche nach seiner Himmelfahrt lebt er als der kommende Abschluß, den er durch sein persönliches Eingreifen und Gericht ausführen wird.

In bezug auf die Zeit also ist Christus der wahre Gott der Geschichte. Er ist „das Alpha und Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende" (Offb 22, 13). Kein Abschnitt der Geschichte ist von ihm unabhängig, keiner geht an ihm vorbei. Die Geschichte als Religionswerdung vollzieht sich wesentlich in Christus. Als Sproß des Weibes und daher als Menschensohn im tiefsten Sinne des Wortes bringt er die menschliche Natur in die einzig echte Beziehung zu Gott und gründet damit eine ewige Religion. Das Christentum ist nur deshalb wahr und ewig, weil die hypostatische Union des Menschen mit Gott in Christus wahr und ewig ist. Dadurch aber wird das religiöse Element der Geschichte derart befestigt, daß diese nie mehr zum zweiten Sündenfall werden kann. Der zweite Abfall des Menschengeschlechtes von Gott ist durch Christus unmöglich gemacht worden. Mögen alle menschlichen Personen sich vom Schöpfer lossagen, die menschliche Natur als solche bleibt für ewig bei Gott, denn sie ist vom Logos getragen als Bestandteil seiner gottmenschlichen Fülle. Durch sein Kreuzesopfer erlöste Christus die Geschichte von dieser unheimlichen Möglichkeit, indem er seinem himmlischen Vater die volle Zeit darbrachte und sie dadurch in ihrem Wesen heiligte. Das Opfer auf Golgotha war das höchste geschichtliche Opfer: es war die Erlösung der Geschichte von ihrem Lauf ins Nichtsein. Das Gotteslamm, das geschlachtet worden war und „von Ewigkeit zu Ewigkeit" lebt (vgl. Offb. 10,6), wandte den Gang der Geschichte zurück, lenkte ihn auf Gott hin und wurde somit Herr und König der Zeiten.

Die Geschichte ist also ihrem Wesen nach christozentrisch. Erlaubten wir uns nun, die am Anfang dieses Abschnittes angeführten Ausdrücke von Bossuet und Dambrauskas-Jakštas umzudeuten, so möchten wir sagen: Die Geschichte ist gesta Christi per homines (Christi Taten durch die Menschen). Die Menschheit ist von Christus zum Gottesreich eingeladen und soll in ihrer geschichtlichen Entwicklung ihre Antwort darauf geben. Sie soll sich endgültig entscheiden, ob sie auf dem "Weg des alten Adam bleiben und den von diesem herbeigeführten Daseinszustand fortsetzen will oder ob sie den Weg des neuen Adam freiwillig einschlägt und somit an der von Christus hergestellten neuen Schöpfung teilnimmt. In ihren konkreten Erscheinungen ist also die Geschichte die freie Antwort der Menschheit auf die Erlösungstat Christi.

3.

GESCHICHTE ALS UNTERSCHEIDUNGSZEIT

Christus ist der Mittelpunkt der Geschichte nicht im Sinne eines mechanischen Zentrums, um das sich die Jahrhunderte ruhig drehen, sondern im Sinne der tragenden Kraft, die erhält, bestimmt und fordert. Seine Rolle im geschichtlichen Dasein des Menschen hat er selbst folgendermaßen gekennzeichnet: „Glaubet nicht, daß ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Mt 10, 34—35). „Es werden fortan fünf in ein und demselben Haus uneins sein: drei gegen zwei und zwei gegen drei; der Vater gegen seinen Sohn, der Sohn gegen seinen Vater; die Mutter gegen ihre Tochter, die Toditer gegen ihre Mutter" (Luk 12, 52—53). Diese Prophezeiung Christi wird sich nicht erst in der letzten Epoche der geschichtlichen Existenz der Menschheit erfüllen. Sie erfüllt sich immer und überall, wo man nur die Entscheidungsfrage zum Gottes-und Menschensohn stellt. Wo immer nur der Name Jesus Christus ausgesprochen wird, fällt er wie ein scharfes Schwert und entzweit Familien, Sippen, Völker, schließlich auch die gesamte Menschheit. Christus ist das große Unterscheidungszeichen der geschichtlichen Mächte und Gestalten.

Gewiß, die Entscheidung für oder gegen Christus ist vorerst die intimste Regung des menschlichen Herzens. Doch sie bleibt nicht in der Seele verborgen: sie objektiviert sich. Die Stellung zu Christus wird zum sichtbaren Merkmal der menschlichen Existenz. Sie wird zu einem Siegel, das dem gesamten Dasein — dem persönlichen und dem geschichtlichen — aufgeprägt wird. Entscheidet sich der Mensch für Christus, so wird er mit dem Zeichen Gottes auf die Stirn bezeichnet (vgl. Offb 7, 3; 9, 4); entscheidet er sich gegen Christus, so erhält er den Namen des Tieres oder den seiner Zahl ebenfalls auf die Stirn oder auf die rechte Hand (vgl. Offb 13, 17). Stirn und Hand sind hier Symbole, mit denen die Offenbarung die Sichtbarkeit der menschlichen Entscheidung ausdrückt. Durchbricht diese Entscheidung einmal die Schranken der inneren Welt, so schmiedet sie diejenigen Menschen zusammen, welche die gleiche Bezeichnung tragen, und bildet aus ihnen eine geschlossene Gemeinschaft. Die Stellung zu Christus wirkt sich auch auf das gesellschaftliche Dasein aus. Die Offenbarung erzählt uns von zwölftausend aus jedem Stamm, die mit dem Siegel des lebendigen Gottes bezeichnet waren; von einer großen Schar, „die niemand zählen konnte, aus allen Völkern und Stämmen, Ländern und Sprachen" (Offb 7,2—10); von den Himmelscharen, die „auf weißen Rossen in weißen, reinen Linnenkleidern" dem Worte Gottes folgen (Offb 19, 14). Alle diese Bilder wollen eines besagen: die Entscheidung für Christus ist ein gemeinschaftsbildender Taktor und somit eine geschichtliche Macht. Jeder Unterschied zwischen Rassen, Völkern, Sprachen, Berufen, Geschlechtern fällt hier weg; es bleibt nur ein einziges Zeichen: die Treue zu Christus; ein Zeichen, das diese sonst sehr verschiedenartige Menge in die Gemeinschaft eines Herzens und einer Seele verwandelt.

Doch der Gemeinschaft des Lammes steht im Weltprozeß die des Tieres entgegen. Das Tier als Symbol des Widersachers Christi bekommt ebenfalls „Macht über alle Stämme und Völker, Sprachen und Länder" und wird von allen Erdbewohnern angebetet (Offb 13,7—8). Es sammelt „die Könige der Erde und ihre Heere", um Krieg zu führen „gegen den, der auf dem Rosse sitzt" und dessen Name „das Wort Gottes" ist (Offb 19, 14—19). Es verführt die Völker, „die an den vier Enden der Welt wohnen", bildet aus ihnen ein gewaltiges Heer, dessen Zahl „wie Sand am Meere" ist, und umzingelt „das Lager der Heiligen" (20, 8—9). Die Gemeinschaft des Tieres wird ebenfalls nur durch ein einziges Merkmal zusammengehalten, nämlich durch den Abfall von Christus. Hat einer dieses Merkmal nicht, so darf er weder kaufen noch verkaufen (vgl. Offb 13, 17), d. h., er besitzt nicht dieselben Rechte wie die Leugner Christi. Er wird aus der Gesellschaft ausgestoßen und entrechtet, verfemt und verfolgt. Anders ausgedrückt: die Abkehr von Christus ist gleichfalls ein gemeinschaftsbildender Faktor, der auch zu einer geschichtlichen Macht wird. Die Gemeinschaft des Tieres ist ebenso allumfassend wie die des Lammes. Auch sie handelt im Namen der ganzen Menschheit und betet das Bild des Tieres an (vgl. Offb 13,14). Sie verwandelt sich, wie wir später sehen werden, in eine ,Kirche', baut ihren Tempel, schafft sich ihren Kult und wählt sogar den Propheten des Tieres zu ihrem ,Papst'.

Die Geschichte ist also die Unterscheidungszeit, in der die endgültige Antwort der Menschheit auf die Erlösungstat Christi zum Vorschein kommt. Diese Unterscheidung vollzieht sich jedoch nicht auf dem Weg der ruhigen Entwicklung, sondern nimmt die Form des unerbittlichen Ringens an. Die Offenbarung ist voller Schilderungen des Kampfes zwischen Christus und seinem Widersacher, zwischen dem Drachen und dem Lamm. Neben dem Bild der Ernte ist das Bild des Kampfes am häufigsten. Dem Tiere des Meeres wurde die Macht verliehen, nicht nur wider Gott zu lästern, sondern zugleich auch „die Heiligen zu bekriegen und zu besiegen" (Offb 13, 7). Da der Drache das in die Wüste geflüchtete Weib (Symbol der Kirche) nicht zu erhaschen vermochte, ergrimmte er gegen dieses und „begann Krieg zu führen mit seinen übrigen Kindern, die Gottes Gebote halten und das Zeugnis Jesu bewahren" (12,17—19). Das Tier, „das aus dem Abgrund steigt", wird ebenso zwei Zeugen Gottes „bekriegen und töten" (11,7). Anderseits schildert die Offenbarung Christus ebenfalls als einen Kämpfer, der auf dem weißen Rosse sitzt, bekleidet „mit einem blutbefleckten Gewände" (19, 13). „Aus seinem Mund fährt ein zweischneidiges Schwert, mit dem er die Völker schlagen soll" (19,15). Er ergreift das Tier „samt dem falschen Propheten" (19,20) und wirft beide „in den Feuersee", die übrigen werden „durch das Schwert getötet"

Nicht unbedingt müssen wir diese symbolischen Bilder und Ausdrücke im Sinne des physischen Kampfes auslegen, doch bedeuten sie einen Kampf. Die Geschichte entfaltet sich nicht wie der Organismus, wie der Zellkern nach immanenten Gesetzen der Natur. Die Geschichte ist Kampfraum der transzendenten Mächte mittels des Menschen. Sie ist in ihrem Wesen nichts anderes als die Fortsetzung jenes übergeschichtlichen Kampfes, den uns die Offenbarung folgendermaßen schildert: „Im Himmel gab es eine Schlacht. Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. Auch der Drache mit seinen Engeln kämpfte. Sie richteten aber nichts aus, und ihr Platz im Himmel ging verloren. Und geworfen wurde der große Drache, die alte Schlange, die Teufel heißt und Satan, die alle Welt verführt; geworfen wurde er herab zur Erde, und mit ihm gestürzt wurden seine Engel" (12, 7—10). Das irdische Dasein ist also zum Schauplatz der weiteren Angriffe Satans geworden, der seine ursprüngliche Empörung gegen den Allerhöchsten fortsetzt und sich seiner Schöpfung zu bemächtigen sucht. Im Laufe der Geschichte nimmt dieser Kampf an Ausmaß und Stärke immer mehr zu, weil sowohl die Zahl der Anhänger des Tieres als auch ihr Gemeinschaftssinn wachsen und erstarken. Die zeitliche Begrenztheit der Geschichte, dieses „wenig Zeit" der Offenbarung (12, 12), verwandelt die ganze historische Existenz der Menschheit ins Nüchtern- und Wachsein (vgl. 1 Petr 5, 8). Freut sich der Himmel darüber, daß „das Heil erschienen und das Reich Gottes und die Gewalt seines Gesalbten" (Offb 12, 10) grundsätzlich befestigt sind, so bemitleidet die Offenbarung die Erde und das Meer, zu denen der Teufel herabgefahren ist „in großem Zorne" (12, 12). Die Verwirklichung des Heiles in der irdischen Geschichte ist immer noch bedroht und gefährdet.

Die Geschichte als Unterscheidungszeit und als Kampfraum enthüllt uns einen Grundsatz, der wesentlich ist, um das irdische Dasein überhaupt zu verstehen: in der Ordnung der Natur bleibt Sieger das Böse, in der Ordnung der Übernatur das Gute, und diese Spannung verursacht den Zusammenbruch der natürlichen Ordnung. Das Ende der Welt ist kein einzelner Akt von außen, sondern ein ständiges Schreiten der Geschichte in die immer größere Selbstversklavung unter dem Bösen. Es ist im Wesen keine Naturkatastrophe, sondern die universale Ausdehnung des Satanischen auf Erden. Der physische Zusammenbruch ist nur eine Folge der geistigen Verderbnis. Nicht die Naturwelt nähert sich ihrem Abschluß, sondern die Geschichte. Nicht die Naturwelt wird zur Ernte reif, sondern der menschliche Geist. Der Engel der Offenbarung, der „in der Hand eine scharfe Sichel" trägt und „den Weinstock der Erde" aberntet (Offb 14, 15—19), ist keine entfesselte Naturgewalt, sondern ein Engel der Geschichte, der die Sünden der Gesamtmenschheit so wenig verzeiht, wie auch unser persönlicher Schutzengel es nicht ungeahndet läßt, wenn wir fehlen (vgl. Ex 23, 21). Nicht der natürliche Ertrag der kosmischen Entwicklung wird „in die große Zornkelter Gottes" geworfen und getreten (Offb 14,20), sondern unsere geschichtlichen Werke. Wir stellen uns das Ende der Welt zu stark unter der Gestalt einer kosmischen Naturkatastrophe vor und vergessen zu oft, daß Christus nicht in den an sich unschuldigen Lauf der Sterne und Planeten eingreift, sondern eben in den Lauf der menschlichen Geschichte, weil diese die Zahl der „um des Gottes und des Zeugnisses willen" Hingeschlachteten vollendet hat (vgl. Offb 6, 9). In diesem Sinne ist die Geschichte ein ständiges Verlieren im Hinblick auf das Diesseits und daher ein fortdauerndes Schreiten auf den universalen Zusammen-bruch; gleichzeitig ist sie auch ein ständiges Gewinnen im Hinblick auf das Jenseits und daher ein sicheres Schreiten zum endgültigen Sieg, der zwar nicht auf der natürlichen, sondern erst auf der übernatürlichen Seinsebene erfolgt und somit dem natürlichen Lauf der Dinge das Ende setzt.

Christlich betrachtet, erscheint deshalb die Geschichte pessimistisch und optimistisch zugleich. Der christlichen Geschichtsauffassung liegt die Stimmung des Untergangs viel tiefer zugrunde als der fatalistischen Kulturphilosophie Ibn Chalduns, Giambattista Vicos oder Oswald Spenglers. Diese Denker gründen den Untergang eines Kulturtypus auf seinen organischen Zusammenhang mit der Landschaft, auf das Versiegen seiner natürlichen Kräfte. Das Gesetz des Alterns, das in der gesamten Natur waltet, regiert — nach dieser Theorie — auch die Kultur. Daher ist der Kulturprozeß vom menschlichen Willen durchaus unabhängig. Er nähert sich seinem Ende, wie ein jeder Organismus sich seinem unausweichlichen, trotzdem aber natürlichen Tode nähert. Indessen versteht das Christentum den geschichtlichen Verlauf wesentlich als einen Prozeß, des Geistes, in dessen Bereich es kein Welken und Altern gibt. Nimmt die Geschichte trotzdem ein Ende, so ist dieses nicht ein Versiegen der inneren Kräfte, d. h. nicht immanent, sondern eine Beschwörung wegen der Frevel, die der Mensch begeht und nicht durch Reue und Buße tilgt. Der historische Prozeß ist im Lichte des Christentums ein Gesamtakt der menschlichen Freiheit und der göttlichen Vorsehung. Bricht dieser Prozeß eines Tages doch zusammen, wendet sich ein Teil der Menschen von Gott endgültig ab, so geschieht dies nur deshalb, weil der menschliche Wille sich gegen Gott entscheidet und diese Entscheidung in der Geschichte zu objektivieren versucht. Das Drama der Geschichte ist das Drama der menschlichen Freiheit. Die Entwirrung dieses Dramas ist zwar pessimistisch, nicht aber in dem Sinne, daß der Mensch dem kommenden Ende nicht entrinnen kann, wie Spengler meint, sondern weil der Mensch selbst dieses Ende durch seine freie und bewußte Entscheidung beschwört. Wir können also die Geschichte nicht im Sinne des aufklärerischen Optimismus deuten und ihren Lauf als ein ständiges Fortschreiten auf den Zustand der Vollkommenheit hin begreifen.

Gleichzeitig aber verkündet das Christentum den endgültigen und ewigen Sieg des übernatürlichen Guten über die bösen Mächte und Gewalten der Erde. „Der Tod wird nicht mehr sein; weder Trauer noch Klage noch Schmerz wird mehr sein" (Offb 21, 4). „Nichts vom Fluche Getroffenes wird es mehr geben" (22, 3). Der alte Himmel und die alte Erde werden zwar vergehen, aber alles wird umgestaltet, umgeschaffen, und daraus wird „die heilige Stadt, ein neues Jerusalem, das Zelt Gottes unter den Menschen" entstehen (21, 2—3), das weder Sonne noch Mond braucht, „denn die Herrlichkeit Gottes beleuchtet" in ihr alles (21, 23). In diesem Sinne ist die christliche Geschichtsauffassung viel optimistischer als die Fortschrittstheorie der Aufklärung, die zwar schöne Hoffnungen zu wecken, nicht aber sie zu begründen und noch weniger zu erfüllen vermag; eine Theorie, die Berdjajew mit Recht „Vergottung der Zukunft auf Kosten der Gegenwart und der Vergangenheit"8 nennt. Die ganze Geschichte fällt in dieser Theorie dem kommenden Moment der Seligkeit zum Opfer. „Alle Generationen", sagt Berdjajew, „erscheinen lediglich als ein Mittel zur Verwirklichung dieses seligen Lebens, dieser glücklichen Generation Auserwählter, die in einer uns unbekannten und fremden Zukunft auftreten soll."9 Alles, was vorher geschieht, besitzt in dieser Geschichtsphilosophie keine eigene Bedeutung und keinen selbständigen Wert: es ist nur ein Mittel und Werkzeug für das Kommende. Hält man also die Fortsdirittstheorie für eine Erlösung des historischen Prozesses von der Sinnlosigkeit, die sich in dem alten heidnischen Kreislauf der Zeiten so anschaulich ausdrückt, so erlöst sie nur einen Teil der Menschheit, nur jene künftige Generation und Kultur, die ganz am Ende steht. Die gesamte Vergangenheit indessen geht unrettbar verloren. Verspricht uns das Christentum „jede Träne" abzutrocknen (Offb 21, 4), so kümmert sich die Fortschrittstheorie lediglich um die letzte Generation. Der universalen Erlösung des Christentums steht die Teilerlösung der Aufklärung entgegen. Aber „es gibt gar keine innere Veranlassung, das Geschick solch einer Generation, die einmal auf der Höhe zu erscheinen hätte und für die die Seligkeit und das Glück bereit wären, vor allen anderen Generationen zu begünstigen, denen nur Leiden, Qualen und Unvoll-kommenheit zuteil wurden. Keine einzige kommende Vollkommenheit vermag alle Qualen der voraufgegangenen Geschlechter zu erkaufen"10. Die Theorie des Fortschrittes entlarvt sich also als eine trügerische Hoffnung, die nicht imstande ist, alles Lebendige zum Zwecke des ewigen Lebens wiedereinzusetzen. Ohne dies jedoch bleibt jeder Optimismus inhaltsleer.

Anderseits, wie auch Berdjajew feststellt, vermag die Fort-schrittsphilosophie nicht, das Problem der Zeit zu lösen. Um sich von der Vergänglichkeit, die ja das Wesen der Zeit ausmacht, zu erretten, überwindet das Christentum die Zeit selbst und überführt die Menschheit in die Ewigkeit, die zwar eine Dauer (duratio), doch nicht eine Vergänglichkeit ist. Wodurch aber könnte die Fortsdirittstheorie ihre ,selige Generation' vor der Vergänglichkeit schützen, wenn sie die Vollkommenheit als einen diesseitigen Zustand versteht? Das menschliche Dasein auf Erden ist die Zeitlichkeit selbst. Es besitzt nicht die Kraft, sich aus sich selbst heraus über die Zeit zu erheben. Worin findet also die Fortschrittsphilosophie etwas Höheres als die Zeit, wenn sie alles lediglich hienieden zum Abschluß kommen sieht? Die Errettung des Menschen kann erst dann als wirklich betrachtet werden, wenn sie seine Errettung von der Zeitlichkeit bedeutet. Gerade das verkündet das Christentum. In dem von der Offenbarung geschilderten jenseitigen Leben findet das ewige Wesen des Menschen die ebenso ewige Auswirkung im Dasein.

In diesem Sinne ist die christliche Geschichtsauffassung von Grund aus optimistisch und lebenbejahend. Sie bleibt zwar der Erde nicht treu, aber nur dieser unverklärten, vergänglichen, bösen Erde. Sie verkündet jedoch eine neue Erde (vgl. 2 Petr 3, 13; Offb 21, 1), die nicht als Endergebnis der natürlichen Entwicklung und Vervollkommnung entsteht, sondern ein Geschenk von oben, eine neue Schöpfung Gottes, eine Gnade ist. Der Optimismus der christlichen Geschichtsphilosophie stützt sich nicht lediglich auf die schöpferische Macht des menschlichen Genius, sondern gründet sich wesentlich auf Gott, den Schöpfer, der den Menschen „in seiner Würde wunderbar erschaffen hat und noch wunderbarer erneuern" wird. Der heidnische Prome-theismus, der sich in der Fortschrittsidee der Aufklärung wieder bemerkbar machte, wird im Christentum durch die religiöse Haltung des Menschen im Hinblick auf die Zukunft ersetzt. Somit wird die Geschichte zu einem universalen, religiösen Akt, zur Anerkennung der Kreatürlichkeit des Menschen und zugleich zum ,Rorate', zum Ruf nach der endgültigen und existentiellen Erlösung.

4.

DER WIDERSACHER CHRISTI

Da die Geschichte die Unterscheidungszeit ist, klärt sie von selbst in ihrem Lauf nicht nur die Rolle Christi, sondern gleichzeitig auch die seines Widersachers, den die Heilige Schrift und die christliche Tradition mit dem Namen Antichrist bezeichnen. Der Antichrist steht Christus gegenüber als eine geschichtliche Macht, die ihn leugnet, ihn pausenlos bekämpft und seinen historischen Werken fortdauernd Schaden zufügt. Die in der Geheimen Offenbarung erwähnten zwei Tiere (13, 1—11), die große Buhlerin, „die über vielen Wassern thront" (17, 2), das große Babylon (18, 2), der Drache und die alte Schlange (20, 2) sind nichts anderes als Symbole der geschichtlichen Formen und Gestalten, die sich der Antichrist im Laufe der Zeit aneignet und durch die er das historische Leben beeinflußt. Das Tier des Meeres tut sein „großsprecherisches Lästermaul" (13, 5) auf und lästert während „zweiundvierzig Monaten" den Namen Gottes (13, 6). Das Tier der Erde „wirkt große Zeichen, und sogar Feuer läßt es vom Himmel fallen" (13, 13); es belebt das Bild des ersten Tieres, so daß es redet und den Tod all denen bringt, die es nicht anbeten (13, 16). Mit der großen Buhlerin treiben „die Könige der Erde" Unzucht, beschenken sie „mit Gold, Edelsteinen und Perlen" und berauschen sich mit ihr am Blut der Heiligen und der Zeugen Christi (17, 2—6). Von dem großen Babylon, dieser prunkvollen Weltstadt, bereichern sich die Kaufleute und werden dadurch „Fürsten der Erde" (18, 23); die Stadt selbst vergiftet durch ihre Zauberkünste alle Völker und beschmutzt sich mit dem Blut „der Propheten und der Heiligen und aller Erschlagenen auf der Erde" (18, 24). Die Geschichte ist also voll antichristlicher Bestrebungen und Taten. Sie ist das eigentliche Wirkungsfeld nicht nur für Christus, sondern auch für seinen Widersacher.

Einen gewissen antigöttlichen Charakter können wir bereits in der Naturwelt feststellen. Jene universale Harmonie und erstaunliche Zweckmäßigkeit, die wir besonders im Reiche des Lebendigen bewundern, sind hie und da gleichsam von einer schwarzen Hand verwirrt und verdreht. Irgendein böser Plan taucht aus manchem Gesetz der Welt empor. Irgendein Spott und Hohn erklingt dann und wann in der Symphonie des Kosmos. Es gibt in der Natur manches, was zum Auslachen der göttlichen Schöpfung geplant und tatsächlich verwirklicht ist, jener Schöpfung, von der einst gesagt worden war, sie sei sogar „sehr gut" (Gn 1, 13 u. 31). Der menschliche Verstand findet keine richtige Antwort darauf. Jedoch im Lichte der Offenbarung sind diese Mißgeburten und Mißgestalten, diese Karikierungen und Verhöhnungen in der Natur durchaus verständlich. Der Satan wurde doch zur Erde herabgeworfen und mit ihm auch seine Engel (vgl. Offb 12, 9—12). Hatten sie sich bereits im Himmel gegen Gott und sein Wort erhoben, so setzten sie ihre Empörung ebenso auf der Erde fort und griffen alles, was göttliche Züge an sich trug. Die unschuldige und ursprünglich gute Natur fiel ihnen zunächst zum Opfer. Sie wurde entstellt und verstümmelt, ihrer Unschuld beraubt und mit dem Bösen durchtränkt. Zwar droht die Offenbarung mit der Vertilgung für die, „welche die Erde verdarben" (11, 18), damit aber gibt sie selbst zu, daß die Erde tatsächlich verdorben ist. Ist die Geschichte, wie gesagt, in erster Linie Kulturwerdung, d. h. die zunehmende Beherrschung der Natur durch die schöpferische Macht des Geistes, so findet der Mensch sein Arbeitsgebiet schon verunreinigt vor und hat deshalb mit dem Satanischen auch in seinen eigenen Werken zu kämpfen. Der Antichrist steckt bereits in den untersten Regionen des irdischen Daseins und nagt selbst an dem physischen Bestand der Geschichte11.

Doch die Natur ist stumm und passiv. Sich zu entscheiden, vermag sie nicht. Sie kann das Toben des Drachen nur erleiden und seufzend warten, bis sie „von der Knechtschaft der Vergänglichkeit" erlöst und zur ursprünglichen „Freiheit der Kinder Gottes" (Rom 8, 21) erhoben werden wird. Die Natur ist lediglich ein Objekt für die Anschläge des Teufels. Sie wehrt sich dagegen nur mit ihrer ungemein zähen Leidensfähigkeit. Indessen gibt die Geschichte eine direkte und aktive Antwort auf die Bestrebungen der alten Schlange. Der Mensch als der eigentliche Träger der geschichtlichen Existenz ist nicht mehr ein rein passives Objekt, sondern zugleich auch ein Mitwirker: Mitfreund oder Mitfeind. Den Bemühungen des Drachen und seiner Engel stellt er nicht nur seine Natur, sondern auch seinen freien und bewußten Geist entgegen. Der freie Geist aber entscheidet sich, und nicht immer ist diese Entscheidung positiv in Hinblick auf Gott und seinen Christus. Die Natur kann nie von Gott abfallen und ihr Harren auf Erlösung einbüßen. Sie kann nur von einem anderen ihrer sichtbaren Göttlichkeit in ihren konkreten Erscheinungen beraubt, nie aber wesentlich gottlos gemacht werden. Dem Geiste dagegen stehen beide Möglichkeiten offen: die positive oder die Entscheidung für Gott und Christus, und die negative oder die Entscheidung gegen Gott und Christus. Die negative Möglichkeit ist gerade der Weg, auf dem der Antichrist Eingang in die Geschichte findet. Nachdem der Drache durch die von ihm gestiftete Verwirrung in der Natur über die Schöpfung Gottes gespottet hat, versucht er in der nachchristlichen Geschichte die Erlösung zu verhöhnen und sie sinnlos zu machen.

In ihrem Verlauf wird also die Geschichte nicht nur die Offenbarung des Gottmenschentums, die Entfaltung des mystischen Leibes Christi in Raum und Zeit, sondern gleichzeitig auch das Hervortreten der Gottlosigkeit in ihrer schärfsten Form, die Objektivierung der civitas diaboli auf Erden. Dem fleischgewordenen und in der Kirche fortdauernd wirkenden Logos entgegen erhebt sich sein Widersacher, sein Leugner von Anfang an, und versucht, die gesamte geschichtliche Existenz der Menschheit in den Bereich seiner Leugnung einzubeziehen. Die Geschichte ist nicht nur gesta Dei oder gesta Christi per homines, sondern auch gesta diaboli per homines (Teufelstaten durch die Menschen). Der Antichrist erweist sich nicht als eine zufällige Erscheinung des historischen Prozesses, sondern als sein Bestandteil, als die verwirklichte Möglichkeit der negativen Entscheidung des Geistes, als die gottlose Gestalt der geschichtlichen Ob-jektivationen auf allen Gebieten des Lebens. Mit Recht behauptet daher Berdjajew: „Der Antichrist ist ein Problem der Geschichtsmetaphysik" 12; genauer ausgedrückt: der Geschichtstheologie, denn weder die Geschichtswissenschaft noch die Geschichtsphilosophie vermag etwas über den Antichrist auszusagen. Nur das Erscheinen Jesu Christi auf Erden offenbarte seinen Widersacher. Und je sichtbarer dieses Erscheinen in der Kirche ist, desto sichtbarer wird auch der Antichrist. Und wenn die zweite Fülle der Zeit bevorsteht und die zweite Ankunft Christi sich ankündet, dann erscheint auch der Antichrist in seinem größten Zorne. „Wie das erste Kommen unseres Herrn", sagt J. H. Newman, „seinen Vorläufer hatte, so wird das zweite den seinen haben. Der erste war ,mehr als ein Prophet', der heilige Täufer. Der zweite wird mehr als ein Feind Christi sein; er wird das Bild selber des Satans sein, der furchtbare und hassenswerte Antichrist." 13

Was ist aber der Antichrist in sich selbst? Worin besteht sein Wesen? — Darauf gibt uns der hl. Johannes eine sehr deutliche Antwort: „Das ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet" (1 Jo 2, 22); und an der anderen Stelle: „Jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, ist nicht aus Gott. Das ist der Geist des Antichrist" (4, 3). Den gleichen Hinweis finden wir im zweiten Brief des Heiligen: „Viele Verführer", schreibt er, „sind in die Welt hinausgegangen, die nicht bekennen, daß Jesus Christus im Fleische erschien. So einer ist der Verführer und Antichrist" (2 Jo 7). Die Worte des hl. Johannes besagen klar: Das Wesen des antichristlichen Geistes besteht in der Leugnung der gottmenschlichen Fülle Christi. Christus ist der wahre Gott und der wahre Mensch. Er ist die hypostatische Ganzheit. Wer also einen Grundbestandteil dieser Ganzheit leugnet, „trennt Jesus — solvit Iesum", wie die Vulgata diese Stelle übersetzt (1 Jo 4, 3), zerstört dadurch seine Persönlichkeit und wird somit zum Antichrist. Der Antichrist steckt also überall, wo Christus nur irgendwie verfälscht ist. Es ist ohne Belang, ob diese Fälschung durch die Philosophie oder durch die Kunst, durch die Gemeinschaft oder nur durch die innere Einstellung des Einzelnen zum Ausdruck kommt. Wo sie nur erscheint, ist der Antichrist bereits da. Der Antichrist ist Objektivation des verfälschten Christus. Er ist jenes „Geheimnis der Bosheit", das bereits am Werke ist (vgl. 2 Thess 2, 6). In diesem Sinne ist der Antichrist so alt wie die Geschichte selbst. Mehr noch: er war bereits im himmlischen Prolog des historischen Prozesses einbeschlossen. Verweigerte Luzi-fer dem göttlichen Logos Dienst und Verehrung deshalb, weil dieser zur Menschwerdung bestimmt war, wie es Duns Scotus lehrt14, so wurde er von selbst zum Widersacher Christi schon vom ersten Anfang an. Jede weitere geschichtliche Verleugnung des Menschensohnes ist im Wesen nichts anderes als die Fortsetzung und Entwicklung jener ursprünglichen Ablehnung, die bereits im Himmel stattgefunden hat.

Gleichwohl ist es möglich, daß diese allgemeine negative Haltung Christus gegenüber am Ende der Geschichte, wenn die Enthüllung der göttlichen und der dämonischen Macht besonders deutlich wird, einen personalen Ausdruck findet. Die Heilige Schrift selbst gibt uns Anhaltspunkte für diese Deutung. Als der hl. Paulus die Thessalonicher davor warnte, an die baldige Ankunft des Herrn zu glauben, wies er sie gerade auf den Antichrist hin als auf ein Zeichen des bevorstehenden Endes der Geschichte: „Zuvor muß der Abfall kommen und der Mensch der Sünde geoffenbart werden, der Sohn des Verderbens, der Widersacher, der sich erhebt über alles, was Gott und Heiligtum heißt, der sida in den Tempel Gottes setzt und sich für Gott ausgibt" (2 Thess 2, 3—5). Ist die irdische Geschichte, wie schon gesagt, ein ständiges Zunehmen an Bösem, so ist es gar nicht ausgeschlossen, daß diese böse Macht sich auf einem Punkt konzentriert und in einer menschlichen Person ihren besonderen Sieg feiert und dadurch eine gewisse .Inkarnation' als Nachäffung der göttlichen Fleischwerdung erfährt. In diesem Sinne zieht auch Solowjew eine Parallele zwischen Christus und Antichrist als zwei Personen. Christus ist nach ihm eine persönliche, in ihrer Art einzige Verkörperung des Guten. Der Antichrist ist folgerichtig ebenfalls eine persönliche, in ihrer Endgültigkeit und Vollendung einzige Verkörperung des Bösen. Er erscheint als Träger des luziferischen Hasses gegen den göttlichen Logos und zugleich gegen alles, worin der Logos sich nur offenbart. War die vorchristliche Geschichte eine lange Vorbereitungszeit für das Erscheinen des Gottmenschen, so kann die nachchristliche Geschichte die Vorbereitung für den Teufelsmenschen sein. Das Erscheinen des Antichrist in der persönlichen Gestalt wäre eine verhöhnende Antwort Luzifers auf die ihm einst geoffenbarte Fleischwerdung des göttlichen Logos. Hierin liegt der theologische Sinn all jener Vermutungen, die wir in der christlichen Literatur aller Jahrhunderte finden und die uns stets einprägen, daß der Antichrist doch als Person einmal den Thron dieser Welt ersteigen wird. Da der Antichrist die Taten Christi, wie wir bald sehen werden, immer und überall nachäfft, sind diese Vermutungen wohl begründet.

Und doch wäre es falsch, ja sogar gefährlich, den Begriff des Antichrist nur auf diese persönliche Erscheinung des Bösen zu beschränken und den ganzen antichristlichen Kampf nur auf die Anschläge dieser merkwürdigen Persönlichkeit zurückzuführen. Es wäre falsch, so zu denken und zu handeln, als ob der Antichrist lediglich eine Erscheinung der letzten Epoche wäre und als ob die ganze Geschichte frei von seinem Einfluß verliefe.

Wenn auch die Offenbarung uns Ansätze gibt, den Antichrist auch als Person zu deuten, so weist sie uns ebenfalls darauf hin, daß der Antichrist eine dauernde Erscheinung der Geschichte ist. Der hl. Paulus drückt das ziemlich klar aus, indem er sagt: „Das Geheimnis der Bosheit ist schon am Werke; nur muß erst der aus dem Weg geräumt sein, der es bis jetzt aufhält. Dann wird jener Gottlose offenbar werden" (2 Thess 2, 7). Anders gesagt, der Antichrist ist noch durch Gottes Bestimmung aufgehalten. Am Ende der Geschichte wird er sich zwar als ein Gottloser offenbaren, doch diese Offenbarung wird nicht etwas Neues sein, sondern nur eine unermeßliche Zusammenballung der alten und in der Geschichte stets wirkenden bösen Mächte. Der Antichrist als Person wird lediglich als die reifste Frucht des ewigen antichristlichen Geistes sein. Es scheint, daß der hl. Johannes dasselbe behauptet: „Wie ihr gehört habt, daß der Antichrist kommt, so sind jetzt schon viele Antichristen aufgetreten" (1 Jo 2, 18); und etwas später: „Viele falsche Propheten sind in die Welt hinausgegangen", und der Geist, der Jesus nicht bekennt, ist „bereits auf der Welt" (4, 2—4). Gewiß, der hl. Johannes tröstet die Christen dadurch, daß Christus, der in uns lebt, größer ist „als der, der in der Welt ist" (4, 5). Damit aber erkennt er deutlich an, daß der Widersacher bereits in der Welt wirkt.

Am merkwürdigsten ist es aber, daß der hl. Johannes auch diese fortdauernd wirkende antichristliche Macht für das Zeichen der letzten Stunde der Weltgeschichte hält. Er schreibt: „Kindlein, es ist die letzte Stunde. Wie ihr gehört habt, daß der Antichrist kommt, so sind jetzt schon viele Antichristen aufgetreten. Daher wissen wir, daß es die letzte Stunde ist" (1 Jo 2,18—19). Das Erscheinen Christi auf Erden offenbarte, wie gesagt, auch seinen Widersacher im konkreten menschlichen Dasein. Damit aber schlug die Geschichte die Richtung nach ihrem Abschluß ein. Konnten die Jahrtausende vor Christus sich dessen rühmen, daß sie zum Mittelpunkt der irdischen Zeit, zur Fleischwerdung des Logos, eilten, so bleibt den Jahrtausenden nach Christus nichts anderes, als zur zweiten Ankunft Christi, d. h. zum Ende, zu laufen. Die letzte Stunde der Geschichte hat mit der Himmelfahrt Christi begonnen. Das Auftreten der vielen Antichristen, der falschen Propheten, der Christus verneinenden Geister ist gerade das Zeichen, daß im Wesen nicht mehr viel Zeit bleibt, um die endgültige Enthüllung des Guten und des Bösen durchzuführen. Daher ist auch die Tätigkeit der antichristlichen Mächte jetzt viel intensiver und sichtbarer geworden als in der Zeit vor Christus. In der heidnischen Geschichte versuchte der Drache sich des Menschen durch die Beherrschung seiner Physis zu bemächtigen. Die Besessenheit des Leibes war die Hauptform dieser Herrschaft. Der alte Antichrist offenbarte sich mehr als eine gottlose Gewalt über die Natur. In der christlichen Geschichte indessen greift die Schlange vorwiegend das geistige Gebiet der menschlichen Existenz an, weil diese durch das Sakrament der Taufe zur Wohnung der Heiligsten Dreifaltigkeit geworden ist. Der neue Antichrist nimmt eine geistige Gestalt an und wird somit zu einer geschichtlichen Macht. Er verläßt „dürre Orte" der Natur und zieht in die Kultur ein, in Philosophie, Kunst, Staat und Wirtschaft, und besetzt diese Gebiete nicht weniger, als er einst den menschlichen Körper zu besetzen pflegte. So wie der Teufel früher Staunenerregendes durch die menschliche Physis wirkte, so tut er jetzt „große Zeichen und Wunder" (Mt 24, 24) in der geistigen Welt, „um auch die Auserwählten, wenn es möglich wäre, irrezuführen" (24, 25). Der christliche Mensch ist nicht mehr Naturmensch, daher ist auch der Antichrist nicht mehr Naturgewalt. Er handelt heute nicht mehr als Medizinmann oder Magier, sondern als Philosoph, Künstler, Politiker, Staatsmann oder Wirtschaftsführer. Die Unterscheidung der Geister ist deshalb die wichtigste, wenn auch schwierigste Aufgabe der nachchristlichen Geschichtsperiode.

Am Ende der „Drei Gespräche" stellen die Teilhaber an den Unterhaltungen fest, alles sei wie mit einem feinen, unfaßbaren Schleier überzogen. Es fehle die vollkommene Klarheit, und zwar nicht nur am Himmel, sondern gleichzeitig auch in der Seele. Es liege eine Unruhe und gleichsam ein böses Vorgefühl in der Luft, und es sei nicht nur ein Zeichen, daß die Erde alt und unser Sehvermögen schwach geworden ist, sondern daß zugleich eine böse Macht am Werke sei. Der Nebel sei vom Schweif des Teufels auf Gottes Erde gewedelt. Das Gefühl der Verfinsterung ist für den Gang der Geschichte bezeichnend. Die Übermacht des Bösen überzieht alles wie mit einem Schleier, und der Blick unseres Geistes kann nirgendwo reine Werte finden. Das Verderben der Erde, von dem die Offenbarung des hl. Johannes spricht (vgl. 11,18), schreitet immer fort, der Mensch der Sünde offenbart sich immer deutlicher, das Geheimnis der Bosheit tut sein Werk immer umfassender. Der Antichrist tritt „unter allen möglichen Trugzeichen und Lügenwundern und mit allerlei Verführungen zur Bosheit" (2 Thess 2, 9) auf. Die von Christus erlöste Geschichte will nicht „die Liebe zur Wahrheit" annehmen, darum schickt ihr Gott „einen starken Irrwahn", und sie glaubt dann der Lüge selbst (vgl. 2 Thess 2,12). Sie geht einen Weg, der in den universalen Zusammenbruch unausweichlich einmünden soll. „Das geschichtliche Drama", sagt Solowjew, „ist ausgespielt, übrigbleibt nur ein Epilog. Zwar kann sich der auf fünf Akte, wie bei Ibsen, ausdehnen; es kann auf der Weltbühne noch viel Unsinn geschwätzt und getrieben werden, aber das Drama ist schon lange zu Ende geschrieben, und weder den Zuschauern noch den Schauspielern steht es frei, irgend etwas daran zu ändern." Solowjew versucht, das Wesen des Antichrist „mit einem einzigen und noch dazu überaus simplen Sprichwort" auszudrücken: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt." Der Antichrist hat Glanz genug, aber „wirkliche Kraft keine". Dieser Glanz jedoch blendet die Augen und verführt den Geist. Darin liegt die Stärke jeder antichristlichen Macht. Deshalb ist die genauere Erforschung der antichristlichen Erscheinungen in der geschichtlichen Existenz des Menschen eine immer von neuem gestellte christliche Forderung an jede Epoche. — Diesen trügerischen Glanz bloszulegen und die Fälschungen des Antichrist auf dem Gebiet des gesamten Lebens zu entlarven, ist die Aufgabe der folgenden Kapitel dieser Studie.

Vgl. Wissenschaft und Glauben (litauisch), Kaunas 1930.
Dem Buch Job folgend, hat auch Goethe seinen „Faust" mit dem „Prolog im Himmel" begonnen. Das irdische Schicksal seines Helden ist ebenfalls von der Wette des Mephistopheles mit dem Herrn abhängig gemacht worden.
 Im Hinblick darauf erfüllt auch die heutige Existenzphilosophie eine wahrlich providentielle Aufgabe, indem sie die Auffassung der Dürftigkeit und Hinfälligkeit des menschlichen Daseins ungemein vertieft. Immer mehr wird das existentielle Denken zu einem Ruf de profundis nach der Erlösung aus der „Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit" (M. Heidegger).
 Der Sinn der Geschichte, Tübingen 1949, S. 35—36.
 Der Mythos vom Menschen bedeutet bei Berdjajew einen symbolischen Ausdruck jener Zentralstellung des Menschen, welche dieser im Kosmos einnimmt, denn der Mythos in sich ist nach ihm nicht eine „Illusion des primitiven Intellekts", sondern „eine Erzählung von den Ereignissen und Urphänomenen des geistigen Lebens" (vgl. Philosophie des freien Geistes, Tübingen 1930, S. 89).
 a. a. O. S. 99.
Christus als Person (Logos) ist göttlich, jedoch als Persönlichkeit, d. h. als Objektivation und Entfaltung der Person in der sichtbaren Wirklichkeit, ist er gottmenschlich; denn seine göttliche Person trägt nicht nur die göttliche, sondern zugleich auch die menschliche Natur.
Der Sinn der Geschichte S. 276 
9
a. a. O. S. 279.
10  N. Berdjajew a. a. O. S. 279.
11  Die Frage nach dem Dämonismus in der Natur ist ein sehr breites Problem, das der Untersuchung einiger konkreter Beispiele bedarf, wozu der Rahmen dieser Studie zu eng ist. Etwas davon bietet J. Bernhart in seinem Buch „Chaos und Dämonie" (München 1950). Unter dem Begriff des Dämonischen versteht der Verfasser „göttliche Schatten der Schöpfung". Uns scheint jedoch, daß das Dämonische etwas viel Gespensterhafteres ist als das Ungeschiedene in der elementaren Natur oder das Unentschiedene in dem sittlichen Wesen des Menschen (vgl. S. 25). Was wir als das Dämonische zu bezeichnen pflegen, ist, wie schon M. J. Scheeben mit Nachdruck hervorgehoben hat, eine ruchlose Unternehmung, das Wesen der Göttlichkeit zu unterwühlen (vgl. Scheeben, Die Mysterien des Christentums, Freiburg 1951, S. 221).
12  Der Sinn der Geschichte S. 300.
13  Der Antichrist nach der Lehre der Väter, München 1951, S. 7.
14  Der Ansicht von Duns Scotus nach besteht die Sünde der gefallenen Engel gerade darin, daß sie Dienst und Verehrung dem menschgewordenen Logos schon im voraus verweigerten, als dieses Zentralgeheimnis ihnen von Gott geoffenbart wurde.

ZWEITER ABSCHNITT

Der antichristliche Geist

1.

DIE EIGENLIEBE

D er Antichrist Solowjews war kein Atheist. „Aus dem Bewußtsein der ihm innewohnenden Geisteskraft war er stets überzeugter Spiritualist, und sein klarer Geist wies ihn immer auf die Wahrheit dessen, woran man glauben muß : an das Gute, an Gott und den Messias." Doch daselbst fügt Solowjew hinzu: „Daran glaubte er, aber er liebte nur sich allein." Mit dieser Feststellung hebt Solowjew schon die erste, recht sonderbare Eigenschaft des antichristlichen Geistes hervor: der Glaube und die Liebe, die zwei Grundkräfte des kreatürlichen Daseins, laufen in der antichristlichen Seele auseinander. Da der Antichrist eine starke Auffassungsgabe besaß, konnte er nicht Gott leugnen, denn nur der Tor spricht in seinem Herzen, „es ist kein Gott" (Ps 13, 1). Das Dasein Gottes als Seinsgrund ist jedem vernunftbegabten Geist „seit Erschaffung der Welt durch das Licht der Vernunft an seinen Werken zu erkennen" (Rom 1, 20), so daß keiner berechtigt ist, diese Grundwahrheit zu verneinen oder an ihr zu zweifeln. Und je stärker die Vernunft eines geschaffenen Wesens ist, um so geringer ist die Gefahr des Atheismus. Im Reiche der reinen Geister gibt es überhaupt keine atheistische Einstellung. Selbst die Teufel „glauben und zittern" (Jak 2,19). Doch das eine ist, Gott als Existierenden durch das Licht der Vernunft in seinen Werken zu finden, und das andere, ihn als Person durch das Licht des Herzens anzuerkennen, mit ihm in eine Beziehung zu treten, ihn zu lieben und zu verehren. Solowjews Antichrist verneinte die Existenz Gottes nicht, aber seine Liebe stimmte nicht mit seinem Glauben überein. Der Antichrist liebte nur sich selbst. „Er glaubte an Gott", sagt Solowjew; „aber ohne es zu wollen und ohne sich darüber klar zu sein, zog er in der Tiefe seiner Seele sich ihm vor." Diese Bemerkung ist sehr tiefsinnig. Die hl. Theresia von Avila hat sich einmal über den Teufel geäußert: er liebe nicht. Das ist derselbe Gedanke, den auch der Starez Sossima in seine Tagebücher eingetragen hat: „Ihr Väter und Lehrer, was ist die Hölle? Ich denke, sie ist der Schmerz darüber, daß man nicht mehr lieben kann."1 Damit ist das Tiefste im diabolischen Dasein überhaupt erfaßt. Der Mangel an Liebe zum Schöpfer und zur Schöpfung ist das charakteristischste Kennzeichen des teuflischen Wesens. Der Teufel ist derjenige, der nicht liebt. Dadurch aber, daß er nicht liebt, unterscheidet er sich wesentlich von Gott und wird zu seinem radikalen Verneiner. Der hl. Johannes wird nicht müde, sowohl in seinem Evangelium als auch in seinen Briefen zu wiederholen, daß Gott die Liebe ist, daß die Gottähnlichkeit und der Gottesbesitz nur aus der Liebe entstehen. „Wer nicht liebt, kennt Gott nicht, denn Gott ist die Liebe" (1 Jo 4, 8). Und im Gegenteil: „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm" (4, 16). Die Liebe zu verlieren bedeutet also, Gott zu verlieren. Ein Geschöpf, das nicht liebt, fällt von selbst von der Teilnahme am Göttlichen ab. Mag es an Gott glauben und vor seiner Allmacht zittern, hat es aber keine Liebe, so hat es auch keine Existenzbeziehung zu Gott. Es erlebt ihn nur als den Seinsgrund, dem es seine Entstehung und Erhaltung verdankt, der ihm jedoch keine Person mehr ist, denn eine Person offenbart sich der anderen nur in der Liebe, und die gegenseitigen personalen Beziehungen werden ebensowohl nur von der Liebe getragen und aufrechterhalten. Liebt also der Teufel nicht, so hat er keine personale Beziehung zu Gott, d. h. er hat keine Religion. Gott existiert ihm nur insofern, wie für eine Wirkung ihre Ursache existiert. Doch er bezieht sich nicht zu ihm als zur Person: er schenkt sich ihm nicht, er fragt ihn nicht, er ruft ihn nicht an.

Der Grund dieser radikalen Nichtliebe des Teufels liegt in dessen gleicherweise radikalen Eigenliebe. Der Teufel liebt deshalb nicht, weil er nur sich selbst liebt. Liebe und Eigenliebe schließen einander aus. Die Liebe ist ja ein Überschreiten des eigenen Ich. Wer liebt, stellt sich neben sich selbst, erhebt sich über sich selbst, gibt sein eigenes Leben für die anderen hin. Die Liebe ist wesentlich eine Kraft zum Sein hin. Sie ist ein Ruf nach Erwiderung. Denn sind wir nach dem Bilde Gottes geschaffen, so neigen wir uns von Natur aus zu unserem Schöpfer. Wir suchen in ihm unsere Vollendung, deren Wesen in der völligen und endgültigen Seinsvereinigung mit ihm besteht. Wir sind also in unserer Wesensstruktur selbst bestimmt, nicht in uns selbst zu verbleiben, sondern uns zu überschreiten und in dem anderen zu existieren. Wir verwirklichen uns erst dann, wenn wir uns im Mitsein befinden.

Jedoch wir können uns den Fall vorstellen, daß eine freie Kreatur sich aus ihrem eigenen Willen von dem andern abwendet und ihren Geistesblick nur auf sich selbst richtet. Jener Kraft, von der sie früher zum Sein hingetragen wurde, gibt sie jetzt eine entgegengesetzte Richtung, und zwar die nach ihrem eigenen Ich. Die Liebe verwandelt sich in die Eigenliebe. Was geschieht in diesem Fall? Nichts weniger als die radikale Abkehr vom Sein. Ein nur sich selbst liebendes Wesen ruft nicht nach dem andern und erwartet von ihm auch keine Erwiderung. Sein Dasein verliert die Offenheit und schließt sich zu, weil es kein Mitsein mehr ist. Da aber unsere Gottähnlichkeit uns über uns selbst hinausweist, wirkt die Eigenliebe der Grundtendenz unserer Natur entgegen und zerstört sie bis zu ihrer letzten Tiefe: die Eigenliebe zerstört das Bild Gottes in uns. Indem wir uns allein lieben, existieren wir nicht mehr gemäß unserem göttlichen Urbild. Dadurch aber verneinen wir Gott am entschiedensten. Ist der Mensch einmal ein wirklicher und tiefer Gottloser, so nur im Akt der Selbstliebe, denn hier verwirft er Gott nicht durch seinen Verstand, nicht durch eine rationelle Theorie, sondern durch die wesentliche Richtung seines Daseins selbst. Die Eigenliebe ist der integrale existentielle Atheismus.

Beim Menschen ist derartiger Atheismus eine stets drohende Möglichkeit, beim Teufel ist er zur Wirklichkeit geworden. Dadurch, daß Luzifer seinen Thron über die Sterne erheben und dem Höchsten ähnlich werden wollte, behauptete er seine Unabhängigkeit im Dasein2, verneinte die Liebe als die Kraft zum Sein und trennte sich von Gott und von der Schöpfung ab. Die Eigenliebe vereitelte seine Bestimmung zum Mitsein und machte ihn zum einsamsten Wesen unter allen Gottesgeschöpfen. Das Dasein selbst ist zum Gefängnis des Teufels geworden. Seine Existenz ist nicht mehr ein Dialog, sondern ein ununterbrochener Monolog, eine Rede nur zu sich selbst. Kein Ruf nach dem Sein erklingt aus teuflischem Dasein. Der Teufel weiß vom Dasein Gottes viel mehr als eine andere Kreatur, doch durch die Richtung seiner Existenz lehnt er Gott so schroff ab, wie es kein anderer Atheist tun könnte. Der Teufel ist ein integraler Atheist, weil er ein integraler Egoist ist.

In diesem Zusammenhang gewinnt Solowjews Bemerkung, der Antichrist „liebte nur sich allein", eine aufschlußreiche Bedeutung. Sie erklärt uns, warum dieser Mensch, trotz seines Glaubens an das Gute, an Gott und sogar an den Messias, zum Mitarbeiter und Diener des Teufels wurde. Seine Eigenliebe riß ihn los von Gott und warf ihn in die Existenzweise desjenigen, der sich ebenso von Gott losgesagt hat. Damit wurde die gemeinsame Basis geschaffen, auf welcher der Antichrist mit dem Teufel zusammentraf und auf der er von diesem die Unterstützung für seine Pläne und Absichten erhielt. Solowjew erzählt, der Antichrist „glaubte an das Gute, doch das alles sehende Auge der Ewigkeit wußte, daß dieser Mensch sich vor der Macht des Bösen beugen wird". An das Gute zu glauben bedeutet ja nichts anderes, als die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie in sich selbst ist, denn sie ist im Wesen doch gut: „Heilbringend sind der Welt Geschöpfe, und ein verderblich Gift ist nicht in ihnen" (Weish 1,14). Sich aber vor der Macht des Guten beugen heißt gut werden, und gut werden heißt ja sich den andern opfern, denn das Gute erweitert sich und geht aus sich hinaus — „diffusivum sui" (St. Thomas). Das Gute in der Person ist die Liebe. Sich dem Guten beugen heißt letztlich lieben. Das kann nur der Mensch, der dem Sein zugewandt ist, nicht aber der Antichrist, der sich allein liebt und daher dem Sein abgewandt bleibt. Der Antichrist beugt sich vor der Macht des Bösen nicht deshalb, weil er schwach wäre, sondern weil sein von der Eigenliebe getragenes und gelenktes Dasein sich unter der Macht des Bösen vollendet. Das Böse leistet ihm für die totale Abkehr vom Sein Gewähr und hilft ihm dadurch, sich in seinem Selbst endgültig einzunisten. Daher wird jeder nur sich selbst liebende Geist unausweichlich zum Mitarbeiter des Teufels in der Geschichte. Er führt, selbst ohne es zu wissen, dessen Absichten aus. Die Eigenliebe ist der eigentliche Weg des Teufels ins menschliche Dasein.

Infolgedessen ist der Kampf gegen die Eigenliebe nicht nur eine asketische Forderung, sondern zugleich eine geschichtstheologische Aufgabe des Menschen. Es ist der Kampf gegen den Antichrist in uns selbst. Anderseits ist dieser Kampf gleichzeitig die Verteidigung unserer Daseinsrichtung auf Gott hin, die sich konkret durch die Liebe ausdrückt und uns gottähnlich macht. Es versteht sich deshalb von selbst, warum die Selbstverleugnung das Erste war, das Christus der Menschheit verkündigte. Die Grundidee der Ethik Jesu besteht gerade in der Lehre, unseren Geistesblick auf den andern — auf Gott und den Nächsten — zu richten. Uns selbst sollen wir vergessen, verbergen, im Liebesdienst für den andern aufgehen lassen, denn nur damit können wir unser Leben im höheren Sinne wiedergewinnen. Die Eigenliebe ist die größte Versuchung und somit die größte Gefahr für die menschliche Existenz. Gerade deshalb lenkt Christus unsere Aufmerksamkeit auf ihre konkreten Erscheinungen und schärft un-sern Blick, damit wir diese tief erfassen und richtig bewerten können, denn die Eigenliebe ist der Liebe ähnlich, wie das Tier dem Lamm ähnlich ist (vgl. Offb 13, 11). Sie versteckt sich unter der Gerechtigkeit, den Liebeswerken, dem Fasten, sogar unter dem Gebet. Sie will sich durch die Notwendigkeit des Lebens und Wirkens, des Erziehens und Pflegens, des Ordnens und Waltens rechtfertigen. Der Antichrist Solowjews war ja auch enthaltsam, wohltätig und asketisch. Er war ein Mann „von untadeliger Sittlichkeit". Doch liebte er weder Gott noch den Nächsten, und somit verletzte er das größte Gebot, auf dem „das ganze Gesetz und die Propheten" ruhen (Mt 22, 40). In der Bergpredigt wollte uns Christus gerade diese Illusionen und Trugbilder der Eigenliebe bloßlegen,. Der Selbstliebe stellte Christus die Selbstverleugnung entgegen als die einzige Förderung des Göttlichen in uns und als das Grundmittel im Kampf gegen die antichristlichen Anmaßungen. Die Selbstverleugnung ist eine religiöse Kraft ihrem Wesen nach. Sie ist die Wieder-Herstellung der Gottähnlichkeit im Menschen. Daher leistet nur der sich selbst verleugnende Mensch erfolgreichen Widerstand gegen die antichristlichen Mächte in der Geschichte, weil er den Weg des göttlichen Logos geht, der Knechtsgestalt annahm und sich selbst erniedrigte (vgl. Phil 2, 7—8).

Der konkrete Ausdruck der Selbstverleugnung ist das Liebes-werk. Besteht die Liebe, wie gesagt, in der Kraft zum Sein hin, so neigt sich der liebende Mensch von selbst zum andern, sorgt sich um ihn und hilft ihm. Die Selbstverleugnung erscheint im Alltag als die christliche Caritas. Diese ist aber viel mehr als nur eine äußerliche Tat, als nur eine sichtbare Hilfe für den Bedürftigen. Die christliche Caritas ist gleichzeitig auch ein tiefes Erleben des Nächsten als eines Tätigkeitsfeldes, auf dem sich unser Dasein selbst erfüllt. Eine äußere Hilfe kann man leisten nicht nur aus Liebe, sondern ebensogut auch aus Eigenliebe. Gerade der Antichrist Solowjews ist solch ein nur sich selbst liebender Wohltäter. Er will zwar jedem geben, was er braucht. Er will die verteilende Gerechtigkeit in der Welt walten lassen. Er verwirklicht in der Tat, wie wir später sehen werden, den universalen Wohlstand. Doch all dies tut er nicht deshalb, weil er die Menschen für seine Brüder im Herrn hält und sie als den ihm von Gott geschenkten Raum für die Entfaltung seines Daseins betrachtet, sondern bloß deshalb, weil die durch seine Wohltätigkeit verlockte Menschheit vor ihm auf die Knie fällt, ihm dafür dankt, ihn verehrt und ihn als ihren einzigen Führer und Beschützer erklärt. Die Befriedigung der Eigenliebe ist das Grundmotiv der antichristlichen Wohltätigkeit. Der Antichrist fühlt, daß er sich durch seine ,Liebeswerke' über die Menschen erheben und sie beherrschen kann. Infolgedessen überwindet derartige Wohltätigkeit die Eigenliebe nicht. Im Gegenteil, sie verstärkt diese sogar, denn sie macht den Nächsten zum Sklaven des Wohltäters. Erst dann, wenn unser Nächster als ein über uns Stehender, als unsere eigene Berufung, als Träger desselben göttlichen Urbildes erlebt wird, kann unsere äußere Hilfe als wahre christliche Caritas bezeichnet werden. Die christliche Caritas ist der Dienst am Nächsten, die antichristliche Wohltätigkeit ist die Herrschaft über den Nächsten. Deshalb ist es eine der geschichtlichen Aufgaben des Christen, den Antichrist als Wohltäter zu entlarven und den Sinn seiner ,Liebeswerke' bloßzulegen. In der Trennung des Menschen vom Schöpfer und von der Schöpfung zeigt sich die Eigenliebe nur von einer Seite: vom Subjekt her, das sich vom Sein abwendet und sich in sidi selbst verschließt. Die weitere Entwicklung dieses seltsamen Gefühls offenbart es uns jedoch auch vom Objekt her. Die Eigenliebe erschöpft sich in der einfachen Abkehr vom Sein durchaus nicht. Sie wendet sich diesem leidenschaftlich wieder zu, nicht aber um es zu hüten und zu vervollkommnen, sondern um es zu verderben und zu vernichten. Die Liebe zu seinem eigenen leb ist nur die Kehrseite des Hasses zum Sein. Der hl. Johannes schreibt in seinem ersten Briefe: „Wer nicht liebt, bleibt im Tode" (1 Jo 3, 15). Damit will er sagen, daß Nichtliebe und Tod wesentlich miteinander zusammenhängen. Wendet sich der Mensch vom Sein ab, so verneint er allerdings die Liebe, aber nur psychologisch. Ontologisch sie zu vernichten, vermag er nicht, denn die Liebe als göttliche Bestimmung des Menschen zum Mitsein liegt seinem Wesen selbst zugrunde. Sie bleibt in seiner Tiefe sogar während seiner üppigsten Eigenliebe bestehen und zeigt sich durch die Stimme des Gewissens als eine beständig lebendige Kraft, die den Menschen zur Wiederherstellung des verneinten Mitseins zwingt. Jeder nur sich selbst liebende Mensch lebt also in einer großen Spannung zwischen dem eigenen Ich und dem objektiven Sein. Ein jedes Zusammentreffen mit Personen und Sachen erinnert ihn an die verlorene Richtung seines Daseins und läßt ihn nie sich in seinem negativen Verhalten ruhig einrichten. Aus dieser Spannung und Unruhe entsteht dann ein tiefer Haß gegen alles, was das menschliche Ich in seinem freiwilligen Gefängnis aufwiegelt. Der nur sich selbst liebende Mensch beginnt, das Sein nicht mehr zu ertragen, und wünscht, wie Goethes Mephistopheles, daß alles zugrunde geht. Dann wird er von niemand und keinem zum Sein zurückgerufen, dann kann er nur für sich selbst sorgen und nur für sich selbst existieren. Die Vernichtung ist folgerichtige Objektivation des Hasses. In diesem Zusammenhang versteht man die Worte des hl. Johannes: „Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Mörder" (1 Jo 4, 15). Körperlich muß er ihn nicht unbedingt töten, geistig aber wünscht er ihm das Nichtsein überhaupt. Der mörderische Gedanke liegt jeder Eigenliebe zugrunde. Die körperliche Vernichtung ist nur eine logische Folge dieses inneren geistigen Mordes. Deswegen: „Wer nicht liebt, bleibt im Tode", nicht nur in dem Sinne, daß er selbst das ewige Leben nicht in sich behält (vgl. 1 Jo 3, 16), sondern auch weil er den anderen in den Tod schickt. Das In-den-Tod-Schicken ist die eigentliche Daseinsweise jedes nur sich selbst liebenden Geschöpfes.

Ist es deshalb zu verwundern, daß der Antichrist Solowjews ebensowohl ein Mörder, ja ein Massenmörder war? Nachdem er zur Weltherrschaft gelangt war, unterjochte er alle Völker der Erde, allerdings „ohne viel Blutvergießen", ließ den Papst Petrus II. und den Starez Johannes töten; endlich verordnete er, „alle ungehorsamen Juden und Christen zu töten", wobei „viele Tausende und Zehntausende" schonungslos hingemordet wurden. Dies ist nun keine persönliche und zufällige Tat des .Übermenschen' des 21. Jahrhunderts. Es ist das Kennzeichen der antichristlichen Mächte aller Jahrhunderte, denn der Teufel „war von Anfang an ein Menschenmörder" (Jo 8, 44). Er ist der eigentliche Erfinder des Todes, denn „Gott hat den Tod nicht geschaffen und hat keine Freude am Verderben der Lebenden" (Weish 1, 13). Die Vernichtung des Lebens ist das deutliche Zeichen der durch dämonische Mächte unterjochten und verdorbenen Erde. Wo immer das Sein zerstört wird, wo der Mensch dem Menschen Wolf ist, wo Kinder ihre Eltern verraten, überall dort waltet der Antichrist und baut sein Reich auf die Grabhügel der Ermordeten. Macht man die Eigenliebe zur Grundlage des Daseins, so watet man bald im Blute des Bruders. Die Eigenliebe ist also das anthropologische Merkmal des antichristlichen Geistes. Sie ist das Zeichen, das die Anbeter des Tieres „an ihrer rechten Hand oder auf ihrer Stirn anbringen" (Offb 13,16), d. h. mit dem sie ihre Werke und ihre Gedanken bezeichnen. Erkennt man die Jünger Christi daran, daß sie Liebe zueinander haben (vgl. Jo 13, 35), so zeichnen sich die Anhänger des Antichrist gerade dadurch aus, daß sie ihr Dasein nach den Gesetzen der Eigenliebe gestalten. Die Entfaltung des antichristlichen Geistes in Raum und Zeit ist im Wesen nichts anderes als die Objektivation der Eigenliebe in der Geschichte.

2.

DIE EINSTELLUNG ZU CHRISTUS

Die Eigenliebe bestimmt nicht nur die Einstellung des Menschen zum Schöpfer und zur Schöpfung im allgemeinen, sondern auch die zu Christus im besonderen. Der Antichrist Solowjews glaubte, wie gesagt, an den Messias. Mehr noch: er wollte sogar der Religion Christi zu ihrer Stellung in der Welt verhelfen, indem er die aus Rom verbannten Päpste auf ihren alten Thron zurücksetzte und indem er ein Weltmuseum für christliche Archäologie und ein Weltinstitut für die Förderung der biblischen Wissenschaften gründete. Er wollte ebenso die Spaltung der Christenheit überwinden und somit das heiße Gebet Jesu, „auf daß sie eins seien" (Jo 17, 11), erfüllen. Um dies zu erreichen, ließ er ein Weltkonzil zusammenrufen und trat vor ihm als der Verteidiger des Teuersten am Christentum auf. Angesichts dieser Angebote und Bemühungen zögerte die Mehrheit der Konzilsmitglieder nicht, den Weltherrscher als ihren einzigen Führer und Beschützer anzuerkennen. Den eigentlichen Sinn der Angebote des Antichrist werden wir später untersuchen. An dieser Stelle weisen wir auf sie nur insofern hin, als sie scheinbar eine positive Einstellung des antichristlichen Geistes zu Christus darstellen und viele Christen aller Jahrhunderte gerade deswegen irreführen. Durch die Angebote und Bemühungen des Antichrist betört, bekennen sich leichtgläubige Christen zu ihm, ohne an ihn die wesentliche Frage nach seiner Einstellung zu Christus zu richten. Mag auch der Antichrist die Kirche mit noch so vielen irdischen Rechten, Privilegien und Gütern ausstatten, solange er die Christusfrage nicht eindeutig beantwortet, ist er kein Förderer und Beschützer der Religion. Wohl braucht die Kirche eine gewisse irdische Stütze, um ihre überirdische Sendung erfüllen zu können, weil sie in der Welt wirkt und deshalb in ihrer Tätigkeit von der Struktur unserer konkreten Wirklichkeit abhängig ist. Im Wesen aber ist die Kirche nicht von dieser Welt, und daher vermag kein irdisches Gesdienk ihre Natur zu bereichern. Nur der Heilige Geist bereichert die Kirche, indem er die göttliche Offenbarung tiefer erschließt, mehr heilige Personen in den Weingarten Christi ruft und sinnvolle Kultformen entstehen läßt. Lehnt also jemand es ab, die Christusfrage klar zu beantworten, so verwirft er damit von selbst die übernatürliche Leitung der Kirche und verneint dadurch ihr Wesen. Die Einstellung zu Christus ist daher der einzige Maßstab, um jede Einstellung zur Religion und zur Kirche richtig zu erfassen und zu bewerten.

Trotz seines Glaubens an den Messias und seiner überreichen Geschenke an die Kirche blieb die Einstellung des Solowjew-schen Antichrist zu Christus recht sonderbar. Die Mehrheit aller drei christlichen Konfessionen am Weltkonzil — die der Katholiken, der Orthodoxen und der Protestanten — folgte der Einladung des Kaisers und begab sich zu ihm auf die Estrade, wo leere Sesselreihen für sie bereitstanden. Jedoch kleine Scharen blieben trotz allem im Konzilssaal sitzen. Die obersten Führer der Christenheit — Papst Petrus II., Starez Johannes und Professor Pauli — antworteten nichts auf das Angebot des Weltherrschers. Bevor sie die verlockende Unterstützung für die Kirche annahmen, wollten sie dem Kaiser jene entscheidende Christusfrage stellen und seine Antwort vernehmen. Als der Kaiser also diese „seltsamen Leute", die von ihren Brüdern und Führern verlassen und „durch das gesunde Volksempfinden" verurteilt waren3, fragte, was er noch für sie tun könnte und was ihnen „das Teuerste am Christentum" wäre, erhob sich der Starez Johannes „wie eine weiße Kerze" und antwortete: „Großer Herrscher! Das Teuerste am Christentum ist für uns Christus selbst — er selbst und alles, was von ihm kommt... Bekenne jetzt und hier vor uns Jesus Christus, den Sohn Gottes, erschienen im Fleische, auferstanden und wiederkommend — bekenne ihn, und voller Liebe werden wir dich aufnehmen als den wahren Vorläufer seiner herrlichen Wiederkunft." Doch darauf folgte ein tiefes Schweigen. Dem Kaiser widerfuhr „etwas Widerwärtiges; in ihm erhob sich ein so höllischer Sturm wie in jener schicksalsvollen Nacht", als er sich von der Felswand in den Abgrund stürzen wollte. „Er machte übermenschliche Anstrengungen, um sich nicht mit wildem Geheul auf den Sprechenden zu stürzen und mit den bloßen Zähnen über ihn herzufallen." Und erst nachdem der von Apollonius, dem falschen Propheten und Wundertäter des Antichrist, geschleuderte Kugelblitz den Starez Johannes getötet hatte, gewann der Kaiser wieder seine Ruhe, aus der ihn die Frage des Orthodoxenführers so unerwartet gebracht hatte. Doch warum? Warum verwirrte den Weltherrscher die Frage nach Christus, die ja eine beständige Frage der Kirche ist?

Wenn Solowjew in seiner Erzählung behauptet, der Antichrist glaube nicht nur an das Gute und an Gott, sondern auch an den Messias, so will er damit unterstreichen, daß die Anerkennung der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu von Nazareth noch keine Antwort auf die Christusfrage ist. Der durch die Feder von Renan und Strauß ausgelöste Sturm, der sich kühn anschickte, die Geschichtlichkeit Jesu hinwegzufegen, war lediglich eine vorübergehende Erscheinung. Nicht aus der richtigen Quellenforschung, sondern aus einer mythologisierenden Geschichtsauffassung geboren, legte er sich bald, so daß im 21. Jahrhundert sogar der Antichrist selbst „Jesus nicht feindlich gegenüberstand". Wollte aber der Starez Johannes nur soviel erfahren? Sollte die Anerkennung der Geschichtlichkeit Jesu die fragende Kirche befriedigen? Weit entfernt davon! Die Frage des Starez Johannes ist die Frage nach dem ganzen Christus. Die Geschichtlichkeit Jesu von Nazareth konnte der Weltkaiser ruhig bekennen, denn „er erkannte seine messianische Bedeutung und Würde an". Doch wer war diese geschichtliche Persönlichkeit, die unter Pontius Pilatus wirkte, litt und starb? War sie nur Marias und Josephs Sohn oder der fleischgewordene Logos? Ein vergänglicher Aufrührer in der Geschichte Israels oder — Offb 22, 14 — „der Anfang und das Ende" der Weltgeschichte? Gerade das wollte der Starez Johannes und mit ihm die ganze christustreue Menschheit vom Weltherrscher hören. Was konnte also der Kaiser darauf erwidern?

Solowjew gibt zwar zu, daß der Antichrist die messianische Bedeutung Christi anerkannte, fügt jedoch sogleich an: „Aber im Grunde sah er in ihm nur seinen größten Vorgänger; die sittliche Tat Christi und seine absolute Einzigartigkeit waren diesem durch Eigenliebe verfinsterten Geiste unverständlich. Er urteilte so: Christus ist vor mir gekommen; ich erscheine als Zweiter; nun ist aber das, was in der Ordnung der Zeit später erscheint, dem Wesen nach der Erste. Ich komme als letzter, am Ende der Geschichte, eben weil ich der vollkommene, endgültige Erlöser bin. Jener Christus war mein Vorläufer. Seine Aufgabe war, mein Erscheinen vorherzuverkünden und vorzubereiten." Mit anderen Worten: der antichristliche Geist erkennt die Geschichtlichkeit Jesu an, hält ihn aber nur für einen Vorgänger. Im Wesen ist es durchaus belanglos, wessen Vorgänger Christus sein solle. Der Antichrist Solowjews hält ihn für den Vorläufer seiner selbst, denn er bildet sich ein, „daß Gott ein besonderes Wohlgefallen an ihm habe" und daß er der richtige Sohn Gottes sei. Unser Zeitalter neigt immer mehr dazu, Christus für den Vorgänger der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung zu halten. Er soll Grundlagen für die Demokratie, das Sozialleben, den Frieden, die Moral geschaffen haben. Er soll der erste Vorkämpfer für Menschenrechte, der erste Sozialreformator, der erste Pazifist und Demokrat, ja sogar der erste Kommunist gewesen sein. Christus wird heute als Vorläufer der gegenwärtigen Entwicklung der Welt gefeiert. In diesem Sinne war Solowjew wirklich ein Hellseher, als er die Idee des Vorgängers der antichristlichen Einstellung zu Christus zugrunde legte. In fünfzig Jahren verbreitete sich diese Idee und beherrschte das Bewußtsein des modernen Menschen. Die Einstellung des Solowjewschen Antichrist ist bereits die unseres Jahrhunderts geworden.

Worin besteht das Wesen dieser Idee? — Was der Vorläufer seiner Natur nach ist, enthüllte uns der hl. Johannes der Täufer, als er auf seine eigene Beziehung zu Christus hinwies. Als Christus, nachdem er sich von Johannes hatte taufen lassen, in Palästina zu wirken anfing, verließen die Leute Johannes und gingen zu Jesus von Nazareth. Da machten sich die Jünger des Täufers Sorgen, denn sie sahen, wie unausweichlich sich die Wirkung ihres Meisters dem Ende näherte. Sie kamen deshalb zu Johannes und klagten ihm ihr Leid: „Der jenseits des Jordans bei dir war und dem du Zeugnis gabst, der tauft, und alle kommen zu ihm" (Jo 3, 26). Johannes aber grämte sich darüber gar nicht. Im Gegenteil, er freute sich dieses sinnvollen Ereignisses, weil er gerade darin die Erfüllung und den Abschluß seiner Sendung sah. Er war doch nicht der Messias, sondern nur sein Herold, sein Wegbereiter. Gehen also die Leute zu Jesus, so ist dies eben ein Zeichen, daß die Pfade zum Messias bereits geebnet sind und die Stimme des Verkünders Widerhall gefunden hat. Wie der Freund des Bräutigams an dessen Freude teilnimmt, so freut sich auch der Vorgänger über den Erfolg desjenigen, der nach ihm kommt. „So ist auch meine Freude jetzt vollkommen", antwortete Johannes seinen Jüngern und fügte hinzu: „Er muß wachsen und ich abnehmen" (Jo 3, 30).

Diese Worte drücken das eigentliche Wesen jedes Vorgängers aus. Der Vorgänger ist Verkünder des Kommenden, nicht aber das Kommende selbst. Er schafft die künftige Wirklichkeit nicht, er verkündet sie nur, weist auf sie hin, läuft ihr nur vor. Er ist nicht das Licht, sondern er soll nur vom Lichte Zeugnis geben (vgl. Jo 1, 8). Der Vorgänger ist nur das Zeichen des Kommenden, sein Symbol, sein Ruf. Er tauft nur mit dem Wasser, d. h. mit einem Element, das zwar reinigt, aber keinen Bestand hat. Aufgabe des Vorgängers ist es, in der von ihm selbst angekündigten Wirklichkeit aufzugehen und nur auf diese Weise weiterzuleben. Das ist sein Sinn und zugleich auch sein natürliches Ende. Der Vorgänger ist von Natur aus unselbständig und vergänglich. Ein ewiger und selbständiger Vorgänger ist ein Widerspruch in sich.

Ist daher Christus nur ein Vorgänger, so ist er bereits in der Geschichte aufgegangen und lebt nur noch als einer ihrer Bestandteile weiter. Zwar verkündete er ein neues Zeitalter, dennoch schuf er selbst es nicht: er hat es nur eingeleitet. Zwar legte er die Fundamente für den Bau des neuen Lebens, doch den Bau selbst errichteten schon die anderen. Deshalb kann Christus als Vorgänger nur aus dem gesamten Prozeß der zweitausendjährigen Geschichte verstanden und gedeutet werden. Er leuchtet nicht von selbst, sondern wird von der Höhe der gegenwärtigen Kultur beleuchtet. Die Kultur war jenes Stärkere, dem Christus einen Weg ebnete, die ihn aber überholte und in sich eingliederte. Ist Christus nur ein Vorgänger, so bildet er nur eine Zelle — sei diese auch die Grundzelle — im Wachstum des weltgeschichtlichen Baumes. Er enthält in sich nicht den ganzen historischen Prozeß. Er ist nur der Beginnende, nicht der Abschließende; das Alpha, nicht das Omega, denn der Abschluß ist nie die Sache des Vorgängers. Der antichristliche Geist gibt leicht zu, Christus stehe wohl am Anfang, wie auch das römische Recht, die Medizin des Hippokrates, die arabische Mathematik, die Strategie Hannibals am Anfang stehen. All diese Ideen sind ja ebenfalls heute noch lebendig, wenn auch bereits in höhere Ganzheiten aufgenommen. Diese Ganzheiten aber sind schon Schöpfungen der gesamten historischen Entwicklung. So ist es auch mit Christus, wenn er nur ein Vorgänger ist. Wohl liegen seine Ideen unserer Kultur zugrunde: ohne die Grundsätze Christi können wir unsere Epoche weder verstehen noch bewerten. Doch Gegenwart selbst ist im Wesen etwas anderes als Christus und sein Evangelium. Die Gegenwart ist jenes Stärkere, das nach Christus kam. Die geschichtliche Entwicklung wuchs, Christus aber nahm ständig ab. — Diese Folgerungen zieht man von selbst und unbedingt deshalb, weil die Idee des Vorgängers auf der Verneinung Christi als Letzten beruht.

Gewiß entwickelt sich das Werk Christi ebensowohl in der Geschichte. Darauf wies Christus selbst hin, als er das Himmelreich mit einem Senfkorn verglich, das zwar „das kleinste unter allen Samenkörnern" ist, aus dem aber ein Baum wird, so daß „die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen wohnen" (Mt 13, 32). Und dennoch folgt diese Entwicklung nicht den Gesetzen des natürlichen Verlaufs der Geschichte, sondern sie geht die vom Heiligen Geist von vornherein vorgeschriebene Bahn. Wie das Samenkorn, in die Erde gesät, lebt und wächst nicht durch die Gestaltung des Bodens, sondern durch die Lebenskraft seiner eigenen Natur, so ist das gleiche auch mit der Kirche Christi. Die Erde gibt dem Samen nur den Stoff, dessen dieser zu seiner Sichtbarkeit bedarf. Sie ist nur eine anregende Umwelt, welche die Lebenskraft des Samens in Tätigkeit zu treten veranlaßt. Das gleiche wiederholt sich auch bei der Geschichte in ihrer Beziehung auf die Kirche. Die Geschichte ist nur die Bühne, auf der das Drama der Erlösung vor sich geht. Sie ist nur der Boden, in den das Samenkorn Christi fällt. Sei dieser steinig oder dürr, dornig oder auch fruchtbar, das Samenkorn selbst fällt in jedem Fall von oben herunter. Es ist nicht ein Produkt des Weges, des Felsens, der Dornen, ja auch der guten Erde nicht. Es ist nicht von hier, es ist eine andere und höhere Wirklichkeit. Der Samen ist ein Symbol der übernatürlichen Herkunft der Kirche, gleichzeitig aber auch ein Hinweis auf die organische Ganzheit des Himmelreiches. Der Samen ist kein Vorgänger des Baumes: es ist der Baum selbst in seinem latenten Zustand. In ihm liegt schon der ganze Organismus mit all seiner Zukunft. Der Baum ist nichts anderes als die sichtbare Entfaltung der unsichtbaren, aber durchaus vorhandenen Möglichkeiten des Keimes.

Aus diesem Grund hat Christus sein Reich nicht mit einem Kulturwerk, zum Beispiel mit dem Römischen Imperium, verglichen, das sich, vom legendären Romulus begründet, in der jahrhundertelangen Geschichte ebenso entwickelte und zu einem höchst gegliederten Gebilde ward. Nein, er verglich es mit einem Senfkorn, mit dem Sauerteig, d. h. mit solchen Elementen, die sich durch ihre eigene Kraft entfalten und dadurch ihre Umgebung assimilieren, um diese nach sich zu verwandeln. Kulturwerke wachsen nicht wie Samen, denn sie sind bereits in sich abgeschlossen. Kulturwerke entwickeln sich nur durch ihre immerwährende Neuschöpfung. Im Kulturprozeß gibt es keine onto-logische Identität und daher auch keine organische Kontinuität. Die echte Identität des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen besteht nur in der Natur und in der Übernatur. Das Gesetz des lebendigen Wachstums, nicht aber das des Neuschaffens beherrscht alle beiden. Infolgedessen entfaltet sich auch das Reich Christi nicht auf die Art und Weise der Kultur, d. h., es wird nicht jedesmal im Laufe der Zeit erschaffen, sondern es wächst nach den Gesetzen des Samenkorns, d. h., es wirkt in ihm ewig dieselbe innere Kraft. Das Reich Christi ist nicht von Christus selbst verschieden, wie das Römische Imperium von Romulus, Augustus, Cäsar, Julian, die es gestalteten und verteidigten. Das Reich Christi ist Christus selbst. Es besteht im Fließen der Dinge nicht durch Petrus, Sixtus, Leo oder Pius, sondern durch denselben Christus, der es durch seine Menschwerdung begründet hat und durch seine persönliche Präsenz vom Vergehen beständig errettet. Wohl sind Päpste und Bischöfe Vertreter Christi auf Erden. Doch sie sind nur Vertreter, nicht selbständige Schöpfer. Ihre Aufgabe ist, das Senfkorn Christi zu pflanzen und zu begießen, nicht aber neue Samen nach ihrem eigenen Ermessen zu säen. Sie sind Mitwirkende an der geschichtlichen Entfaltung der Präsenz Christi. Die christliche Religion ist angefüllt mit dieser Präsenz in ihrer Lehre, in ihrer Verwaltung, in ihren Sakramenten. Christus ist es, der lehrt, regiert und heiligt. Durch diese persönliche Präsenz Christi unterscheidet sich die Kirche von jedem menschlichen Werke. Kein Schöpfer der Kulturwerke lebt in ihnen persönlich weiter. Sie tragen zwar seinen Charakter, seine Erlebnisse, Gefühle, Ideen, sogar seine Weltanschauung, immer aber nur auf symbolische, zeichenhafte, figurative Weise. Das Kulturwerk deutet auf seinen Urheber hin, es enthält ihn aber nicht. Es gibt keine reale Präsenz der Person in menschlichen Schöpfungen. Indessen ist die Kirche die persönliche Wirklichkeit Christi. Es gibt keine höhere Ganzheit, in welche die Kirche aufgenommen und nach deren Gesetzen sie geleitet würde. Christus selbst ist hier der Beginnende, Führende und Abschließende. Er ist kein Vorgänger dieser geschichtlichen, von außen so kompliziert aussehenden Realität, die wir Kirche nennen: er ist ihr Haupt, und die Kirche ist sein Leib. Daher Christus für einen Vorgänger halten heißt die Kirchenentwicklung im Prozeß der Weltgeschichte aufgehen lassen. Die Idee des Vorgängers birgt in sich eine Verweltlichung des Kirchenbegriffs. Die Kirche wird hier auf dieselbe Ebene mit den menschlichen Kulturwerken gestellt und für eine rein menschliche Schöpfung gehalten. Ist aber die Kirche nur weltlich, so ist auch Christus nur ein Mensch. Bildet die Entwicklung der Kirche nur einen Teil des gesamten Weltprozesses, so ist auch die Tat Christi darin aufgegangen. In diesem Sinne ist die Idee des Vorgängers eine deutliche Verneinung der Göttlichkeit Christi. Vorgänger zu sein, ist die wesentliche Berufung des Menschen. Gott ist nie und nimmer Vorgänger. Gott ist der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende, das Alpha und das Omega. Auch geschichtlich betrachtet ist er das Ganze. Hält man also Christus nur für einen Vorgänger, so zerstört man von selbst seine gottmenschliche Ganzheit. Wohl bleibt er auch dann ein Genius, ein Prophet, ein Heiliger, aber doch nur ein Mensch unter Millionen anderen Menschen. Er hat gewiß in Palästina zur Zeit „des He-rodes, des Königs von Judäa" (Lk 1, 5), gelebt und gewirkt. Er hat erstaunlich hohe sittliche Lehren hinterlassen. Doch sein persönliches Leben hat ein Ende genommen. In der Geschichte lebt er nur in seinem Werke weiter wie auch alle anderen geschichtlichen Persönlichkeiten. Die Verneinung der Göttlichkeit Christi ist eine logische Folgerung aus der Idee des Vorgängers. Der antichristliche Geist bedient sich dieser Idee als des erfolgreichsten Mittels, um den Blick des Menschen von der gottmenschlichen Fülle Christi abzulenken und ihn somit im Wesen zu verneinen. Die Idee des Vorgängers ist die moderne Ausdrucksweise, in der sich die Einstellung des Antichrist zu Christus konkret offenbart. Solowjew hat die Bedeutung dieser Idee für die zukünftige Entscheidung der Menschheit im Hinblick auf Christus tief erkannt und sie deswegen der antichristlichen ,Christo-logie' zugrunde gelegt.

Wenn auch der Antichrist sich überzeugt hatte, daß er und nicht Christus der Letzte sei, so beruhigte er sich dabei trotzdem nicht. Die scheinbare Gültigkeit des Satzes: „Was in der Ordnung der Zeit später erscheint, ist das Erste dem Wesen nach", stellte sein Inneres noch nicht vollkommen zufrieden. Nachdem er dreiunddreißig Jahre lang auf eine höhere Bestätigung dieser Überzeugung vergebens gewartet hatte, blitzte plötzlich der Gedanke in ihm auf: „Wenn nun nicht ich, sondern dieser . .. Galiläer .. . Wenn er nun doch nicht mein Vorgänger, sondern der Wirkliche, der Erste und der Letzte wäre?" — In welchem Fall aber könnte Christus der Anfang und das Ende sein? Selbstverständlich nur dann, wenn er gegenwärtig ist, wenn seine Existenz dauert, doch nicht nur als eine geschichtliche Erinnerung oder als ein objektives Werk, sondern persönlich. Nur durch die eigene Person kann Christus der Erste und der Letzte, das Alpha und das Omega sein, nur wenn er lebt, wenn sein Tod am Kreuze lediglich ein Übergang war, nicht aber etwas Endgültiges und Unwiderrufliches. Anders gesagt: Christus ist der Anfang und das Ende nur dann, wenn er auferstanden ist. Ist er nicht auferstanden, so lebt er durch seine persönliche Präsenz in der Kirche nicht, so ist dann auch die Kirche nur eine geschichtliche Entfaltung der Erinnerung an Christus, nicht aber Christi selbst. Hat dagegen Christus den Tod besiegt, ist er auferstanden, so ist sein Wirken in der Geschichte nicht nur eine Erinnerung, nicht nur ein symbolischer Hinweis auf die vergangene Existenz, sondern diese Existenz selbst, und zwar in ihrer persönlichen Daseinsweise. Die Auferstehung ist das Zeichen, aus dem sich erkennen läßt, wer eigentlich Christus war: nur ein Vorläufer oder der Erste und der Letzte.

Das sah auch Solowjews Antichrist deutlich ein. Indem er nach dem Grund seines Zweifels, Christus sei vielleicht doch der Wirkliche, forschte, schloß er folgerichtig daraus: „Aber dann müßte er ja leben." Und im Nu begriff er, wodurch er sich von diesem quälenden Zweifel für immer befreien kann. „Er ist nicht unter den Lebenden, ist es nicht und wird es nicht sein! Er ist nicht auferstanden, ist nicht auferstanden, ist nicht auferstanden! Verfault, verfault ist er im Grab, verfault wie die letzte ..." — rief er in Wut und Haß. Die Verneinung der Auferstehung sollte also den antichristlichen Geist von dem Sichbeugen vor Christus befreien. Sie sollte es dem „lichten Genius" ermög-liehen, seinen eigenen übermenschlichen Weg zu gehen, ohne den Galiläer anzubeten und bei ihm um Gnade zu flehen. Ist Christus zu Staub geworden und hat er das Los der letzten Kreatur geteilt, so konnte er nur ein Herold der universalen Erlösung vom Tode sein, nicht aber der Erlöser selbst. Jeder, der nach ihm kommt, hat deshalb das Recht, zu glaubender sei vielleicht doch der richtige Befreier der Menschheit und stehe daher über Jesus von Nazareth, der zwar auf die Befreiung hinwies, sie jedoch nicht vollbrachte. Die Verneinung der Auferstehung ist also die radikalste Leugnung der Göttlichkeit Christi. Darum griff der Antichrist Solowjews diesen Gedanken auf und verneinte den auferstandenen Christus, um dadurch seinen Wahn zu rechtfertigen und sich über Christus zu erheben.

Dies aber bedeutet durchaus nicht, daß der Antichrist sich vom Glauben an den Messias lossagen mußte. Der Messias ist ja nur ein Gesandter Gottes. Warum sollte Gott nicht auch Jesus zu einer Aufgabe ausersehen? Gott hat doch viele Propheten und Heilige in die Welt geschickt. Warum sollte Jesus nicht auch einer unter diesen Vielen sein? Der Glaube an Christus als an den Messias widerspricht nicht im geringsten dem Unglauben bezüglich seiner Auferstehung. Der Antichrist leugnet nicht, daß Christus ein Messias, d.h. ein Gesandter Gottes, ist. Er leugnet nur, daß dieser Messias gleichzeitig auch der Sohn Gottes, d. h. Gott selber, ist. Daß er aber nicht der Sohn Gottes und deshalb nicht Gott sei, will der Antichrist mit der Behauptung beweisen, daß dieser Messias ebenso im Grab verfault sei wie alle Propheten und Heiligen. Nicht der Glaube an den Messias ist also das echte Zeichen des christlichen Bewußtseins, sondern die Anerkennung der Auferstehung Christi. Und anderseits: die Leugnung der Auferstehung ist ein unfehlbares Merkmal des antichristlichen Geistes. Im Lichte der Offenbarung ist es völlig klar, daß der ewige Gegner Gottes eine sichere Kenntnis von der Auferstehung Christi hat. Dieses grundlegende Ereignis im Dasein ist auch dem Teufel nicht verborgengeblieben. Dodi dieser erkennt es nicht an. Kann er die Auferstehung Christi nicht einfach wegleugnen, so sucht er sie wenigstens zu umgehen und zu verschweigen. Der Teufel der Halluzination Iwan Kara-masows in Dostojewskijs Roman „Die Brüder Karamasow" erzählt gern, wie er zugegen war, „als das am Kreuze gestorbene Wort in den Himmel einging und mit sich die Seele des ihm zur Rechten verschiedenen Schachers emportrug"4, aber die Auferstehung Christi erwähnt er mit keinem Wort. Und so benimmt sich ebenfalls der Antichrist, weil er auch, wie wir sehen werden, nur ein Gesandter des Teufels ist. Der Antichrist erkennt die Geschichtlichkeit der Person Jesu an, glaubt an ihn als an den Messias, schätzt sogar sein historisches Vermächtnis, redet von der segensreichen Einwirkung des Christentums auf die Kunst, die Wissenschaft, die Gesellschaft, die Erhaltung und Verwirklichung des Friedens, doch er lehnt entschieden seine Auferstehung ab. Er nimmt an unserer Weihnachtsfeier teil und singt am Karfreitag unser Klagelied: „Weinet, ihr Engel", mit. Er kann sich aber nicht unserer Osterprozession anschließen und den Triumph des Auferstandenen mitfeiern. Denn den auferstandenen Christus anerkennen heißt ihn für den Einzigen halten, „der ist, der war und der kommen wird" (Offb 1,4). Die Wahrheit der Auferstehung ist das Schwert, das die Geister scheidet.

Ist aber Christus nicht auferstanden, „so ist unsere Predigt ohne Sinn, ohne Sinn auch euer Glaube" (1 Kor. 15, 14), denn in diesem Fall bleibt der Tod unbesiegt und mit ihm auch die Sünde. Anders gesagt: ohne Auferstehung gibt es keine Erlösung. Ist Christus nicht auferstanden, dann herrscht die Epoche des alten Adam immer noch, dann ist die Verworfenheit der Menschheit noch nicht überwunden und ihre Beziehung zu Gott nicht wiederhergestellt. Dann „sind wir bejammernswerter als alle Menschen" (1 Kor 15, 19). Wir setzen unsere Hoffnung wohl auf Christus; ist er aber im Grabe verfault, dann „sind auch die in Christus Entschlafenen verloren" (1 Kor 15, 18), dann haben keine Hoffnung, keine Tat und kein Opfer einen Sinn. „Wenn ich nur nach Menschenart in Ephesus mit wilden Tieren gekämpft habe, was nützt es mir, wenn Tote nicht auferstehen?" (1 Kor 15, 32.) Im Falle der Nichtauferstehung bedeutet der Tod die Rückkehr гит Nichtsein. „Laßt uns dann essen und trinken, denn morgen sind wir tot" (1 Kor 15, 32). Ohne die Auferstehung wird die Erde zur alleinigen Heimat des Menschen; Essen und Trinken werden zu den Hauptfunktionen des Daseins. Das alles aber zu erreichen, die Hoffnung auf das Jenseits zu vernichten und die Menschen zu überzeugen, sie seien die endgültigen Bewohner der Erde, ist gerade die Grundbestrebung jeder antichristlichen Macht. Daher spricht sie allzeit ziemlich laut von Christus als Vorläufer, als Messias, verschweigt oder verneint gar Christus als Auferstandenen und Triumphierenden. Die Herabsetzung oder Beseitigung der Wahrheit der Auferstehung ist das Zeichen des antichristlichen Sieges sowohl im Bewußtsein des Einzelnen als auch in der öffentlichen Meinung einer geschichtlichen Epoche5.

3.

DIE SATANISCHE SENDUNG

Der heilige Johannes lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Doppelcharakter des antichristlichen Geistes, indem er von den schon aufgetretenen Antichristen sagt: „Sie sind aus unserer Mitte hervorgegangen, aber sie gehörten nicht zu uns" (1 Jo 2, 19). Bei diesen Worten fällt uns sofort das Gebet Christi ein, das er als Hoherpriester des Neuen Bundes am Vorabend seines Leidens verrichtete und in dem er gleichfalls den Doppelcharakter seiner Apostel hervorhob: die Apostel „sind in der Welt", aber sie sind „nicht von der Welt" (Jo 17, 11—14). Als Vertreter Christi und als Träger seiner Erlösung durch Raum und Zeit bleiben sie in der Mitte des irdischen Daseins und teilen seine Schwere, wie es auch der Heiland selbst getan hat. Die Welt ist das eigentliche Tätigkeitsfeld ihres apostolischen Berufes. Jedoch ihre Sendung und die daraus entstandene geistige Macht (vgl. Mt 16, 17—18) stammt nicht von der Welt. Die Apostel sind Christus von seinem himmlischen Vater gegeben (vgl. Jo 17, 6). Ihre Berufung ist nicht ein Ergebnis der menschlichen Natur oder der gesellschaftlichen Aufgaben. Sie ist eine Gnade von oben. Zwar soll sie sich in der Welt entfalten und Früchte bringen, doch ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach ist sie etwas Überirdisches und Übernatürliches.

Den gleichen Doppelcharakter haben nun auch die antichristlichen ,Apostel'. Die oben angeführten Worte des hl. Johannes deuten darauf hin, daß die existentielle Anwesenheit der antichristlichen Mächte unter den Angehörigen Christi ihren eigentlichen und wahren Ursprung bei weitem nicht erklärt, denn sie gehören zur Gemeinschaft der Heiligen nur soziologisch und juridisch. Räumlich und zeitlich verlassen sie das Reich Gottes ebensowenig wie die Apostel Christi die Welt. Doch ihre Sendung ist nicht von Gott. Sie sind nicht von Christus berufen und beauftragt. Berufen sind sie aber doch! Die Sendung der antichristlichen .Apostel' nimmt ihren Ursprung ebenfalls nicht aus der menschlichen Natur oder aus der Gesellschaft. Sie ist auch ein .Geschenk', eine gewisse ,Gnade'. Keine antichristliche Macht ist das Ergebnis rein irdischer Entwicklung. Der Mensch leistet der antichristlichen Sendung nur Folge, die Sendung selbst aber kommt ,von oben'. Ein gewisses ,priesterliches' Siegel ruht in jeder antichristlichen Seele.

Gerade diesen ,priesterlich-apostolischen' Charakter des Antichrist hebt Solowjew in einer Szene seiner Erzählung sinnvoll hervor. Wir haben bereits erwähnt, daß der Antichrist, wenn er sich auch über Christus stellte, dennoch nicht sicher war, ob er, und nicht der Galiläer, der Erste und der Letze sei. Diese Unsicherheit wuchs in ihm bis zur Verzweiflung, die ihn letztlich zum Selbstmord trieb. „Mit Schaum vor dem Mund, in krankhaften Sprüngen" rannte er aus dem Hause hinaus und stürzte sich vom felsigen Pfad in den Abgrund. „Aber etwas Elastisches, wie eine Wassersäule, hielt ihn in der Luft; er fühlte eine Erschütterung wie von einem elektrischen Schlag, und eine unsichtbare Kraft warf ihn zurück. Für einen Augenblick verlor er das Bewußtsein und fand sich plötzlich kniend, einige Schritte vom Abgrund entfernt. Vor ihm zeichneten sich die Umrisse einer in phosphorischem Glanz leuchtenden Figur, aus der zwei Augen mit unerträglich scharfem Blick seine Seele durchbohrten." Er vernahm „eine seltsame Stimme", die „metallisch und völlig seelenlos, wie aus einem Phonographen", klang. Und diese Stimme sagte zu ihm: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Warum bist du nicht zu mir gekommen? Wofür hast du den geehrt, den Häßlichen, und seinen Vater? Ich bin dein Gott und Vater! Und jener Bettler, der Gekreuzigte — mir ist er fremd und dir. Ich habe keinen anderen Sohn als dich. Du bist der Einzige, der Eingeborene, bist mir gleich ... Ich will nichts von dir... Ich fordere nichts von dir und werde dir helfen ... Nimm hin meinen Geist! Wie mein Geist dich früher in Schönheit gezeugt hat, so zeugt er dich jetzt in Kraft."

Ist diese Szene nicht eine Nachahmung jener Tat Christi, als er nach der Auferstehung durch die verschlossene Tür zu seinen Jüngern kam und ihnen sagte: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch"? Nach diesen Worten hauchte er die Jünger an und sprach: „Empfanget den Heiligen Geist. Welchen ihr die Sünden nachlasset, denen sind sie nachgelassen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten" (Jo 20,19—22). Wahrscheinlich hat Solowjew das Ereignis am Abgrund absichtlich so gestaltet, damit der eigentliche Quell der antichristlichen Macht eindrucksvoller zum Vorschein kommt. Diese Ähnlichkeit zeigt nämlich, daß die antichristliche Sendung die menschliche Natur übersteigt, daß der Antichrist nur durch die Kraft des Teufels in der Welt mächtig wird. Anderseits zeigt diese Szene, daß der Mensch immer ein aktiver Teilnehmer am Kampf des Tieres mit dem Lamm, nie aber rein passiver Zuschauer ist. Entscheidet er sich für Christus, so empfängt er den Heiligen Geist, den Geist des Lebens, des Lichtes und der Liebe. Sagt er sich von Christus los, so wendet er sich von selbst seinem Widerpart zu und empfängt den Geist des Satans, den Vernichtungsgeist, den Geist der Lüge und des Todes. In jedem Fall aber wird seine Seele mit einem übermenschlichen Siegel bezeichnet. In jedem Fall läßt sich eine Glut auf ihn nieder, entweder in der Gestalt einer Feuerzunge, wie an den ersten Pfingsten in Jerusalem, oder in der Gestalt eines phosphorischen Glanzes, wie beim Antichrist Solowjews. Und diese Glut verwandelt den Menschen in seinem ganzen Dasein. Die bei den Aposteln und Jüngern Christi erfolgte Verwandlung trieb sie in die Welt hinaus, um allen Völkern das Evangelium zu verkünden. Ähnliches geschieht bei den ,Aposteln' des Teufels. Nachdem der Teufel seine sakramentalen' Worte: „Nimm hin meinen Geist", gesprochen hatte, fühlte der Antichrist, wie ein „scharfer eisiger Strom in ihn einging und sein ganzes Wesen erfüllte. Gleichzeitig empfand er eine unerhörte Kraft, Munterkeit, Leichtigkeit und Wonne." Am nächsten Tag „waren nicht nur die Besucher des großen Menschen, sondern sogar seine Diener erstaunt über sein besonderes gewissermaßen inspiriertes Aussehen". Die Inspiration ging in die Tat über, und der Antichrist, „eingeschlossen in sein Kabinett", schrieb sein ,Evangelium', sein berühmtes Werk „Der offene Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Welt", das seine spätere Weltherrschaft begründete. Der von oben empfangene Geist macht den Menschen zum Träger des neuen Prinzips, zum Verkünder einer neuen Botschaft, zum Mitwirker an der Schöpfung Gottes oder an der Zerstörung des Teufels.

Der Geist Gottes oder der Geist des Teufels verwandelt den Menschen nicht nur innerlich und spornt ihn nicht nur zur Tat an, sondern prägt ihm auch gewisse sichtbare Merkmale ein, durch die er ebenso in seiner äußeren Erscheinung als ein Auserwählter und Gesalbter gilt. Gewisse Stigmata zeichnen jeden aus, der von einer übernatürlichen Macht berührt ist. Es ist deshalb aufschlußreich, herauszubringen, wodurch sich die Auserwählten und Gesalbten des Teufels äußerlich zeigen. Was für ein Stigma tragen die Antichristen aller Epochen?

Als Christus seine Apostel aussandte, um dem Volke Israels das Himmelreich zu verkünden, befahl er ihnen, weder Gold noch Silber, weder zwei Röcke noch Schuhe, weder eine Reisetasche noch einen Stab mitzunehmen (vgl. Mt 10, 7—10). Damit wollte der Heiland unterstreichen, daß seine Jünger sich weder durch Reichtum noch durch galante und prunkvolle Lebensart vor der Welt geltend machen sollen. An Stelle des weltlichen Glanzes oder der alltäglichen Bequemlichkeit soll innere Geistesmacht bei den Aposteln Christi die Oberhand gewinnen, eine Macht, die Kranke heilt, Tote aufweckt und böse Geister austreibt (vgl. Mt 10, 8). Die Bescheidenheit im Äußern und der Gottesglanz im Innern sind Marken, die den jahrtausendelangen Weg der Apostel Gottes durch die Geschichte unfehlbar kennzeichnen. — Folgt auch der Teufel dem Beispiel Christi, wenn er seine Gesandten in die Welt schickt? Sollen diese ebenso bescheiden und kaum bemerkbar unter den Menschen weilen? Darauf antwortet uns Solowjew durch jene sakramentale' Formel, die er dem Teufel in den Mund legt: „Wie mein Geist dich früher in Schönheit gezeugt hat, so zeugt er dich jetzt in Kraft." Anders ausgedrückt: Schönheit und Kraft sind die Grundformen der sichtbaren Erscheinung der antichristlichen Mächte.

Solowjew betont in seiner Erzählung, daß sein Antichrist neben einzigartiger Genialität und Seelenadel auch außergewöhnliche Schönheit besaß, kraft deren er sogar die Versammlung der Vereinigten Staaten Europas hinriß. „Als er im Glänze seiner übermenschlichen, jugendlichen Schönheit und Kraft auf der Tribüne erschien und in begeisterter Redegewandtheit sein universales Programm entwickelte, da faßte die hingerissene und bezauberte Versammlung in einem Sturm des Enthusiasmus ohne Abstimmung den Beschluß, ihm durch seine Erwählung zum römischen Kaiser die höchste Ehre zuteil werden zu lassen." Die Schönheit ist ein erfolgreiches Mittel für den Antichrist, um den Weg zum Herzen des Menschen zu finden. Der Widersacher Christi bezaubert die Augen durch seine vollendete Gestalt, durch seine Kunst, zu reden, durch seine äußeren Manieren. Der Antichrist erscheint als ein Kunstwerk im menschlichen Leibe. Die Menschen fühlen sich von ihm hingerissen, glauben deshalb seinen Worten und erweisen ihm die höchste Ehre. Die Schönheit dient als ein Vorhang, um das wahre Gesicht des Antichrist zu verhüllen.

Wohl ist das Schöne ein Widerschein Gottes im Sein. Es offenbart die innere Vollkommenheit des Seienden, wenn dieses so geworden ist, wie es seinem göttlichen Urbilde nach sein soll; es ist gleichzeitig ein Hinweis auf die Daseinsweise der verwandelten Welt und des auferstandenen Leibes, wenn alles „wie ein Edelstein, wie Jaspisstein, wie ein Kristall" (Offb 21,12) funkelt und wenn der sinnliche Leib, gesät in Häßlichkeit, die Herrlichkeit anzieht (vgl. 1 Kor 15, 43). In jedem Fall aber ist das Schöne ein Wert der Sache. Da die innere Vollkommenheit des Seienden erst dann als schön erlebt wird, wenn sie unseren Sinnesorganen zugänglich ist, kann das Schöne im eigentlichen Sinne nur von einer Sache getragen sein. Damit wollen wir nicht behaupten, das Schöne sei an sich materieller Natur. Nein, wir geben zu, daß die ontologische Grundlage des Schönen geistig ist und daß Gott nicht nur die absolute Wahrheit und Güte, sondern auch die unendliche Schönheit ist, „pulchritudo infinita", wie ihn der hl. Augustinus nennt. Doch diese Grundlage können wir nur sinnenhaft erfassen. Die Vollkommenheit des Seienden als Schönheit spricht nicht unmittelbar zu unserem Geiste, wie die Wahrheit oder die Güte, sondern durch die Vermittlung unserer Sinneswerkzeuge. Folgerichtig muß diese in sich geistige und göttliche Vollkommenheit eine materielle Gestalt annehmen; genauer ausgedrückt: muß sich in sichtbaren oder hörbaren Formen objektivieren, um erst dadurch erfaßbar und erlebbar zu werden. In diesem Sinne ist das Schöne immer und überall nur von Sachen getragen und ausgedrückt. Dies besagt aber, daß die Schönheit kein eigentlicher Wert der Person ist. Sie ist nicht der Maßstab der personalen Werthaftigkeit des Menschen. Der Mensch darf nicht mit der Schönheit ermessen und wertvoll oder wertlos gefunden werden6. Der eigentliche Wert der Person ist die Heiligkeit. Der Mensch ist so weit vollkommen und wertvoll, als er heilig ist. Erzeugt also der Teufel seinen Gesandten in Schönheit, so ist es ein deutlicher Hinweis darauf, daß er mit dem Wert der Sache eine wertlose Person zu verdecken strebt. Durch die jugendliche und übermenschliche Schönheit seines Dieners will der Teufel die Aufmerksamkeit der Menschen auf die körperliche Gestalt hinlenken, damit sie die personale Wertlosigkeit seines .Apostels' außer acht lassen. Ubermaß an Schönheit dient dem Teufel als Mittel, um den Mangel an Heiligkeit zu verhüllen. Der Antichrist ist übermenschlich schön, aber nicht übernatürlich heilig.

In dieser Hinsicht offenbart sich der Antichrist als ein tiefer Gegensatz zu Christus; ein Gegensatz, der leider allzuoft unbeachtet gelassen und theologisch kaum behandelt ist. Die Evangelien erzählen nämlich nirgendwo, Christus sei schön gewesen. Von der natürlichen Schönheit Jesu sagen sie uns gar nichts. Dies bedeutet allerdings nicht, daß der Heiland häßlich gewesen wäre, wie ihn der Teufel in der obenerwähnten Szene am Abgrund nennt. Doch das tiefe Schweigen der Heiligen Schrift darüber ist ein Zeichen, daß Christus durch die äußere Gestaltung seines Leibes das Mittelmaß nicht überschritt und daher niemandem mit dem körperlichen Bestandteil seiner Persönlichkeit imponierte. Im Gegenteil, von außen betrachtet, sah er bescheiden und einfach aus. Hören wir nur dem Propheten Isaias zu, wie er den Gottesknecht schildert: „Er wächst für sich so wie ein Reis; so wie aus dürrem Erdreich eine Wurzel; ist ohne Schönheit und Gestalt; nicht zieht er unsere Blicke auf sich; ist ohne Ansehen, aller Reize für uns bar. Er ist verachtet und von aller Welt verlassen, ein Schmerzensmann, der Krankheit wohl bekannt, verachtet so, wie wer sein Angesicht vor uns verhüllen muß" (Is 53, 2—3). Christus erschien auf Erden nicht als eine Schönheit, sondern als ein Lamm Gottes, als die Fülle der Heiligkeit. Er riß die Menschen hin nicht durch den wohlgestalteten Aufbau seines Körpers, sondern durch seine Worte, seine Taten und seine Person. Wohl wurde auch Christus einmal schön: „Sein Angesicht glänzte wie die Sonne, seine Kleider wurden weiß wie Schnee" (Mt 17, 2). Das geschah auf dem Berge Tabor während der Verklärung. Aber von dieser kurzfristigen Veränderung durfte niemand erfahren, „bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist" (17, 9). Die Verklärung Jesu auf dem Berge ist nur ein vorübergehender Abglanz der künftigen Läuterung und Verwandlung des Seins gewesen. Beständig konnte diese Verklärung erst nach der Auferstehung bleiben, d. h. nach der wesentlichen und radikalen Überwindung der Hinfälligkeit des Daseins, die jede Sache entstellt und somit ihrer sichtbaren Vollkommenheit beraubt. Der Sieg über den Tod als den Auslauf jeder Hinfälligkeit ist unbedingt nötig, um dem Kosmos den Weg zum Schönen zu bahnen. Solange die Kreatur — den Leib Jesu inbegriffen — noch nicht von den Toten auferstanden ist, vermag sie nicht jenen Glanz der kommenden Äonen in sich zu behalten, so daß er ihren Eigenwert ausmachen kann. Der Teufel versucht dagegen, indem er seine Auserwählten in Schönheit erzeugt, die Notwendigkeit des Sieges über die Hinfälligkeit des Daseins zu verneinen und die blitzartige Tabor-Erscheinung bereits hienieden zu verewigen. Christus befahl seinen Jüngern, „niemandem von dieser Erscheinung" etwas zu erzählen. Der Teufel objektiviert sie indessen in einem menschlichen Leibe, stellt diesen vor aller Augen und reißt die Menge dadurch hin. Der Antichrist ist eine Schönheit. Er steht vor Menschen wie ein Kunstwerk, d. h. wie ein Sachwert. Er ist eine Statue, vom Teufel im lebendigen Leibe ausgemeißelt.

Wenn das Schöne auch eine große bezaubernde und verführerische Macht besitzt, ist es trotzdem seiner Natur nach untätig. Das Schön« ist einfach da, um genossen zu werden. Der Mensch findet zwar ein tiefes Wohlgefallen an ihm; es „verheißt ihm Vollendung", es weist auf das Kommende hin7; zur Tat jedoch wird der Mensch von dem Schönen nicht angespornt. Das Schöne ist ja Harmonie und Friede selbst. Es schließt deshalb jeden Kampf und jedes Ringen aus. Trägt also ein Geschöpf das besondere Mal der Schönheit in sich, so ist es weder eifrig, noch mutig, noch opferbereit. Daher ist die Erzeugung des Antichrist in Schönheit allein nicht ausreichend, um die Gemeinschaft des Tieres in Gestalt eines Heeres zu organisieren und es in den Kampf gegen das Lamm zu werfen. Dazu ist viel mehr Arbeit, Mut und Opfer erforderlich, als die Schönheit allein einem einzuflößen vermag. Infolgedessen wird der Antichrist nicht nur in Schönheit, sondern auch in Kraft vom Teufel erzeugt. Die Schönheit besaß er wohl seit seiner leiblichen Geburt. Trotzdem aber genoß er dreiunddreißig Jahre lang „seiner übermenschlichen Tugenden und Begabungen", ohne sie in die Tat umzusetzen. In seiner Schönheit fand er nicht genügend Ermutigung dazu. Indessen, in Kraft erzeugt, begann der Antichrist sofort — bereits in derselben Nacht — sein ,Evangelium' zu verfassen; später verwirklichte er es in jedem Gebiet des Lebens und kämpfte bis zum Ende dafür. Durch die Schönheit reißt der Antichrist die Menschen lediglich hin und betört sie, so daß sie seine wertlose Person nicht bemerken. Durch die Kraft hingegen fängt er an, die Menschen zu zwingen und zu vergewaltigen. Anfangs folgen viele dem Antichrist um seiner Schönheit willen nach, später gehorchen sie ihm aus Furcht. Nachdem der Weltkaiser den Papst Petrus II. und den Starez Johannes auf dem Konzil durch einen künstlichen Blitzschlag hatte töten lassen, verkündete er feierlich: „Also werden alle meine Feinde umkommen." Die Maske der harmlosen Schönheit riß er sich selbst herunter und zeigte sich dem Konzil als grausamer und unerbittlicher Gewalthaber. Der Antichrist regiert die Welt nicht mit der Liebe, sondern mit der Gewalt, indem er sich auf die menschliche Angst vor dem Tode stützt.

Daher nennt ihn Solowjew sehr sinnvoll einen religiösen Usurpator, der sich nicht durch eine heldisch-geistige Tat, sondern durch Raub die Würde des, neuen Erlösers' zu verschaffen sucht. Es ist bezeichnend, daß wir denselben Namen auch bei Dosto-jewskij finden, und zwar in der Halluzination Iwan Kara-masows, wenn dieser, nachdem sein Alptraum bereits vorbei war, zu seinem Bruder Aljoscha vom Teufel sagt: „Aber er ist nicht der Satan selbst, er lügt. Er ist ein Usurpator."8 Er hatte Iwans Gedanken, Gefühle und Erlebnisse usurpiert und für seine eigenen erklärt. Er wollte Iwan davon überzeugen, er sei eine Realität, in der Tat aber war er nur ein Fiebergespinst. Der Fall Iwan Karamasows — wenn auch nur dichterisch — ist ein tiefes Symbol für jeden antichristlichen Geist. Jeder Antichrist ist ein Usurpator. Die usurpatorische Geisteshaltung ist ihm wesentlich. Obwohl er, wie wir später zeigen werden, überall in seinem eigenen Namen handelt, besitzt er tatsächlich nichts Eigenes: er äfft nur Christus nach, er gibt sich für ihn oder auch für irgendeinen andern aus, daher eignet er sich fremde Gedanken, fremde Werke und Institutionen an, aber stets so, als ob sie etwas noch nie Dagewesenes, Unerhörtes, absolut Neues wären. Sich für irgend jemand auszugeben, anstatt es wirklich zu sein, ist der tiefste usurpatorische Zug des antichristlichen Geistes.

4.

DIE UNZÜCHTIGE HERKUNFT

Der Antichrist ist kein Christus. Er ist nur ,wie ein Christus', d. h. ein Fälscher seines Bildes, seiner Mission, seines Reiches. Es ist daher verwunderlich, daß er trotzdem „aus unserer Mitte" (1 Jo 2, 19) hervorgeht. Ist das Reich Christi nicht „ein Reich der Wahrheit und des Lebens, ein Reich der Heiligkeit und der Gnade, ein Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens" 9? Wie ist es also möglich, daß die Antichristen aller Jahrhunderte nicht Eindringlinge ins Reich Christi, sondern seine ständigen Bewohner, ja sogar seine Mitglieder sind? Daß es aber tatsächlich so ist, behauptet der hl. Johannes ganz eindeutig. Solowjew stützt sich ohne weiteres auf diese Behauptung und führt eine Reihe von Bildern in seiner Erzählung an, deren Aufgabe es ist, jene geoffenbarte Wahrheit zu veranschaulichen und psychologisch zu begründen. Sein Antichrist ist einer der „wenigen gläubigen Spiritualisten", die es im letzten Jahrhundert der Weltgeschichte noch gab, denn „die gewaltige Mehrheit der denkenden Menschen" glaubte nicht mehr an Gott. Der Antichrist aber gehörte zu dieser gottlosen Mehrheit nicht, er kam nicht von außen her, von der Gemeinschaft der Atheisten, sondern er war ein Mitglied der Kirche Christi. Erst viel später, nachdem er bereits zum Weltkaiser geworden war und den Starez Johannes im Konzilssaal hatte töten lassen, stieß Papst Petrus II. ihn, wie einen „räudigen Hund", durch das dreifache Anathema „aus dem Garten Gottes" hinaus. Bis zur Entlarvung jedoch lebte und wirkte er als Christ und sogar als Beschützer und Förderer der stark verminderten Christenheit.

Noch eindrucksvoller veranschaulicht uns Solowjew die sonderbare Herkunft des antichristlichen Geistes durch die Person des Apollonius. Apollonius, der Helfer und Diener des Antichrist, ist ein dichterisches Sinnbild des apokalyptischen falschen Propheten, der Wunder vor den Augen des Tieres wirkt und damit die Völker der Erde verführt (vgl. Offb 13, 13; 19, 20). Da er „die atmosphärische Elektrizität nach seinem Willen herbeizuziehen und zu lenken" vermochte, konnte er „unerhörte Wundertaten" ausführen, an denen sich die Erde ergötzte. Im Volke sagte man, er lasse Feuer vom Himmel fallen. Es interessiert uns hier nicht die Genialität des Apollonius, sondern seine frühere Stellung im Reiche Christi. Schlicht und befangen, beinahe schamhaft stellt Solowjew fest, Apollonius sei ein „katholischer Bischof in partibus infidelium" gewesen. Ist das ein absichtlicher Spott über die römische Kirche, wie der Titel des ,Kardinals' beim Großinquisitor Dostojewskijs? Da Solowjew ein Katholik nicht nur seiner Gesinnung nach, sondern auch formell war und lieber einwilligte, des Vatermordes bezichtigt zu werden, als „ein Wort der Verurteilung gegen das Heiligtum Roms" auszusprechen10, so können wir nicht annehmen, er habe  die römische Kirche durch seinen Apollonius verhöhnen und karikieren wollen, wie dies Dostojewskij in seiner Legende vom Großinquisitor getan hat. Die bischöfliche Würde des Apollonius hat hier einen tieferen, symbolischen Sinn. Damit will Solowjew nicht die katholische Kirche herabsetzen, sondern gerade die innere Tragik der Gemeinschaft des Lammes anschaulich machen; eine Tragik, die mit Judas begann und erst mit dem Ergreifen des letzten falschen Propheten enden wird (vgl. Offb 19, 21). Apollonius als katholischer Bischof ist nur eine Veranschaulichung der apokalyptischen Wahrheit, nur eines der möglichen Bilder der falschen Propheten, die in den Dienst der antichristlichen Mächte treten und durch ihre Zeichen und Wunder die Völker der Erde zur Anbetung des Tieres verleiten.

Indem Solowjew seinen Apollonius zum katholischen Bischof machte, drückte er dadurch eben die zentrale Stellung der Antichristen aus, welche diese in der Kirche Christi stets einnehmen. War der erste Verräter Christi nicht sein Apostel? War Petrus, der Fels, auf den Christus seine Kirche bauen wollte (vgl. Mt 16, 18), nicht der erste, der seinen Meister vor den Menschen verleugnete? Gewiß, Petrus beweinte bitterlich seine Sünde, er machte sie gut durch seine große Liebe, durch seinen Eifer und Mut, endlich durch den Martyrertod. Doch wieviel Apostel Christi gibt es, die den Herrn in der Geschichte verleugnen, verspotten, verraten und trotzdem keine Buße für ihren Frevel tun? Wieviel geweihte und gesalbte Söhne beweint die Kirche, die gegen ihre Lehre oder ihre Einheit rebellierten! Solowjew selbst läßt in seiner Erzählung „fast alle katholischen Kirchenfürsten, Kardinäle und Bischöfe" und einen großen Teil „der Hierarchen des Ostens und des Nordens" der Einladung des Antichrist Folge leisten und diesen, nicht aber Christus, für ihren „wahren Führer und Herrn" erklären. Dadurch veranschaulicht er den Grundgedanken Dostojewskijs, der mit seinem Kardinal-Großinquisitor die römische Kirche absichtlich herabsetzen wollte, im Grunde aber nur die Gefahr des Abfalls von Christus versinnbildlichte — eine Gefahr, die allen Christen, mögen sie auch die höchste Stufe der kirchlichen Hierarchie erstiegen haben, und allen Konfessionen droht, wie dies Solowjew in seiner Erzählung hervorhebt. Nur eine einzige Stellung der Hierarchie bleibt durch den Antichrist unverletzbar: das Papsttum bzw. sein Ersatz bei den anderen christlichen Konfessionen. Papst Petrus II., Starez Johannes und Professor Pauli lassen sich nicht von den Angeboten des Antichrist verführen und begeben sich nicht zu ihm auf die Estrade. Mit dem Abfall der Mehrheit der kirchlichen Hierarchen von Christus verbaut weder Solowjew noch Dostojewskij den Zugang zum Wirken Christi durch seine Beauftragten, wie mancher glauben könnte. Im Gegenteil, diese zwei großen Denker zeigen nur, daß die kirchliche Hierarchie als geschichtliche Entfaltung der universalen Gewalt Christi „im Himmel und auf Erden" (Mt 28, 18) Christus ebenso untreu werden kann wie ein jeder Christ und daß sie nur dann Christi Werk in der Geschichte fortführt, wenn sie selbst eine existentielle Ausstrahlung des Papsttums bleibt, denn dieses ist der einzige Fels, den die Pforten der Hölle nicht überwältigen können (vgl. Mt 16, 18). Alle anderen Stellen der Kirche Christi sind der Hölle zugänglich und deshalb besiegbar, und aus diesen unterliegenden Stellen gehen gerade die Antichristen hervor. Ihre Herkunft aus der Mitte des Reiches Christi ist ein tiefes ge-schichtstheologisches Problem, das Dostojewskij durch seinen Kardinal und Solowjew durch seinen Bischof in partibus in-fidelium unserem Nachdenken unterbreiten.

Wie ist aber diese sonderbare Herkunft des antichristlichen Geistes zu erklären? Worin liegt sein eigentlicher Quell? Das Reich Christi an sich kann ja nicht die Ursache für die Entstehung der antichristlichen Mächte sein, denn diese, wenn sie auch aus unserer Mitte hervorgehen, gehören doch „nicht zu uns" (1 Jo 2, 19), d. h. wenn die Antichristen auch im Laufe der Geschichte stets aus der Mitte der Kirche entstehen, haben sie den Geist Christi trotzdem nicht. Sie gehören nicht zur Gemeinschaft der Heiligen, weil sie nicht vom Heiligen Geist getragen sind. Was für ein Geist erzeugt sie also? Was für ein Geist soll es sein, der ein Mitglied, ja einen Führer der Gemeinschaft des Lammes zum Ritter des Tieres schlägt?

Ein Licht auf diese schwierige Frage wirft Solowjew durch seine Bemerkung über die unzüchtige Herkunft seines Antichrist. Als dieser zum „lebenslänglichen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa" gewählt werden sollte, erinnerte man sich auch an die „Geschichte seiner Herkunft", die „in tiefes Dunkel gehüllt" war. Seine Mutter, erzählt Solowjew, „eine Person von ziemlich lockeren Sitten, war auf beiden Hemisphären wohlbekannt, doch allzuviel verschiedene Männer konnten sich mit gutem Grund für seinen Vater halten". Diese Umstände hatten jedoch keinerlei Einfluß auf die Wahl, besonders „in einem Jahrhundert, das so fortgeschritten war, daß es ihm sogar beschieden war, das letzte zu sein". Mit dieser Feststellung will Solowjew den wesentlichen Gegensatz zwischen der Herkunft Christi und der Herkunft des Antichrist hervorheben, gleichzeitig aber auch eine äußere Ähnlichkeit, eine gewisse Nachäffung Christi in der Geburt des Antichrist zeigen. Christus ist aus der keuschen Jungfrau durch das übernatürliche Wirken des Heiligen Geistes geboren, deswegen kann kein Mann sich der Vaterschaft Jesu rühmen. Der Antichrist ist aus der Dirne geboren und hat ebenso keinen Vater, nicht aber grundsätzlich, sondern nur deshalb, weil allzuviel Männer beanspruchen können, diese ,Würde' zu tragen. Der Vater Christi ist unsichtbar, weil er im Himmel ist. Der Vater des Antichrist ist ebenfalls unsichtbar, da er unbekannt ist. Diese Parallele ist sehr tiefsinnig. Sie enthüllt uns eine große, wenn auch nur eine oberflächliche Ähnlichkeit des Tieres mit dem Lamm, eine Ähnlichkeit, die bereits bei der Geburt beginnt und sich, wie wir bald sehen, über das ganze Leben und Wirken der antichristlichen Mächte erstreckt.

Der Hinweis Solowjews auf die unzüchtige Geburt des Antichrist hat aber noch einen andern, auch wohl tieferen Sinn. Er besagt uns, daß die Unzucht der wahre Quell des antichristlichen Geistes ist. Ihrem Wesen nach ist die Unzucht eine Lüge, nicht mit dem Wort, sondern mit dem Leib und durch ihn zugleich mit der ganzen menschlichen Persönlichkeit. Sie ist eine Lüge im höchsten Grad und im konkretesten Ausdruck. Die körperliche Vereinigung zwischen Mann und Frau ist von Natur aus bestimmt, die in ihnen keimende Liebe zu vollenden und zu objektivieren. Die körperliche Hingabe setzt nur das fort, was die seelische Hingabe bereits begonnen hat. Da die Liebe ihrem Wesen nach eine Gemeinschaft der Güter darstellt und verwirklicht (communicatio bonorum), so führt sie die Liebenden von selbst zur Gemeinsamkeit nicht nur des Raumes und der Zeit, des Glaubens und des Betens, der Lebensformen und Sitten, sondern letztlich auch zur Gemeinsamkeit der Leiber, die vom Schöpfer selbst berufen sind, unser Inneres zu tragen und sein Ausdruck zu sein. Indem wir einer von uns geliebten Person unsern Leib hingeben, verschenken wir an sie unseren letzten Wert, der von ihr am weitesten stand und sich gegen die Gemeinsamkeit am längsten wehrte. Denn nichts ist uns auf der Welt so fremd wie der fremde Leib. Dies zeigt sich bei einer Leiche mit unheimlicher Klarheit. Hat die Seele den Leib einmal verlassen, so bleibt dieser absolut inkommunikabel, daher uns absolut fern und fremd. Das ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, daß die Liebe etwas Geistiges ist, daß sie nicht aus der Leidenschaft entsteht, sondern im Gegenteil die Leidenschaft entfacht und diese ihrem Gesetze unterwirft. Die Liebe entsprießt dem seelischen Mitsein des Menschen und dehnt dieses auf die Ganzheit des menschlichen Wesens aus. Sie durchbricht deshalb die Geschlossenheit des Leibes und zieht ihn auch in die Gemeinschaft des Daseins hinein. Alles soll in der Liebe gemeinsam sein: der ganze Mensch.

Die Unzucht verdreht all das jedoch in der brutalsten Art und Weise. In der unzüchtigen Vereinigung ist der Leib nicht mehr Vollendung und Ausdruck der Liebe, sondern nur ein Werkzeug für die Befriedigung der Begierde. Hier ist er nicht mehr Symbol, sondern nur eine krasse Wirklichkeit. Der unzüchtige Mensch mißt dem Leib eine Selbständigkeit zu und sucht diese durch seinen frevelhaften Akt auszunützen. Dies vermag er zwar psychologisch, nie aber ontologisch. Auf der ontologischen Ebene, d. h. in sich und objektiv, verliert die körperliche Vereinigung nie ihren symbolischen Charakter. Selbst die abscheulichste Unzucht ist nicht imstande, die Vereinigung zwischen Mann und Frau ihres ontologischen Sinnes zu berauben. Die körperliche Hingabe, sei sie auch verkauft, ist immer noch ein Ausdruck der Gemeinsamkeit der menschlichen Ganzheit, da der verkehrte menschliche Wille nicht fähig ist, den ontologischen Schöpfungssinn zu vertilgen. Gerade aus diesem Grund aber wird jede Unzucht zu einer großen und radikalen Lüge. Die Unzüchtigen besitzen in Wirklichkeit nicht das, was sie durdi ihren leiblichen Akt objektiv ausdrücken. Sie lieben sich nicht, sie geben nur das Zeichen der Liebe. Dieses Zeichen ist wohl sinnhaft in sich, onto-logisch, aber es ist durchaus sinnlos in ihrem Akt. Mehr noch: es ist nicht nur sinnlos, sondern auch betrügerisch und lügnerisch, denn es entspricht nicht der Wirklichkeit, der inneren Einstellung der Unzüchtigen, welche die Liebe symbolisieren, ohne sie selbst zu haben. Daher lügen sie mit ihrem körperlichen Akt und betrügen einander. In der leiblichen Vereinigung suchen sie nicht das Mitsein, dessen existentieller Ausdruck die Liebe ist, sondern das reine Eigensein. An Stelle der Liebe tritt in der Unzucht die radikalste Eigenliebe. Die Unzucht ist ihrem Wesen nach ein Egoismus. Deshalb ist sie auch eine Lüge, ja die Lüge, denn hier lügt der Mensch nicht nur teilweise, sondern mit der Ganzheit seines Daseins.

So ist der Hinweis Solowjews auf die unzüchtige Herkunft des Antichrist nicht nur eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen der Geburt Christi und der seines Widerparts, sondern auch ein Versuch, den eigentlichen Quell der antichristlichen Mächte gerade in der Lüge aufzudecken. Maria empfing Jesus aus dem Heiligen Geist, d. h. aus dem Geist der Wahrheit, deswegen ist auch der Heilige, der aus ihr geboren ist, Sohn Gottes, d. h. die Wahrheit selbst. Die auf beiden Hemisphären wohlbekannte Person, die Mutter des, Übermenschen', empfing diesen aus dem Geist der Lüge, aus dem beiderseitigen Betrug, deshalb wurde ihr Sohn zum Widerpart Christi, zum Gegner und Be-kämpfer alles dessen, was wahr und heilig ist. Das ist ein unermeßlich tiefes Symbol zum Verständnis des antichristlichen Geistes. Der Geist der Lüge ist die Brutstätte der antichristlichen Mächte.

Was eigentlich ist denn die Lüge? Ein Widersprechen gegen die Wahrheit. Was aber ist die Wahrheit? Diese Pilatusfrage ist nicht einfach zu beantworten. Man sagt, die Wahrheit sei die Ubereinstimmung zwischen dem Wort und dem Gedanken, und mit Recht. Doch damit ist der Sinn der Wahrheit noch nicht erschöpft. Denn das Wort kann zwar mit dem Gedanken übereinstimmen, doch der Gedanke selbst kann in sich falsch sein. Moralisch können wir wohl die Wahrheit sagen; ist aber unser Gedanke unwahr, so lügen wir logisch, und diese Lüge ist bei weitem folgenschwerer als die moralische. Um als wahr zu gelten und zu sein, muß der Gedanke mit etwas Höherem verglichen und durch dieses ermessen werden. Dieses Höhere sei, so behauptet man, das Ding (res). Die Wahrheit sei die Übereinstimmung zwischen dem Ding und dem Gedanken: adaequatio rei et intellectus. Und wieder mit vollem Recht. Kann aber ein Ding nicht einmal falsch sein? In unserem Dasein stoßen wir auf so viel falsche oder gefälschte Sachen und Dinge, daß wir kein volles Vertrauen auf die uns umgebende Wirklichkeit haben können11. Um uns in der Welt im Hinblick auf die Wahrheit zurechtzufinden, müssen wir wieder nach etwas Höherem suchen, was bereits über der Wirklichkeit steht und mit dem wir diese vergleichen, ermessen und damit korrigieren können, falls sie schon entstellt und deshalb unwahr ist. In unserem Dasein suchen wir stets nach dem Maßstab des Seienden. Worin aber liegt dieser Maßstab? Darin, was über dem Seienden steht, was dieses in seinem Wesen bestimmt und ihm die ontologische Echtheit verleiht. Der Maßstab des Seienden ist das göttliche Urbild, nach dem es geschaffen ist. Ein Ding ist erst dann wahr, wenn es mit seinem göttlichen Urbild übereinstimmt. Denken wir das Ding so, wie es seinem Urbild entspricht, so ist auch unser Gedanke wahr; sprechen wir diesen Gedanken so, wie wir ihn denken, so ist unser Wort ebenso wahr. Die Wahrheit liegt also weder beim Wort, noch beim Gedanken, noch beim Ding, sondern sie wurzelt im göttlichen Urbild, im göttlichen Urgrund, im Wesen Gottes selber. Gott selbst ist die Wahrheit, denn er allein ist der höchste und einzige Maßstab des Seienden. Die Wahrheit ist die Übereinstimmung zwischen Schöpfung und Schöpfer. Das ist die letzte Antwort auf die Pilatusfrage, die auch der moderne Mensch öfters stellt, ohne aber, wie einst der Statthalter Roms, die endgültige Antwort darauf zu erwarten.

Hier tut sich auch die Tiefe der Lüge auf. In ihrem ontologischen Sinn ist die Lüge nicht nur ein Widersprechen gegen den Gedanken durch das Wort und auch nicht nur ein Widersprechen gegen das Ding durch den Gedanken, im letzten und tiefsten Sinn ist die Lüge ein Widersprechen gegen das göttliche Urbild durch das Seiende selbst. Sie ist ein Abfall des Seienden von seinem Urbild, eine Empörung des Geschaffenen gegen den Schöpfer. Der Lüge liegt immer die Verneinung Gottes zugrunde. Lügen wir durch das Wort, so verwerfen wir den Gedanken; lügen wir durch den Gedanken, so verwerfen wir das Ding; lügen wir aber durch unsere Wirklichkeit, so verwerfen wir unser Urbild, nach dem wir geschaffen sind und das Gott selber ist. Das Lügen ist daher im innersten Wesen ein Akt der Gottlosigkeit. Das ist der Grund, warum Christus den Teufel der Lüge zeiht und ihn sogar den Vater, d. h. den Erzeuger der Lüge nennt (vgl. Jo 8, 44). Die Empörung des Luzifer gegen Gott war die tiefste Lüge und der Quell jeder anderen Lüge. Indem der Teufel bei seiner Empörung verharrt, lügt er durch sein Dasein selbst, und es ist „in ihm keine Wahrheit" (ebd.). Die Lüge ist ein rein geistiges Ding wie auch die Wahrheit. Beide verlangen vom Menschen eine klare und bewußte Entscheidung. Gewinnt der Geist der Lüge die Oberhand im Menschen, d. h., wird die Lüge zur menschlichen Daseinsweise, so verwandelt sie den Menschen in den Antichrist, denn die Lüge als Daseinsform bedeutet die existentielle Leugnung und Fälschung von allem, was göttlich ist. Konkret objektiviert, kommt diese Daseinsform als eine entschiedene und unerbittliche Verwerfung Christi zum Vorschein, in dem und durch den alles geschaffen ist, der also der eigentliche Träger des göttlichen Urbildes der Wirklichkeit und somit der Maßstab des Seienden ist. Der Geist der Lüge rebelliert zuallererst gegen Christus, indem er nicht nur die ganze Wirklichkeit, sondern auch sein Bild und sein Wirken in der Geschichte zu verfälschen sucht.

In der unzüchtigen Herkunft, d. h. in der Herkunft aus dem Geist der Lüge, liegt also der Anfang und zugleich auch der Abschluß des antichristlichen Geistes. Alle Charakterzüge des Antichrist laufen hierin zusammen und finden da ihre Erklärung. Die Eigenliebe, die den antichristlichen Menschen von Gott abwendet und den Haß gegen den Schöpfer und die Schöpfung in seinem Herzen entfacht, ist in Wirklichkeit eine Lüge, denn seinem Urbild nach ist der Mensch nicht ein alleinstehendes, sondern ein mitseiendes Geschöpf. Der Versuch jeder antichristlichen Macht, Christus nur für einen Vorgänger zu halten und ihn somit als Gottessohn herabzusetzen, ist ebenfalls eine Lüge, denn Christus ist der Erste nicht nur im moralischen Sinn, wie jeder Prophet, sondern auch ontologisdi als Ebenbild Gottes und als Erstgeborener aller Schöpfung. Die Bemühung, ihn als Auferstandenen zu leugnen und seine Person in der Geschichte nur symbolisch leben zu lassen, ist folgerichtig auch eine Lüge, denn er ist „von den Toten auferstanden als Erstling der Entschlafenen" (1 Kor 15, 20) und regiert deshalb die Geschichte durch seine persönliche Präsenz in der Kirche. Die teuflische Sendung des antichristlichen Geistes ist ebenso eine Lüge, denn der Teufel verleiht zwar dem Antichrist eine übernatürliche Kraft, doch dient diese nicht zum Schaffen und Erzeugen, sondern zum Zerstören, was sich am Ende der antichristlichen Weltregierung sehr deutlich zeigt. Wenn also der Teufel zum Antichrist Solowjews sagt: „Ich bin dein Gott und Vater", so drückt er damit eine tiefe Wahrheit aus. Der Teufel ist, wie gesagt, der Vater der Lüge, und aus dieser Lüge zeugt er jeden antichristlichen Geist. Hier liegt der tiefste Unterschied zwischen Christus und Antichrist, zugleich aber auch der Grund für den Erfolg des Antichrist in der Weltgeschichte. In die Lüge eingehüllt und mit dem Schein der Wahrheit auf der Stirn schreitet der Antichrist durch alle Jahrhunderte und entfaltet seine Tätigkeit im irdischen Dasein der Menschheit — eine Tätigkeit, deretwegen die Offenbarung die Erde und das Meer bemitleidet (vgl. Offb 12, 12).

 

 1 F. M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, Piper, München, S. 594.
Auf die Hinwendung zu sich selbst führt Solowjew auch den Abfall der Weltseele von Gott zurück. Über ihren Inhalt, den sie von Gott in Empfang genommen hatte, wollte sie nämlich so verfügen, als ob sie ihn aus sich selbst hätte. Dadurch aber verlor die Weltseele ihre zentrale Stellung im Sein, ihre Freiheit und ihre Macht über die Schöpfung (vgl. Vorlesungen über das Gottmenschtum, 1878).
Erinnern uns diese Worte, die Solowjew in den Mund des Antichrist legt, nicht an gegenwärtige Verurteilungen, die ebenfalls im Namen „des gesunden Volksempfindens" gegen die treugebliebenen Christen verhängt werden?
a. a. O. S. 1209.
Es ist daher durchaus verständlich, warum die ersten Christen die Wahrheit der Auferstehung so entschieden bejahten und ihren Glauben auf sie stützten. In der Auferstehung Christi sahen sie die einzige Rettung der Geschichte aus der Diesseitigkeit und der Sinnlosigkeit. Der auferstandene Jesus galt ihnen als himmlische Bürgschaft, als existentieller Beweis, daß die Toten auferstehen und daß dadurch unsere Geschickte einen Sinn gewinnt. Leider spielt diese Wahrheit im Bewußtsein des modernen Menschen keine bedeutende Rolle mehr. Selbst bei vielen Christen ist sie verblaßt. Oder scheint es uns heute nicht, daß wir doch einen Sinn im Christentum finden könnten, wenn Christus auch im Grabe verfault wäre?
6 In diesem Betracht haben auch die heute so modisch gewordenen Wahlen der Schönheitsköniginnen nicht nur einen sittlichen, sondern zugleich einen tiefen
theologischen Sinn. Eine Epoche, die den Menschen als ein Kunstwerk beurteilt, fälscht das Bild Gottes, denn Gott leuchtet im Menschen nicht durch die Schönheit seines Leibes, sondern durch die Heiligkeit seiner Seele. Die Fälschung des Gottesbildes aber ist immer die Grundabsicht jeder antichristlichen Tätigkeit.
R. Guardini, Über das Wesen des Kunstwerks, Tübingen 1947, S. 30—39.
a. a. O. S. 1218. 
9
Präfation für das Christkönigsfest.
10 In einem Brief an I. Aksakow, mit dem Solowjew (1884) eine längere Zeit über die Spaltung der Kirche stritt, schreibt dieser: „Es scheint mir, Sie schauen nur auf den Papismus, ich aber schaue vor allem auf das große, heilige und ewige Rom als untrennbaren Grundteil der universalen Kirche. An dieses Rom glaube ich, vor ihm beuge ich mich, es liebe ich vom ganzen Herzen" (vgl. K. Močulskij S. 143). Uber Solowjews Beziehung zum Katholizismus vgl. H. Falk, Wl. Solowjews Stellung zur katholischen Kirche, in: Stimmen der Zeit, Augustheft 1949; Wl.Szylkarski, Solowjews Stellungzur katholischen Kirche, in: Orientalia christiana 1950.
11  Die Fälschung der Wirklichkeit, die in allen Bereichen des menschlichen Lebens auf Erden vorkommt, begründet die moralische Notwendigkeit der göttlichen Offenbarung, die all diesen Fälschungen die echte Urwirklichkeit mit ihren Urbildern entgegenstellt. Die Offenbarung ist daher der Maßstab der irdischen Wirklichkeit und somit das höchste Kriterium der Wahrheit. Leider ist die theologische Erkenntnislehre immer noch nicht geschrieben. In unserer Zeit aber, wo die Lüge bereits eine Lebensform und somit ein bestimmender Faktor der Geschichte geworden ist, wäre die Theologie des Erkennens besonders am Platze.

DRITTER ABSCHNITT

Die antichristliche Tätigkeit

l.

VERSTELLUNG ALS WIRKUNGSWEISE

Als Christus seine Apostel in die Welt hinaussandte, befahl er ihnen, in seinem Namen oder im Namen seines himmlischen Vaters zu predigen und zu wirken. Die Apostel waren Vertreter und Boten Christi im wahren Sinne des Wortes: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestellt, daß ihr hingehet und Frucht bringet" (Jo 15, 16). Deshalb sollte das Evangelium gepredigt, das Volk regiert und die Sakramente gespendet werden nicht im Namen der Apostel, sondern im Namen Christi. Der wirkliche und alleinige Urheber der apostolischen Taten ist Christus selbst. Er ist es, der lehrt, regiert und heiligt. Die Apostel, die in aller Zeit und von allen Völkern berufen werden, sind nur „Gottes Mitarbeiter" (1 Kor 3, 9). Sie leben, wirken und sterben als Beauftragte: „Niemand von uns lebt ja für sich, und niemand stirbt für sich. Leben wir, so leben wir für den Herrn; sterben wir, so sterben wir für den Herrn" (1 Kor 14, 7—8). In der Kirche darf man das Wort nur im Namen Christi ergreifen und nur ihn, den Gekreuzigten und Auferstandenen, predigen.

Ganz anders ist es in der Gemeinschaft des Tieres. Wohl sendet auch der Teufel seine Auserwählten in die Welt hinaus. Doch die ,Priester' des Tieres wirken stets in ihrem eigenen Namen. Solowjew erzählt, wie sein Übermensch in jener entscheidenden Nacht eine seelenlose Stimme vernahm, die zu ihm sprach: „Ich liebe dich und fordere nichts von dir. Du bist auch so schön, groß, mächtig. Tu dein Werk in deinem eigenen Namen und nicht in meinem. Ich kenne keinen Neid dir gegenüber." Spricht aus diesen Worten nicht der tiefe Gegensatz zu jeder durch den Willen Christi erfolgten Sendung? Über seine Apostel waltet Christus als eine höhere Wirklichkeit, als der Maßstab für ihre Worte und Taten. Der Teufel indessen versteckt sich hinter der menschlichen Wirklichkeit und läßt den Menschen sein eigener Maßstab sein. Christus selbst deutete auf diesen Unterschied, indem er zu den Juden sagte: „Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, aber ihr nehmt mich nicht auf. Wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommen wird, den werdet ihr aufnehmen" (Jo 5, 43—44)1 .Ist es nicht bezeichnend, daß der Antichrist Solowjews kaum unterscheiden konnte, ob jene „seltsame Stimme", die ihm in seinem Namen zu handeln befahl, von außen oder von innen kam? Er konnte nicht unterscheiden, ob er vor einer von seinem eigenen Ich verschiedenen Realität stand oder ob er selbst diese Realität war. Der Teufel verschmolz mit seinem Sein, drang in seine Natur ein und versteckte sich hinter ihr.

Warum aber erträgt der Teufel nicht seinen laut ausgesprochenen Namen? — Die Antwort darauf finden wir in jenem unheimlich klaffenden Abgrund, der zwischen der menschlichen Natur und der teuflischen Absicht liegt. Das eigentliche Vorhaben der satanischen Existenz besteht gerade darin, all das ins Nichtsein zurückzuführen, was einst der Herrgott durch sein schaffendes Wort aus dem Nichts hervorgerufen hat. Alles Geschaffene „ist wert, daß es zugrunde geht", erklärt Goethes Mephistopheles und drückt damit die satanische Einstellung zum Sein aus. Der Teufel ist nicht nur der Feind Gottes, sondern auch der Feind der Schöpfung. Er ist der Feind des Daseins überhaupt. Dem Menschen jedoch ist solch ein überaus negativer Wesenszug fremd. Zwar kann auch er einmal dämonisch werden und alles verneinen, aber erst dann, wenn er die von Solowjew erwähnte satanische ,Firmung' empfängt. In sich selbst jedoch, in den Tiefen seiner Natur, bleibt der Mensch stets ein Bild und Gleichnis Gottes, des Schöpfers. Das Schöpferische liegt dem menschlichen Wesen zugrunde und bestimmt seine Existenzakte. Eigenschaften des Schöpfers offenbaren sich in jeder menschlichen Haltung. Infolgedessen ist immer das Sein das Ziel der menschlichen Tätigkeit: das Ziel einer Tätigkeit, die sich in der Liebe, in der Pflege, im Schaffen und Schützen äußert. „Der Mensch ist Hirt des Seins", wie ihn M. Heidegger sinnvoll nennt2. Dadurch, daß er „in der Nähe des Seins wohnt", ist er gerade bestimmt, dieses zu hüten und zu bewahren, es zur Entfaltung und zur endgültigen Vollendung zu bringen. Nachdem Gott den Menschen geschaffen hatte, setzte er ihn „in das Paradies der Wonne, daß er es anbaue und wahre — ut custodiret illum" (Gn 2, 15). Hirt des Seins zu sein, ist die ursprüngliche Bestimmung des Menschen. Die pure Verneinung ist ihm unerträglich. Die Verneinung ist ja im Wesen das Nichtsein. Da aber der Mensch eine unergründliche Angst vor dem Nichtsein hat, erschrickt er auch jedesmal, wenn er einer Verneinung in ihrer reinen Gestalt begegnet oder wenn eine Verneinung sich irgendwie vor seinen Augen entschleiert. So erlebt der Mensch auch den Teufel als ein schreckenerregendes Wesen gerade deshalb, weil dieser „der Geist, der stets verneint", ist. Die Angst vor dem Teufel ist eine Angst vor dem Nichts. Kein Mensch erträgt es daher, mit einem ausgesprochenen und unmittelbaren Zeichen des Teufels bezeichnet zu sein. Als Träger und Verbreiter des Nichtseins findet der Teufel keinen Zugang zum menschlichen Geist. Will er sich diesen trotzdem zugänglich machen, so ist er von selbst darauf angewiesen, eine Scheingestalt des Seins anzunehmen. Der Teufel redet den Menschen nur unter dem Schein des Positiven an. Die Verkleidung und Verstellung ist die einzige Wirkungsweise, die es ihm ermöglicht, an den Menschen heranzutreten und sein Handeln zu beeinflussen.

Die Eigenliebe bietet sich als das geeignetste Mittel dazu an. Da sie eine radikale Abkehr vom Sein ist, verneint sie dieses aus sich heraus und schlägt einen Weg zum Nichtsein. Als eine Hinwendung auf das eigene Ich des Menschen behält sie aber noch einen Schein des Seins und verhüllt dadurch vor den Augen des Geistes den sich öffnenden Abgrund des Nichts. Diese ihre Eigenschaften befriedigen geradezu das eigentliche Streben des Teufels. Mit ihrer grundsätzlichen Neigung zum Nichtsein entspricht die Eigenliebe der Absicht des Teufels, alles zu vernichten. Mit ihrem noch behaltenen Schein des Seins erfüllt sie den satanischen Wunsch, sich nicht als reine Verneinung bloßzulegen. So sucht sich der Teufel die Eigenliebe aus, um mit ihrer Hilfe unauffällig tätig zu bleiben. Die Eigenliebe ist also ein Versteck und gleichzeitig eine Festung des Teufels. Gleichsam wie ein dichtes Tuch verhüllt sie diesen radikalen Verneiner vor den Augen des Menschen und macht ihn dadurch annehmbar und erträglich. Die Akte der Eigenliebe sind ihrem Wesen nach ein Dienst für den Teufel, weil sie die Nichtsein bringenden Akte sind. Die teuflische Sendung erfolgt daher immer in Form der Eigenliebe, denn nur in dieser Form kann der Teufel seine .Apostel' in die Welt hinaussenden und zugleich seinen Namen verschweigen.

Doch in dem Bemühen des Teufels, irgendeine menschliche Gestalt anzunehmen, liegt noch ein anderer, bedeutend tieferer Sinn. Sich zu verhüllen und den Menschen durch die entfachte Eigenliebe vom Sein zu entfernen, ist nur ein Ziel des Teufels, wir möchten sagen, das anthropologische Ziel, da sein Objekt nur der Mensch ist. Gleichzeitig aber verfolgt der Teufel mit seiner Verstellung und Verhüllung einen anderen Zweck, den wir als theologischen bezeichnen könnten, weil dieser sich auf Gott, vor allem auf Christus bezieht. Solowjew erzählt, daß der Teufel, als er seinen ,Gesalbten' in die Welt schickte, dabei bemerkte: „Der, den du für Gott hieltest, forderte von seinem Sohn Gehorsam, grenzenlosen Gehorsam, bis zum Tode am Kreuz, und er half ihm nicht, als er am Kreuz hing." Damit will der Teufel sagen, Christus sei von seinem Vater verlassen worden, weil Gott aus reiner Selbstliebe handle. Er fordere Unterwerfung, Opfer und Gehorsam, ohne dies mit der helfenden Liebe zu erwidern. Er regiere die Menschheit nicht mit dem Herzen, sondern mit kaltem Verstand und unerbittlichen Beschlüssen: Er sei „nicht der Vater der Welt, sondern ihr ... Zar", wie Adam Mickiewicz seinen Konrad in der „Totenfeier" sagen läßt3. Der Teufel hingegen schickt sich an, seinen Auserwählten mit einer „reinen uneigennützigen Liebe" zu umgeben: „Um deinetwillen, um deines eigenen Wertes und deiner Vorzüge willen ... werde ich dir helfen." Er fordert nichts von seinem Gesandten; im Gegenteil, er will ihm aus dem Wege gehen, sich verstecken, verschwinden und ihn im eigenen Namen wirken lassen.

Es versteht sich von selbst, daß all dies nur ein tiefer Hohn auf Christi Opfer und auf seine göttliche Sendung ist. Der Teufel ist Feind Gottes nicht nur dadurch, daß er seine Werke zu zerstören sucht, sondern auch dadurch, daß er über seine Taten spottet und sie stets verhöhnt. Christus, sein Leben und sein Werk sollen durch diese satanische Spöttelei und Verhöhnung in erster Linie getroffen werden. Durch die Erneuerung der göttlichen Werke stellt sich Christus dem Teufel grundsätzlich in den Weg und hindert ihn damit, sein zerstörerisches Ziel zu erreichen. Darum greift dieser vor allem Christi Taten an. Spott und Verhöhnung dienen ihm dabei als geeignete Mittel. Daraus können wir schließen, daß auch der Verhüllung des Teufels die Absicht, zu verhöhnen, zugrunde liegt, daß dieser „Vater der Lüge" die Daseinsweise des Menschen auch dazu annimmt, um irgend etwas an Christus ins Lächerliche zu ziehen.

Den Schlüssel zum Verständnis dieser satanischen Absicht bietet uns Dostojewskij in den „Brüdern Karamasow" mit der Halluzination Iwans, als dieser, im Fieber phantasierend, plötzlich bemerkte, daß irgendein Herr, „ein russischer Gentleman", ihm gegenüber auf dem Diwan saß. Das lange Gespräch, in das sich Iwan mit diesem unerwarteten ,Besuch' einließ, ist von einer so tiefen Bedeutung und psychologischen Echtheit, daß man kaum eine Parallele dazu in der Weltliteratur finden kann. Wenn Iwan auch fiebert, begreift er trotzdem, daß sein Gast einerseits kein Mensch, sondern ein Teufel ist, und daß er anderseits überhaupt keine Realität, sondern nur eine Verkörperung des Ich Iwans darstellt: eine Verkörperung seiner Gedanken und Gefühle, „aber nur der niedrigsten und dümmsten". Infolgedessen lehnt Iwan es ganz entschieden ab, diesen unheimlichen Gentleman für eine Wirklichkeit zu halten. „Du bist ich, ich", sagt er zu ihm, „ich rede selbst, und nicht du ... Lüge bist du, meine Krankheit bist du ..., keinen Augenblick akzeptiere ich dich als Wirklichkeit." Anfangs gibt sich der Teufel viel Mühe, seine Realität Iwan gegenüber zu beweisen. Doch etwas später gesteht er selbst ein, er hege einen aufrichtigen Wunsch, sich in irgendeine menschliche Daseinsform zu verkörpern, menschliche Sitten, Gebräuche, sogar Krankheiten und Aberglauben anzunehmen. „Ich liebe die Menschen aufrichtig", sagt der Teufel zu Iwan, „oh, man hat mich in vielen Dingen unglaublich verleumdet! Hier, hienieden, wenn ich zeitweilig wieder einmal zu euch übersiedle, fließt mein Leben dahin, als ob es tatsächlich etwas wäre, und das ist es gerade, was mir am meisten gefällt. Denn ich leide doch gleichfalls, ganz so wie du, unter dem Phantastischen, und darum liebe ich euren irdischen Realismus. Hier bei euch ist alles fest umrissen, hier gibt es Formeln, hier gibt es Geometrie, bei uns dagegen gibt es nichts als immer nur irgendwelche unbestimmte Gleichungen. Hier gehe ich und träume. Ich liebe das Träumen. Und zudem werde ich hier auf Erden abergläubisch ... Ich nehme hier alle eure Gewohnheiten an: es macht mir Spaß, in die öffentliche Badestube zu gehen — kannst du dir vorstellen?—,und ich liebe es, mit Kaufleuten und Popen Schwitzbäder zu nehmen. Mein Lieblingstraum ist, mich zu verkörpern — aber endgültig und unwiderruflich — in irgendeine dicke, zweieinhalb Zentner schwere Kaufmannsfrau und an alles zu glauben, woran sie glaubt. Mein Ideal ist, in die Kirche zu gehen und dort aus reinem Herzen vor einem Heiligenbild eine Kerze aufstellen zu können. Ach, richtig, und ich habe noch an etwas Gefallen gefunden, das ist: mich hier bei euch zu kurieren. Im Frühling herrschten die Pocken, da ging ich ins Findelhaus und ließ mich gegen Pocken impfen — nein, wenn du wüßtest, wie zufrieden ich an jenem Tage war! Ich spendete sogar zehn Rubel für unsere malträtierten slawischen Brüder." Als der Teufel erwähnt, er habe sich im vorigen Jahre einen Rheumatismus geholt, fragt Iwan ihn höhnisch: „Kann der Teufel auch Rheumatismus haben?" — „Warum denn nicht?" antwortet dieser, „wenn ich mich zuweilen verkörpere. Verkörpere ich mich, so muß ich auch alle Folgen auf mich nehmen. Satanas sum et nihil humani a me alienum puto."4 Der letzte Satz befremdet Iwan. Sein Gast ist doch ein Teufel, und trotzdem ist ihm alles Menschliche nicht fremd? Aber wenn er sich verkörpert? Dann wird er zum Menschen und muß das menschliche Los teilen.

Gerade hier bricht jener tiefere Sinn der teuflischen Verhüllung durch. Wie Christus will auch der Teufel die menschliche Natur annehmen, das menschliche Schicksal teilen und dadurch die Menschwerdung des Logos nachäffen. Um all das aber verhöhnen zu können, wählt er nicht die tragischen Tiefen des Menschen, in denen das Gottesbild als sein Urbild ruht, sondern gerade die alltägliche Oberfläche mit ihrem Aberglauben und ihren bürgerlichen Wünschen. Die zweieinhalb Zentner schwere Kaufmannsfrau wird zum Symbol dieser satanischen Fleischwerdung. Wie Christus nimmt auch der Teufel das Schicksal des Menschen auf sich, nicht aber in seinem Ernst, sondern in der Gestalt der Schwitzbäder, der Angst vor Pocken, des Rheumatismus und der anderen lächerlichen Angelegenheiten. Wie Christus will auch der Teufel in die Kirche gehen, jedoch nicht um Worte der Erlösung zu verkünden, sondern um eine Kerze vor einer Ikone aufzustellen, d. h. eine unbedeutende Zeremonie zu verrichten. Die ganze menschliche Scheingestalt des Teufels ist derart gewoben, daß sie einerseits in einer engen Parallele mit der Menschwerdung des Logos läuft, anderseits aber diese verspottet und verhöhnt. Der Teufel versteckt sich hinter der menschlichen Natur nicht nur, um dadurch an den Menschen herantreten zu können, sondern auch, um die Menschwerdung des ewigen Logos zu karikieren. Dem verklärten Christus als dem Ideal der Menschheit stellt der Teufel die dicke und abergläubische Kaufmannsfrau gegenüber als den eigentlichen Raum seiner Behausung in der Geschichte. In der Verhöhnung der Menschwerdung des Logos und seiner durch die Auferstehung verklärten menschlichen Natur liegt der tiefste Sinn — jenes theologische Ziel — der satanischen Verhüllung und Verstellung.

Es scheint, daß die Offenbarung auch nichts anderes als eben dieses satanische Sichverstecken im Sinne hat, wenn sie uns von einem Tier, das sich von der Erde erhebt, erzählt (vgl. Offb 13, 11). Das erste Tier, das aus dem Meer auftauchte, war zu Tode verwundet. Aber um diese Todeswunde zu heilen, erhob sich ein anderes Tier von der Erde selbst. Es wirkte große Zeichen und verführte die Bewohner der Welt (vgl. Offb 13, 13). Die von Christus erlöste Menschheit begab sich wieder in die Sklaverei der Götzen, denn sie betete das Bild des ersten Tieres an. An dieser Stelle veranlaßt uns der hl. Johannes, über das Wesen des zweiten Tieres nachzudenken. „Wer Einsicht hat, be-redine die Zahl des Tieres", sagt er und fügt erklärend hinzu: „Es ist eines Menschen Zahl — numerus enim hominis est" (13, 18). Wenn wir also die Zahl jenes Menschen berechnen könnten, würden wir auch die Zahl, d. h. den Namen des zweiten Tieres erraten. Und fürwahr, es wurden viele Versuche in diesem Sinne gemacht; leider schlugen sie alle fehl. Die Offenbarung hat uns die Zahl jenes eigenartigen Menschen verschwiegen, und darum blieb auch der Name des Tieres ein Geheimnis. Eines aber hat uns die Offenbarung trotzdem gesagt, nämlich: die Zahl des Tieres ist die des Menschen. Und das ist das Wesentliche. Mag der Name jenes Menschen im dunkeln bleiben, wir wissen doch, daß der Träger dieses Namens, d. h. der Verkünder und Helfer des zweiten Tieres, Mensch ist. Das zweite Tier erscheint in der Geschichte angetan mit menschlichen Zeichen, versteckt hinter menschlichen Taten, verkörpert im menschlichen Leben. Der Mensch ist die Gestalt des unter dem Symbol des zweiten Tieres in der Geschichte wirkenden Teufels.

Deswegen weist die Offenbarung sinnvoll darauf hin, daß das zweite Tier sich von der Erde erhebt, nicht vom Meere wie das erste. Die Erde ist ja unser Daseinsraum. Deshalb ist uns alles, was aus ihr entsteht, nah und annehmbar bzw. erträglich. Wenn also das Tier sich von der Erde erhebt, erhebt es sich in der Tat von unserem gesamten Dasein, wird uns dadurch verwandt, von uns angenommen und angebetet. Wir glauben seinen Worten, denn wir glauben, uns selbst reden zu hören. Wir errichten ihm Altäre in unseren Tempeln, denn wir glauben, dadurch unserer Technik und Kunst, Wissenschaft und Philosophie, Wirtschaft und Gesellschaft, im allgemeinen unserem ganzen Kulturleben Ehre zu erweisen. Wie Christus seine Menschwerdung durch die sichtbar auf der Erde wirkende Kirche in Raum und Zeit entfaltet, so sucht auch sein Widerpart sich in den Gestalten des irdischen Lebens zu verkörpern und damit Raum und Zeit in seine Gewalt zu bekommen. Mit Hilfe der Erde, d. h. unseres Daseins selbst, will er sein Reich errichten, ein Reich, das dem von Christus errichteten möglichst ähnlich sein soll. Die Offenbarung bemerkt, daß das zweite Tier „zwei Hörner wie ein Lamm" hatte, obwohl es „wie ein Drache" redete (13, 11). Diese Bemerkung ist sehr aufschlußreich. Das Wesen des Tieres, durch das Wort ans Licht gebracht, zeigt seinen satanischen Charakterzug. Doch die irdische Gestalt überdeckt das Satanische in ihm, und von außen gesehen, erscheint es sogar Christus ähnlich. Seine Entstehung aus der Erde ermöglicht es ihm, die Menschwerdung des Logos nachzuäffen und dadurch „die ganze Gewalt des ersten Tieres" auszuüben (vgl. Offb 13, 12). Der Antichrist, der unter der Gestalt des Tieres „von der Erde" in der Geschichte erscheint, ist der gefährlichste Feind der erlösten Menschheit, weil er sich unkenntlich macht. Im Bilde des zweiten Tieres, das sich von unserem irdischen Dasein erhebt, erreicht die satanische Verstellung historische Ausmaße und zugleich apokalyptische Perspektiven.

2.

DIE AUSSCHALTUNG DES

ÜBERNATÜRLICHEN

Solowjew stellt in seiner Erzählung fest, daß die Erscheinung des Antichrist am Ende der Geschichte geradezu mit dem Zerfall des Materialismus zusammengeht. Die großen Fragen über das Leben und den Tod, über das endgültige Schicksal des Menschen und der Welt blieben zwar auch im 21. Jahrhundert ungelöst. Die neuesten psychologischen Untersuchungen und Entdeckungen erhellten diese Frage bei weitem nicht; im Gegenteil, sie machten ihre Lösung noch komplizierter und verwirrter denn je. Eines ist aber für die Weltanschauung der Menschheit trotzdem gewonnen worden: der Zusammenbruch des theoretischen Materialismus. „Die Vorstellung vom All als von einem System tanzender Atome und vom Leben als einem Resultat mechanischer Häufung kleinster Veränderungen der Materie befriedigt keinen denkenden Geist mehr. Uber diese Stufe des philosophischen Kindesalters ist die Menschheit endgültig hinausgewachsen." Aus diesem Grunde macht auch Solowjew seinen Antichrist zu einem Spiritualisten: er sucht ihn „unter den wenigen gläubigen Spiritualisten". Anfangs werden wir stutzig über diese sich scheinbar widersprechende Zusammenballung der geistigen Eigenschaften des Antichrist. Ist denn der Materialismus nicht die wesentliche Verneinung Gottes? Verkörpern daher nicht die Materialisten den entschiedensten Kampf gegen alles, was göttlich ist? Soll also nicht der Antichrist als die sichtbarste Objektivation dieses Kampfes das deutliche Merkmal der materialistischen Weltanschauung tragen? Und dennoch bestätigt Solowjew unsere Vermutungen und Erwartungen durch seine Erzählung nicht. Sein Antichrist ist weder selbst ein Materialist, noch entstammt er der materialistischen Geschichtsepoche. Er erscheint gerade dann, wenn der Materialismus zur Neige geht, wenn die Menschheit die Stufe des philosophischen Kindesalters für immer überwunden hat.

Damit will Solowjew offenbar sagen, daß der wahre und heftige Kampf gegen Christus und seine Kirche nicht vom Materialismus, sondern eben vom Spiritualismus zu erwarten ist. Der Materialismus ist im Grunde genommen nie imstande, Gott einen tiefen Kampf anzusagen, weil für ihn Gott nur eine Phantasie, nur ein Vorurteil der Massen ist. Der Kampf eines Materialisten ist in der Tat nicht so sehr ein Aufstand gegen Gott selbst als vielmehr eine Bemühung, die ,vorurteilsvolle' Psyche der Massen umzuerziehen. Gewiß, diese kann auch scharf und grausam genug werden, doch es fehlt dem Kampf des Materialismus der eigentliche Gegenstand. Seinem Wesen nach ist dieser Kampf immer nur Propaganda. Für den Spiritualisten dagegen ist Gott nicht eine aus Vorurteil geborene Vorstellung des Volkes, sondern eine Realität. Deshalb nimmt auch der Kampf des Spiritualisten einen ganz anderen Charakter an. Der Spiritualist rebelliert tatsächlich gegen Gott. Sein Ringen mit ihm ist ein wahrer Kampf, der sein Objekt und zugleich seine metaphysische Tiefe hat und sich nicht wie der des Materialisten lediglich in der psychologischen Umschulung der Massen erschöpft. Der Spiritualist ist ein wirklicher Kämpfer und deshalb ein tieferer und gefährlicherer Gegner Christi und der Kirche als der Materialist. Im Heeresdienst des Tieres sind die Materialisten nur Waffenträger und Knappen. Doch die Ritter, die in den ersten Reihen kämpfen, sind überzeugte Spiritualisten, die an das Gute und an Gott glauben. Und nur dieser Glaube verleiht ihnen Kraft und Ausdauer in dem tragischen Ringen, läßt sie in ihrer negativen Haltung ausharren und spornt sie zu Mut und Opfer an. Indem Solowjew also seinen Antichrist als Spiritua-listen auftreten läßt, warnt er uns davor, uns ohne weiteres auf die spiritualistische Weltanschauung zu verlassen und im Zerfall des Materialismus ein besonders freudiges Zeichen für das Christentum zu sehen. Es nähern sich Zeiten, da die Kirche Christi viel stärkere und gefährlichere Schläge seitens des Spiritualismus erhalten wird, als ihr der Materialismus je zugefügt hat.

Als „überzeugter Spiritualist" tritt also der Antichrist auf die Bühne der Weltgeschichte und gibt sich als Gläubiger, als Beschützer und Verteidiger der Religion zu erkennen; er unternimmt es sogar, die zersplitterte Kirche Christi wieder zur Einheit zu bringen. „Nach der glücklichen Lösung der politischen und der sozialen erhob sich die religiöse Frage", erzählt uns Solowjew. „Sie wurde durch den Kaiser selbst angeregt, und zwar in erster Linie im Bezug auf das Christentum... Zu Beginn des vierten Jahres seiner Herrschaft erläßt er ein Manifest an alle gläubigen Christen ohne Unterschied der Konfessionen, in welchem er sie auffordert, bevollmächtigte Vertreter für ein ökumenisches Konzil, das unter seinem Vorsitz stattfinden soll, zu wählen oder zu bestimmen." Auf diesem Konzil sprach der Weltimperator zu der Versammlung: „Christen, sagt mir, was euch das Teuerste am Christentum ist, damit ich meinen Bemühungen diese Richtung geben kann." Im Konzilssaal „erhob sich ein dumpfes Gemurmel. Die Konzilsväter flüsterten miteinander", niemand aber gab dem Kaiser eine klare Antwort. Dann redete er weiter: „Ich verstehe, wie schwierig für euch eine bündige Antwort ist. Auch hierin will ich euch helfen. Unglücklicherweise seid ihr seit so unvordenklichen Zeiten in verschiedene Bekenntnisse und Parteien auseinandergefallen, daß ihr vielleicht auch keinen gemeinsamen Wunsch mehr fassen könnt. Wenn ihr aber untereinander nicht in Einklang zu kommen vermögt, so hoffe ich, alle eure Parteien dadurch in diesen Einklang zu bringen, daß ich ihnen allen gleiche Liebe erweise und die gleiche Bereitschaft, das wahre Streben einer jeden zu befriedigen." Und an dieser Stelle seiner Eröffnungsrede bot der Imperator, wie wir bereits kurz erwähnt haben, seine Gaben an: den Katholiken die Wiederherstellung der päpstlichen Autorität, den Orthodoxen die Errichtung eines Museums für Archäologie, den Protestanten die Gründung eines Weltinstituts für freie Erforschung der Heiligen Schrift.

Zu den Katholiken sprach der Kaiser: „Liebe Christen! Ich weiß, daß für viele, und nicht die Letzten unter euch, das Teuerste am Christentum die geistliche Autorität ist, die es seinen gesetzmäßigen Vertretern verleiht, freilich nicht für deren persönlichen Vorteil, sondern zum Heile aller, da auf dieser Autorität die rechte geistliche Ordnung sich gründet und die sittliche Disziplin, deren alle Menschen bedürfen." Hier bedauerte der Antichrist sogar, daß er seine Herrschaft nicht auf die geistige Autorität des Oberhauptes der römischen Kirche stützen kann. Um jedoch seine tiefe Ehrfurcht dem Papst gegenüber zu erweisen, fuhr er fort: „Der oberste Bischof aller Katholiken, der Papst von Rom, wird nun wieder auf seinen Stuhl in Rom gesetzt mit allen früheren ihm seit den Zeiten Konstantins des Großen von unseren Vorgängern verliehenen Rechten und Privilegien seines Standes und seiner Kathedra." Als Gegenleistung verlangte der Kaiser: „Und von euch, meine katholischen Brüder, will ich dafür nur die aus tiefem Herzen kommende Anerkennung, daß ich euer einziger Vertreter und Beschützer bin. Wer von euch mich nach Gewissen und Gefühl als solchen anerkennt, der komme her zu mir." Da die päpstliche Autorität der wesentliche Bestandteil des Katholizismus ist und da jeder, der diese Autorität unterstützt, als Förderer des sichtbaren Vermächtnisses Christi gilt, begaben sich „fast alle katholischen Kirchenfürsten, Kardinäle und Bischöfe, ein großer Teil der gläubigen Laien und mehr als die Hälfte der Mönche" auf die Estrade und nahmen die schon im voraus zu diesem Zweck vorbereiteten Plätze neben dem Thron des Weltherrschers ein. Sie waren durch die Größe dieses Geschenkes betäubt und gleichzeitig in ihrem Herzen entzückt.

„Das Papsttum", erzählt Solowjew, „war schon lange aus Rom vertrieben worden und hatte nach vielen Irrfahrten in Petersburg Zuflucht gefunden unter der Bedingung, sich hier und im ganzen Lande der Propaganda zu enthalten. In Rußland vereinfachte es sich in mancher Beziehung ... Viele eigentümliche Gebräuche voll verführerischen Reizes wurden zwar formell nicht abgeschafft, kamen aber von selbst außer Gebrauch." Diese verarmte und dürftige Erscheinung der päpstlichen Gewalt erlangt jetzt plötzlich durch eine einzige Geste des Kaisers wieder ihren ursprünglichen Glanz und ihre ganze einstige Macht. Sie wird nicht nur in ihren anfänglichen, durch das Blut der Märtyrer bezeichneten Raum zurückversetzt, sondern auch mit allen

Rechten und Privilegien ausgestattet, die dem Heiligen Stuhl jemals in der Geschichte verliehen worden waren. Der Papst erhebt sich wieder in seiner ganzen Größe, Ehre und Macht vor den Augen der Welt. Ein tiefer Enthusiasmus ergreift deshalb die Vertreter des Katholizismus am Weltkonzil, und mit freudigen Rufen: „Gratias agimus!" antworten sie auf diese weitherzige Geste des Herrschers und zaudern keine Minute, seinem Wink zu folgen. Nur ein einziges ,kleines' Ereignis stört ihre vollkommene Freude: der Papst Petrus II. bleibt „aufrecht und unbeweglich wie eine Marmorstatue" inmitten des Konzils sitzen. Er antwortet nichts auf die Einladung des Weltbemäch-tigers. Er zeigt weder Freude noch Dank dafür. Er seufzt nur und flüstert verhalten: „Non praevalebunt." Ahnt er etwas Unheiliges und Böses in diesem Geschenk?

Die Autorität der katholischen Kirche ist die geschichtliche Verwirklichung jener vollkommenen und universalen Gewalt, die Christus im Himmel und auf der Erde besitzt (vgl. Mt 28, 18). Ihre sichtbaren Träger auf Erden haben also ihre geistige Macht nicht durch eigenes Verdienst erworben, sie ist ihnen auch nicht durch eine irdische Entscheidung beschieden, sondern sie empfangen sie unmittelbar von Christus als eine natürliche Folgerung seines Verbleibens und Wirkens in der Kirche. Die Autorität der Kirche ist göttlich und steht deshalb in keinem wesentlichen Zusammenhang mit irgendeiner irdischen Macht. Wohl haben sich einige Nachfolger der Apostel dieser Macht bedient, um die sichtbare Gestalt der Kirche, die Fassade des ewigen Tempels, auszuschmücken und in den Augen der Menschen eindrucksvoller strahlen zu lassen, doch blieben die irdischen Rechte und Privilegien immer nur ein zufälliges, ab und zu sogar ein lästiges Element im Leben und Wirken der Kirche. Dadurch aber wird auch die Tücke klar, die in der Wiederherstellung der päpstlichen Autorität durch den Imperator stecht. Der Antichrist behandelt die kirchliche Autorität nur wie eine Angelegenheit des praktischen Lebens. Er schaltet das übernatürliche Fundament, das Christus selbst ist, aus ihr aus und stellt die päpstliche Gewalt auf eine Stufe mit der irdischen Macht. Er sucht die von ihm wiederhergestellten Rechte und Privilegien zu dem eigentlichen Quell dieser Gewalt zu machen und damit die Welt zu überzeugen, das Papsttum sei nur ein abstrakter Begriff, nur eine ohnmächtige Institution, wenn es sich nicht auf die irdische Macht stütze. Diese aber verleiht dem Papst er, der Weltherrscher, der neue Imperator Romanus, durch seine Gnade und stellt sich deshalb über den Papst. Folgerechtig verlangt er von den Gläubigen Anerkennung „nach Gewissen und Gefühl", daß er, und nicht der Stellvertreter Christi, „einziger Vertreter und Beschützer" der Katholiken ist. Nicht Christus soll der eigentliche Quell der päpstlichen Gewalt und Autorität sein, sondern der Imperator. Nicht im Namen Christi soll der Papst seine Herde weiden, sondern im Auftrag des Weltherrschers. Die Ausschaltung Christi aus der päpstlichen Autorität liegt der Gabe des Kaisers an die Katholiken zugrunde. Eben deshalb ist diese Gabe antichristlich, und eben deshalb bleibt Papst Petrus II. auf seinem Platz sitzen.

Eine gleiche antichristliche Tücke steckt auch in der Gabe des Kaisers an die Orthodoxen. An diese gewandt, sprach der Weltherrscher: „Ich weiß, daß es unter euch auch solche gibt, denen das Teuerste am Christentum dessen heilige Überlieferung ist, die alten Symbole, die alten Gesänge und Gebete, die Ikonen und der gottesdienstliche Ritus. So wisset denn, Geliebte, daß heute von mir das Statut unterzeichnet ist und reiche Mittel bereitgestellt sind für ein Weltmuseum der christlichen Archäologie in unserer ruhmvollen Kaiserstadt Konstantinopel. Hier sollen alle Denkmäler des kirchlichen, vorzüglich des östlichen Altertums gesammelt, erforscht und bewahrt werden." Die Idee des Fortschritts hatte in den letzten Jahrhunderten die Aufmerksamkeit der Menschen zuviel auf die Zukunft gelenkt und die Vergangenheit infolgedessen herabgesetzt. Die Tradition verblaßte im Bewußtsein des Menschen und wurde sogar als eine Belastung für die unaufhaltsam fortschreitende Kultur empfunden. Aber der Weltkaiser, der das Weltgeschick in seinen Händen hält, erkennt den Wert der Uberlieferung an. Das Weltmuseum für christliche Archäologie soll ein Sammelpunkt des Vergangenen in der Gegenwart sein. Es soll zu einer großartigen Kathedrale werden, wo antike Liturgien gefeiert und alte Lieder zur Ehre des Herrn gesungen werden. Große Freude überströmte daher die Vertreter der Ostkirche, und „ein großer Teil der Hierarchen des Ostens und des Nordens, die Hälfte der orthodoxen Priester, Mönche und Laien" stimmten der Einladung des Imperators aufrichtig zu und kamen mit freudigen Ausrufen auf die Estrade. Mit verwunderten Augen schauten sie aber, wie früher auch die Katholiken, auf ihren bisherigen, wenn auch nicht offiziellen Führer, den Starez Johannes, der sich nicht von seinem Platz bewegte. Er erwiderte nichts auf das Angebot des Kaisers und bestieg die Estrade nicht. Im Gegenteil, er verließ „seine Bank und setzte sich näher zu Papst Petrus und dessen Kreis". Was bedeutet nun sein Schweigen?

Die Geschichtlichkeit ist eines der wesentlichen Merkmale der Kirche. Die Kirche ist die beständige Präsenz Christi im erlösten Kosmos. Deshalb trägt sie ihre Vergangenheit in sich als einen organischen Bestandteil ihrer Existenz. Die Vergangenheit der Kirche fällt nie von ihr ab wie ein dürr gewordener Ast, sondern lebt und wirkt in ihrer Gegenwart. Die Überlieferung bringt diese ewig lebendige Vergangenheit zum sichtbaren Ausdruck. Daher fällt der Tradition eine besondere Bedeutung im Leben der Kirche zu. „Das Leben der Kirche", sagt N. Berdjajew, „ist auf heiliger Tradition, auf Sukzession gegründet. Durch die Tradition gehen wir in die geistige Welt, in das Leben unseres neuen geistigen Geschlechtes ein. Die Tradition ist eben überpersönliche, gesammelte Erfahrung, schöpferisches geistiges Leben, das von Geschlecht zu Geschlecht weiterwirkt, das die Toten und Lebenden miteinander verbindet, das den Tod überwindet. In der Welt herrscht der Tod. In der Kirche gibt es aber keinen Tod. Tradition ist vom Tode erweckende Erinnerung, Sieg über Tod und Verwesung, Behauptung des ewigen Lebens ... Die Tradition kommt von innen her; sie ist reale, seinsmäßige Überwindung der Spaltung der Zeit, ein Einfangen der Ewigkeit im todbringenden Strom der Zeit, Verbindung des Vergangenen, des Gegenwärtigen und Zukünftigen zu einer Ewigkeit. Das Leben in der Tradition der Kirche ist Leben in der Ewigkeit."5Anders ausgedrückt: Die Tradition erhält und offenbart die Ge-schichtlichkeit der Kirche. Infolgedessen ist sie im religiösen Sinne nichts anderes als der in den geschichtlichen Gestalten verkörperte Christus selbst. Wie die Menschlichkeit Jesu der sichtbare Träger der persönlichen Fleischwerdung des Logos ist, so bildet die kirchliche Überlieferung den sichtbaren Träger für seine geschichtliche Entfaltung und Offenbarung. Daher ist sie immer lebendig, denn immer lebendig ist ihr eigentlicher und tiefster Inhalt — Christus. Daher auch bildet sie eine der Quellen, aus denen die Kirche ihre Lebenskraft schöpft, und eine der Wirkungsweisen, durch die sich der Heilige Geist erkennen läßt.

Was aber macht der Imperator durch sein Geschenk daraus? Schon allein der Name verrät uns die antichristliche Einstellung des Herrschers der kirchlichen Überlieferung gegenüber. Der Kaiser gründete ein Weltmuseum für christliche Archäologie, in dem „alle Denkmäler des kirchlichen ... Altertums gesammelt, erforscht und bewahrt werden" sollen. Dadurch enthüllte er seine bisher verborgene Ansicht, daß die kirchliche Tradition ihm nur ein totes und erstarrtes Überbleibsel der vergangenen Jahrhunderte ist, daß er sie nicht für den beständig wirkenden Christus hält, sondern nur für einstmals gewesene Gestalten und Formen, welche die Kirche schon längst durch ihre Entwicklung überholt habe. Da sie aber einem Teil der Christenheit als Erinnerung teuer geblieben sind, will sie der Imperator in die Schränke seines Weltmuseums einschließen, von Besuchern bewundern, von Altertumsforschern beschreiben und sichten lassen. Er betrachtet sie als versteinerte Hüllen, die sich im Laufe der Zeit erhalten haben wie Überreste von ursprünglichen Pflanzen, Tieren und menschlichen, seit langem versunkenen Kulturen. Er macht sie zur reinen Vergangenheit, die für ewig gestorben ist. Wenn aber die heilige Überlieferung stirbt und zu einem Überrest wird, so ist auch die Kirche keine übergeschichtliche Wirklichkeit mehr. Sie verwirklicht sich nur im Geschehen der Zeit und geht nur hienieden ihrer Vollendung entgegen. Die Eingliederung der Kirche in die Geschichte der Welt ist das Ziel des Antichrist, das dieser durch die Erklärung der kirchlichen Tradition für einen toten Museumsgegenstand erreichen will. Die Kirche ist, nach der Ansicht des Imperators, nur eine rein irdische Macht, die das gleiche Los mit allen anderen Mächten der Erde teilt: sie entsteht, wächst auf und stirbt. Viele von ihren Teilgestalten sind bereits gestorben. Es kommt die Zeit, da sie auch als Ganzes aufhört, zu existieren. Stirbt aber die Kirche, dann ist auch Christus für ewig gestorben, dann lebt er in ihr nicht persönlich, sondern nur als Erinnerung. Die oben erwähnte Überzeugung des Imperators, Christus sei im Grabe verfault, kommt in seinem archäologischen Museum zum klarsten Ausdruck. Dieses Museum soll ein Sinnbild und zugleich auch das Grabmal für den gestorbenen und nicht auferstandenen Christus sein. Hierin liegt nun gerade sein letzter Sinn und sein antichristlicher Charakterzug, der den Starez Johannes zwingt, auf seinem Platz zu bleiben und sogar näher an den Papst heranzurücken, denn das antichristliche Vorhaben des Weltherrschers wird bei jedem seinem Geschenk immer deutlicher.

Zu den Protestanten sprach der Imperator: „Wohlbekannt sind mir auch solche unter euch, liebe Christen, denen das Teuerste am Christentum die persönliche Wahrheitsgewißheit und die freie Erforschung der Schrift ist. Wie ich darüber denke, das bedarf keiner Erörterung. Ihr wißt vielleicht, daß ich schon in früher Jugend ein großes Werk über Bibelkritik geschrieben habe, das seinerzeit einigen Lärm erregt und meinen Ruhm begründet hat. Und wohl in der Erinnerung hieran sendet mir nun dieser Tage die Universität Tübingen ein Gesuch, ich möchte von ihr das Diplom eines Ehrendoktors der Theologie entgegennehmen. Ich habe antworten lassen, daß ich die Ehrung mit Befriedigung und Dankbarkeit annehme. Und heute habe ich außer der Stiftungsurkunde des Museums für christliche Archäologie auch diejenige des Weltinstituts für freie Erforschung der Heiligen Schrift von allen möglichen Seiten und in allen möglichen Richtungen und für das Studium aller Hilfswissenschaften unterschrieben und ihr ein Jahresbudget von anderthalb Millionen Mark zugewiesen." Die Protestanten entflammten ebenso vor Freude wie zuvor die Katholiken und die Orthodoxen. Auf der freien Auslegung der Heiligen Schrift beruht doch ihr Glauben. Im Laufe der Geschichte haben sie sich deshalb viel Mühe gegeben, um den wahren Sinn des Gotteswortes zu enthüllen. Trotz allem blieb es jedoch nach wie vor geheimnisvoll und dunkel. Der große Fortschritt in der biblischen Wissenschaft der letzten Jahrhunderte trug sogar dazu bei, daß sich jede Auslegung der Schrift für begründet und deshalb für gerechtfertigt, ja sogar bindend hielt. Infolgedessen wurde die Verwirrung der Ansichten auf dem Gebiet der Exegese noch größer als früher. Vielleicht aber lag die Schuld darin, daß all diese Bemühungen lediglich von einzelnen Personen oder vereinzelten Institutionen getragen wurden. Doch von nun an wird diese private und daher unzulängliche Initiative durch ein öffentliches, mit reichen Mitteln ausgestattetes Weltinstitut abgelöst. Die Konzentration der gelehrten Kräfte und aller bisherigen Erfahrungen wird es sicher ermöglichen, bis in die eigentliche Tiefe der Bibel einzudringen und den wahren Sinn des Gotteswortes zu erfassen. Sollten also die Protestanten diese herrliche Gabe des Kaisers nicht annehmen? „Mehr als die Hälfte der gelehrten Theologen bewegte sich zur Estrade, wenn auch nicht ohne zu zaudern und zu schwanken." Sie dachten dabei, die endgültige Krönung und Vollendung ihrer jahrhundertelangen Bemühungen sei gekommen. Aber ebenso hier wie früher bei den Katholiken und den Orthodoxen trat ein Ereignis ein, das die Freude der evangelischen Konfession trübte: ihr Führer auf dem Weltkonzil, Professor Ernst Pauli, erhob sich nicht. Er schien „in seinem Sitz gleichsam festgewachsen" zu sein. „Er senkte sein Haupt, krümmte den Rücken und zog sich in sich zusammen." Anstatt der Einladung des Imperators Folge zu leisten und sich mit den andern auf die Estrade zu begeben, „hob er seinen Kopf, stand mit einer etwas unsicheren Bewegung auf, ging, begleitet von den standhaften Glaubensgenossen, an den leer gewordenen Bänken vorbei und ließ sich mit ihnen in der Nähe der Christen nieder, die sich um den Starez Johannes und den Papst Petrus gesammelt hatten". Was Betrügerisches und Tückisches stellte er im Angebot des Imperators fest?

Das wahre und alleinige Objekt der Heiligen Schrift ist der menschgewordene Logos. Das Alte Testament verkündet uns ihn als göttliche Verheißung, das Neue Testament offenbart uns ihn als göttliche Erfüllung. Alle menschlichen Realitäten des Alten Testamentes sind in ihrem tiefsten Sinne nichts anderes als Zeichen und Hinweise auf das übernatürliche Sein, das der Menschheit zu einer von Gott selbst bestimmten Stunde der Weltgeschichte sich offenbaren und in der persönlichen Gestalt Jesu von Nazareth erscheinen sollte. „Kaum dürfte sich in den Psalmen ein Wort finden", sagt der hl. Augustinus, „das nicht von Christus und der Kirche gesprochen wäre, oder von Christus allein, oder von der Kirche allein"6. Und nicht nur in den Psalmen. Der hl. Augustinus weist uns auf das richtige Verständnis des Alten Testamentes hin, wenn er sagt: „Die Zeichen sind gewandelt, nicht aber der Glaube. Die Zeichen sind gewandelt, die eine Sache bedeutet haben, nicht die Sache selbst, die bedeutet wurde. An Stelle Christi stand der Widder, an Stelle Christi das Lamm, an Stelle Christi der Bock: alles ist Christus... Aber verschleiert war dies alles, bis der Tag erschien und die Schatten schwanden."7 Das Neue Testament ist bereits eine unmittelbare Darstellung dieser gottmenschlichen Persönlichkeit in all ihren Situationen des irdischen Daseins. Die rein menschliche Wirklichkeit hat sich hier beinahe völlig zurückgezogen. Das Neue Testament ist nicht mehr ein Hinweis auf den kommenden Logos, sondern eine direkte Beschreibung seiner Menschwerdung und seines Menschseins. Steht Christus im Alten Testament noch im Hintergrund als das verborgene und nur in Figuren und Symbolen ausgedrückte Objekt, so tritt er im Neuen Testament in den Vordergrund und wird hier zum Zentrum, um das sich alles sammelt und dreht. Die beiden Testamente geben also nicht das menschliche Sein wieder, sondern offenbaren den göttlichen Logos. Einen eigenen, von Christus als dem Gottes- und Menschensohn unabhängigen Sinn und Wert besitzt die Bibel nicht. Ihre Grundbestimmung ist das Verkünden.

Kann also eine wissenschaftliche Forschung für dieses Verkünden von Bedeutung sein? — ]a und zugleich auch nein. Ja, insofern sie die im Lauf der Jahrhunderte entstellte und verblaßte menschliche Wirklichkeit wiederherstellt und belebt. Nein, insofern sie den endgültigen und wahren Sinn des Gotteswortes zu erfassen sucht. Die Entstellung der menschlichen Wirklichkeit in der Bibel entsteht aus mannigfachen Gründen. Verschiedenste Faktoren, wie Besonderheit des altertümlichen Denkens, uns schwer verständliche Ausdrucksweise der Orientalen, hie und da beim Abschreiben unterlaufene Fehler, Unvollkommenheit der Übersetzungen, spielen dabei eine mehr oder weniger wichtige Rolle. Gerade deswegen bemüht sich die wissenschaftliche Forschung, diese fremdgewordene Wirklichkeit uns näherzubringen. Eine eingehende exegetische Untersuchung ist heute unumgänglich geworden. Die Erhaltung der Offenbarung Gottes im Verlauf der Geschichte ist nicht nur Gnade des Heiligen Geistes, sondern gleichzeitig auch Aufgabe des Menschen, die dieser durch seine wissenschaftliche Bemühung zu erfüllen hat. Doch im Hinblick auf das eigentliche Objekt der Heiligen Schrift ist diese Aufgabe, wenn auch in sich wichtig und sinnvoll, nur eine Vorarbeit. Selbst die vollkommenste Wiederherstellung der in der Bibel sich findenden menschlichen Realitäten enthüllt uns nicht ihren wahren und tiefsten Sinn, weil dieser Sinn nicht auf der menschlichen Ebene, sondern geradezu jenseits von ihr liegt und infolgedessen dem rein wissenschaftlichen Erkennen unzugänglich bleibt. Es ist also von Grund aus falsch, das ganze Gewicht auf die wissenschaftliche Erforschung der Bibel zu legen, denn damit betastet man nur ihre menschliche Oberfläche, nur ihre Fassade, läßt aber ihren eigentlichen Tempel außer acht, der ihr göttliches Wesen birgt.

Dagegen beabsichtigt der Imperator, gerade den Weg der rein profanen Forschung durch sein Institut einzuschlagen. Indem er die ganze Aufmerksamkeit der Protestanten auf die wissenschaftliche Erforschung der Heiligen Schrift und der angrenzenden Gebiete lenkt, diese Erforschung zu einer Staatsangelegenheit macht und sie mit reichen Mitteln unterstützt, schaltet er den wahren Inhalt, nämlich Christus, aus diesem ewigen Buch aus oder läßt ihn mindestens in Vergessenheit geraten. Der antichristliche Geist lehnt die Bibel nie ab, insofern sie als ein philologisches, volkskundliches, geschichtliches, soziologisches oder literarisches Werk betrachtet wird. Im Gegenteil, in all diesen Hinsichten hält der Antichrist die Heilige Schrift für ein bedeutsames und aufschlußreiches Dokument der einst in Blüte gestandenen, jetzt aber schon versunkenen Kulturen, deshalb unterstützt er gern ihre Erforschung, kauft und sammelt ihre Manuskripte, läßt sie sorgfältig photographieren, untersuchen und in Museen bewahren. Er redet aber nie über den wahren Inhalt der Heiligen Schrift, über jene höhere Realität, über den göttlichen Logos, der der ganzen Schrift als Verheißung und Erfüllung zugrunde liegt. Der Christus beider Testamente ist für den Antichrist nur ein Mythos. Und um den Glauben an diesen Mythos zu zerstören oder ihm eine andere Richtung zu geben, gründet der Antichrist ein wissenschaftliches Weltinstitut, dessen Aufgabe es ist, die Bibel „von allen möglichen Seiten und in allen möglichen Richtungen" zu erforschen und dadurch den einzig und allein richtigen Sinn zu verdunkeln und mit den gelehrten Auslegungen und Kommentaren zu überdecken. Wie das den Orthodoxen angebotene archäologische Museum ein Mausoleum für den im Grab verfaulten Christus sein sollte, so soll auch das biblische Institut ein Archiv für dessen in den Schriften enthaltene Verkündigung werden. Die Bibel soll zwar einen ehrenvollen Platz in den Schränken dieses Instituts neben dem Kodex Hammurabis, den Papyri Ägyptens, den Pergamenten der Antike oder des Mittelalters einnehmen, zugleich aber ihren göttlichen Inhalt und ihren übernatürlichen Wert einbüßen. Jeder also, der dieses antichristliche Vorhaben voraussieht, schweigt angesichts derartiger Anerbietungen und bleibt mit dem Professor Pauli auf seinem Platz sitzen.

Alle drei Gaben des Weltimperators sind also in Wirklichkeit nichts anderes als eine radikale Verneinung des Christentums durch die Ausschaltung seines übernatürlichen Charakters. Der Antichrist erkennt gern die irdische Macht und Bedeutung der christlichen Religion an. Er erklärt aber diese Macht und diese Bedeutung für das Teuerste am Christentum und verneint somit das eigentlich Teuerste — Christus selbst. Leider sehen viele Christen diese antichristliche Tücke nicht. Sie sehen nicht ein, daß ohne Christus all die Geschenke des antichristlichen Geistes aller Jahrhunderte nur Lüge und List sind. Sie sind Fallen, um naive Seelen und Herzen zu betören und einzufangen. „Da sah das Weib, daß die Frucht des Baumes begehrenswert sei, um Einsicht zu gewinnen, und so nahm sie von seiner Frucht und aß und gab auch ihrem Manne" (Gn 2, 6). Die antichristlichen Geschenke an die Menschheit sind im Wesen lediglich eine geschichtliche Entfaltung der satanischen List im Paradies.

3.

DIE USURPATION DER STELLUNG CHRISTI

Wie wir bereits erwähnt haben, nennt Solowjew den Antichrist einen religiösen Usurpator, denn dieser sucht nicht nur den äußeren Schutz der Religion, sondern auch die innere Führung der Seelen gewaltsam in Besitz zu nehmen. Er verlangt von allen Christen, seine Taten bedingungslos anzuerkennen, sich seiner Herrschaft gehorsam zu unterwerfen und sogar seiner Person aufrichtige Liebe zu erweisen. Und wer sich ihm zu widersetzen wagt, wie die Oberhäupter der christlichen Konfessionen beim Weltkonzil, den tötet er ohne jede Rücksicht. Dieselbe usurpatorische Stellung nimmt der Antichrist auch Christus gegenüber an. Solowjew erzählt, daß sein Antichrist derjenige zu sein meinte, der „in Wirklichkeit Christus war". Er, und nicht Jesus von Nazareth, sollte als der wahre Vertreter Gottes auf Erden und der einzige Vermittler zwischen dem Menschen und dem himmlischen Vater gelten. Daher beanstandete der Antichrist die Religion an sich nicht, er unterstützte sie sogar; er selbst schickte sich an, seinen irdischen Erfolg als einen reichen Segen des Allmächtigen zu bezeichnen8. Er suchte lediglich Christus aus der Beziehung des Menschen zu Gott auszuschalten. „Anfangs", sagt Solowjew, „stand er auch Jesus nicht feindlich gegenüber", weil er dachte, Jesus sei nur sein Vorläufer und der Himmel werde ihm „irgendeine deutliche und schlagende Bezeugung" geben, „um seine Erlösung der Menschheit zu beginnen". Als er aber vergebens bis zum dreiunddreißigsten Jahre seines Alters auf diese „höhere Sanktion" gewartet hatte, blitzte es in seinem Geiste auf, und wie „ein heißer Schauder" jagte ihm der Gedanke „durch Mark und Bein", vielleicht sei doch nicht er, sondern „dieser ... Galiläer" der geliebte Ersding Gottes, vor dem er, „der lichte Genius, der Übermensch", sich beugen sollte. Dann entstanden und wuchsen in ihm „ein brennender, sein ganzes Wesen erdrückender Neid und ein greller, den Geist überwältigender Haß" gegen Christus. Er sah in ihm seinen Nebenbuhler, seinen unversöhnlichen Gegner, der sich ihm in den Weg stellte und all seine Bemühungen zunichte zu machen drohte. Deshalb rüstete sich der Antichrist für einen unerbittlichen Kampf mit dem Galiläer, indem er dem Anruf des Teufels folgte und sich durch dessen satanischen Geist firmen ließ. An die Macht gelangt, unternahm er es folgerichtig, in erster Linie all das zu vernichten oder mindestens zu verwischen, wodurch Christus in Erscheinung tritt, worin er sich verkörpert, objektiviert und somit in der Geschichte verbleibt. Ein Christentum ohne Christus, eine Religion ohne den fleischgewordenen Gott war das Ziel des Antichrist.

Solowjew erzählt, wie der Antichrist, nachdem er zum lebenslänglichen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa gewählt worden war, „im ganzen Glänze" auf der Tribüne erschien und sein universales Programm entwickelte, und wie „die hingerissene und bezauberte Versammlung" ihm den Titel des römischen Kaisers verlieh. Dieser Titel ist für den Antichrist höchst bezeichnend, denn sein Sinn ist nicht politisch, sondern religiös. Die politische Macht Roms war auch zur Zeit des Antichrist nicht mehr am Leben. Das heilige Imperium Roma-num blieb auch im 21. Jahrhundert nur eine ferne geschichtliche Erinnerung. Wenn also der Antichrist sich römischen Imperator nennen ließ, so wollte er damit keineswegs diese seit Jahrhunderten verstaubte, obwohl in sich schöne und sinnvolle Gestalt auferwecken. Er beabsichtigte, diesem Titel einen neuen, viel tieferen und bedeutenderen Sinn zu geben. Nicht das Politische des vergangenen Roms suchte der Kaiser an sich zu reißen, sondern gerade das, wodurch Rom unvergänglich ist, wodurch es in der Geschichte der Christenheit stets gegenwärtig als urbs aeterna bleibt, nämlich den Thron des Stellvertreters Christi. Denn nur das Religiöse überwindet die geschichtliche Vergänglichkeit Roms und macht es ewig. Rom ist das Symbol der Geschichtlichkeit der Kirche. Diese Stadt ist ein sichtbares Zeichen dafür, daß das Reich des Messias nicht mehr nur eine Erwartung wie im Alten Testament ist, sondern bereits eine Erfüllung, eine Wirklichkeit, die sich in Raum und Zeit unserer Erde offenbart. Der Papstthron ist in besonderer Weise ein sichtbarer Ausdruck dieser gottmenschlichen Realität. Doch die Päpste waren zur Zeit des Antichrist schon längst aus Rom verbannt. Wer sie verbannt hatte, sagt uns Solowjew nicht. Wahrscheinlich erfolgte die Verbannung während der Herrschaft der Mongolen in Europa. Dies ist jedoch nicht wichtig; wichtig ist aber, daß der Antichrist seinen Thron gerade in diesem durch das Blut und die Gebete der Christen geheiligten Raum errichtete. Nachdem der Stellvertreter Christi Rom verlassen hatte, besetzte der Antichrist den freigewordenen Platz, allerdings nicht um von hier aus seine irdischen Vollmachten auszuüben, sondern um die Aufmerksamkeit der Christenheit von neuem auf Rom zu lenken: die gleiche Aufmerksamkeit, welche die Christen dieser Stadt damals geschenkt hatten, als sie noch Sitz des Papstes war. Was einst dem Papste galt, sollte von jetzt ab dem Kaiser gelten. Die Neubelebung des „römischen Kaisers" bedeutete also im Wesen die Ausschaltung und Verneinung des römischen Bischofs. Die

Errichtung der Hauptstadt des Antichrist in Rom war sein erster konkreter Schritt, die Stellung Christi zu usurpieren. Entschloß sich der Imperator später, Päpste aus der Verbannung wieder nach Rom zurückzurufen, so tat er dies nur deshalb, weil er selbst Rom bereits verlassen hatte und auf etwas viel Wichtigeres als den Thron des Papstes zielte.

Im dritten Jahr seiner Regierung verlegte der römische Kaiser seine Residenz nach Jerusalem, wo er sich ein gewaltiges Gebäude auf der ganzen Höhe von Haram-esch-Scherif errichten ließ. Audi das war kein politischer Schritt, sondern eine Geste von tiefer religiöser Bedeutung. Vom Raum des Wirkens der Stellvertreter Christi schritt der Antichrist zum Raum des Lebens und Sterbens Christi selber. Er errichtete seinen Thron am Fuße des Golgotha. Solowjew bemerkt hierzu, daß die christlichen heiligen Stätten in Jerusalem zwar unangetastet geblieben waren; aber da der kaiserliche Palast riesige Ausmaße annahm — er erstreckte sich „vom Birket Israin und der jetzigen Kaserne auf der einen bis zur Moschee el-Aksa und den ,Ställen Solomos' auf der anderen Seite" —, so dominierte er natürlich über allen christlichen Denkmälern und Tempeln, die hier im Lauf der Geschichte zur Verehrung Christi aufgebaut worden waren. Er überragte die Stadt als Symbol einer Macht, die sich als eine höhere denn die Christi erweisen sollte. Durch die Verlegung seiner Residenz nach Jerusalem wollte der Kaiser zeigen, daß er allein in der Welt herrscht und nicht derjenige, der, nach seiner Ansicht, für ewig gestorben und im Grab verfault ist. Am Eingang zu diesem Grab erhob sich der Thron des Antichrist als eine objektivierte Verhöhnung der ganzen Tat Christi: seines Leidens, seines Todes und seiner Auferstehung.

Dasselbe Vorhaben des Antichrist, sich über Christus zu stellen, finden wir auch im Datum des ökumenischen Konzils, dessen Eröffnung sich „in einem eindrucksvollen Akt" vollzog. „Zu zwei Dritteln war der riesige, der ,Einheit aller Kulte' geweihte Tempel mit Bänken und anderen Sitzgelegenheiten für die Konzilsmitglieder ausgefüllt... Auf den Emporen befanden sich Musikorchester, und auf dem benachbarten Platz waren zwei Garderegimenter und eine Batterie für die Festsalven aufgestellt ... Als der Kaiser mit dem großen Magier und seinem Gefolge einzog und das Orchester den .Marsch der einigen Menschheit' — die internationale Kaiserhymne — anstimmte, erhoben sich alle Konzilsteilnehmer, schwenkten mit den Hüten und riefen dreimal laut: ,Vivat! Hurra! Hoch!'" Und dies alles geschah gerade am 14. September. Dieses Datum hat den Solowjew-Forschern schon manches Kopfzerbrechen gemacht. Warum eigentlich suchte der Antichrist aus der langen Reihe der Jahrestage gerade dieses Datum aus? D. Strémooukhoff will es mit der „Identifikation des apokalyptischen Weibes mit der Sophia" erklären: Nachdem nämlich die vom Antichrist in die Wüste von Jericho verbannten christustreuen Gläubigen aller drei Konfessionen die Vereinigung der Kirchen „inmitten dunkler Nacht" vollzogen hatten, erschien ein großes Zeichen am Himmel: „ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen". Der Papst Petrus erhob seinen Krummstab und sagte zu der vereinten Kirche: „Das ist unser Panier! Ihm gehen wir nach!" Da es am dritten Tag nach der Eröffnung des Konzils, d. h. am 17. September, stattfand, an welchem Tage die orthodoxe Kirche das Martyrium der hl. Sophia feiert, schließt Strémooukhoff, Solowjew beabsichtige dadurch, seine Sophia-Lehre mit dem apokalyptischen Sinnbild der Kirche zu identifizieren9. In Wirklichkeit aber ist die Begründung dieses Datums viel einfacher. Es bezieht sich nicht auf Solowjew und seine Lehre über die Sophia, sondern wesentlich auf den Antichrist und seine Vorhaben. Der 14. September ist das Fest der Kreuzerhöhung (In exaltatione Crucis). Die katholische Kirche verehrt das Kreuz Christi nicht nur am Karfreitag, sondern auch noch an zwei besonderen Feiertagen: am 3. Mai (Auffindung des Kreuzes) und am 14. September (Erhöhung des Kreuzes). Wird am 3. Mai mehr das Andenken einer geschichtlichen Begebenheit: der Auffindung des Kreuzes Christi durch die Kaiserin Helena im Jahre 320, gefeiert, so will uns die Kirche am 14. September das Kreuz als Mittel unserer Erlösung und gleichzeitig als Sinnbild unseres irdischen Weges vor Augen stellen. Das Kreuz ist das einzige, wodurch wir unser Heil, unsere Auferstehung und unser ewiges Leben erlangen und dessen allein wir uns auf Erden rühmen können. Der Tag der Kreuzerhöhung ist ein Tag des Triumphes Christi über die Sünde und über den Anführer zur Sünde: „Der am Holze siegte, sollte auch am Holze besiegt werden" (Präfation vom heiligen Kreuz). Es ist der Tag der Herrschaft des Messias, die er gerade auf dem Kreuz angetreten hat: „Regnavit a ligno Deus" (Vexilla Regis). Wählte also der Antichrist gerade diesen Tag für das von ihm selbst anberaumte ökumenische Konzil, so wollte er damit zeigen, daß nicht mehr das Kreuz Christi das einigende Band der christlichen Konfessionen ist, sondern er, der Weltherrscher, und seine Einheitsbestrebungen; daß der 14. September ein Tag des Sieges der Weltkrone des Imperators über die Dornenkrone des Heilands ist; daß daher von nun an nicht mehr der Gekreuzigte, sondern der Übermensch verehrt werden soll. Der Marsch der einigen Menschheit und der dreimalige Ruf zur Ehre des Kaisers sollten die äußeren Zeichen sein, daß das Zeitalter des Kreuzes Christi zur Neige geht und eine neue Periode der Weltgeschichte anbricht: eine Periode nicht des Kampfes und Leidens, sondern der Einheit und des Friedens, des Satt- und Freudigseins. Die Welterlösung komme nicht vom Kreuz Christi, sondern durch die Unternehmung des Antichrist. Die Usurpation der Stellung des Kreuzes in der Weltgeschichte war der eigentliche Grund, warum der Antichrist den Tag des Konzils auf den 14. September festsetzte.

Diese symbolischen Taten befriedigten jedoch den Antichrist nicht. Der ehrbare Titel des römischen Kaisers, die prachtvolle Residenz in Jerusalem und die Eröffnung des Konzils am Fest der Kreuzerhöhung waren nur eine äußere — räumliche und zeitliche — Usurpation der Stellung Christi im menschlichen Dasein. Der Antichrist herrschte zwar in Rom und in Jerusalem, aber Rom und Jerusalem werden sofort zu rein geographischen Bezeichnungen, wenn sie den inneren Zusammenhang mit Christus und seinem Stellvertreter auf Erden verlieren. Als religiöse Stätten erhalten sie sich im christlichen Bewußtsein nur so lange am Leben, als sie auf Christus und seine Kirche bezogen werden. Infolgedessen bedeutet ihre räumliche Besetzung bei weitem noch nicht eine Herrschaft im religiösen Sinn. Indem der Antichrist den Titel des römischen Kaisers annahm und sich am Fuße des Kalvarienberges niederließ, nahm er nur den einst von Christus gegangenen irdischen Weg in Besitz, nicht aber seine geistige Stellung im Herzen des Menschen. Nach der Himmelfahrt des Heilandes blieb der Raum seines sichtbaren Lebens und Wirkens auf Erden leer, und er kann von jedem besetzt werden, der mit Christus wetteifern will. Daher konnte auch der Weltimperator sich seiner Taten wenig rühmen, als er seinen Thron am Eingang des Grabes Jesu errichtete, denn die Worte des Engels, welche dieser zu den Frauen am Morgen der Auferstehung gesprochen hat, verstummten nie in der Geschichte: „Er ist nicht hier" (Mt 28, 6). Körperlich hat Christus unsere Erde verlassen, um ihre Geschichte unsichtbar zu lenken und zu regieren. Sakrale Räume und Zeiten sind nur Zeichen, nur Hinweise auf Christus, deren einzige Aufgabe es ist, die Geschichtlichkeit der Erlösung zu verkünden. Wollte also der Antichrist Christi Stellung wirklich und nicht nur symbolisch usurpieren, so mußte er seinen Thron nicht allein in Rom oder in Jerusalem errichten, sondern gerade dort, wo Christus ewig herrscht und regiert: im Innern des menschlichen Herzens.

Aus diesem Grunde griff der Antichrist nach dem letzten und einzigen Mittel, das ihm die Herrschaft über Christus gewährleisten sollte: er entschloß sich, Christus aus dem Herzen seiner Anhänger zu vertreiben und sich selbst dort einzurichten. Die Vertreter der gesamten Christenheit auf dem Weltkonzil sollten sich nicht mehr zu Christus, sondern zu ihm, dem Imperator, als ihrem einzigen Vertreter und Beschützer, dem wahren Führer und Herrn bekennen, ihn feierlich dazu erklären und als solchen verehren. Tun dies alle drei christlichen Konfessionen, dann erlangen der Titel und die Residenz des Antichrist eine reale Bedeutung und rechtfertigen ihren bisher nur symbolischen Sinn. Dann wird Christus endgültig aus der Menschheit ausgestoßen, überwunden und verhöhnt. Dann wird sein ganzes Erlösungswerk im Wesen vereitelt, und der Antichrist wird zum alleinigen Herrscher nicht nur über den Raum, in dem Christus gelitten hat und gestorben ist, sondern auch über den Menschen, für den er gelitten hat und gestorben ist. Die Besetzung des menschliehen Herzens war deshalb der letzte und kühnste Schritt des Weltimperators. „Ich möchte", sprach er in seiner Eröffnungsrede, „daß ihr nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus dem Gefühl herzlicher Liebe mich anerkennt als euren wahren Führer in einem jeglichen Werke, unternommen zum Heile der Menschheit."10 Er begnügt sich nicht damit, daß die Menschen ihn annehmen, ihm huldigen und gehorchen; er will, daß er auch geliebt werde, daß das menschliche Herz ihm allein gehöre. Der Antichrist dürstet nach der Liebe des Menschen. Doch gerade in diesem Punkt begegnete der Weltherrscher einem zähen Widerstand. Die Anhänger Christi achteten kaum darauf, daß der ,römische Kaiser' durch die Aneignung dieses Titels sich unterfing, die dreiteilige Krone des Papstes herabzusetzen. Sie widersetzten sich ihm auch nicht, als er seinen Palast in Jerusalem errichten ließ und dadurch die Stätten des Leidens Christi in den Hintergrund zu drängen drohte. Sie folgten seinem Aufruf nach und kamen am Fest der Kreuzerhöhung zu einem Konzil zusammen. Aber sie wiesen seine Forderungen entschieden zurück, als er von ihnen verlangte, sie sollten ihm ihr Herz öffnen und sich zu ihm bekennen, denn dies bedeutete bereits eine Verleugnung Christi selber. Gewiß, es widersetzten sich nur kleine Häuflein mit ihren Oberhäuptern. Das aber genügte, um den Anschlag des Antichrist zu vereiteln. Die von ihm früher durchgeführte räumliche Usurpation war bedeutungslos, die jetzt geplante geistige Usurpation blieb erfolglos.

Ungeachtet dieses Mißerfolges sind jedoch derartige Bemühungen des Antichrist an sich sehr aufschlußreich. Sie zeigen, daß das Ausstoßen Christi nie einen leeren Raum im geschichtlichen Leben oder in der individuellen Seele hinterläßt. Wo immer Christus verbannt wird, dort hält der Antichrist seinen Einzug. Der Mensch ist seiner ontologischen Struktur nach auf das Transzendente, d. h. auf das ihn Überschreitende und über ihm Stehende, hingewiesen. Der Mensch im Dasein, die Existenz, befindet sich immer nur im Bezug auf etwas, das sie selbst nicht ist. Löst sie ihre Beziehung zu Christus, so tritt sie von selbst in eine Beziehung zum Antichrist. Verschluckt der Mensch seinen Lockruf nach der Engelwelt, so bedeutet dies Verschlucken selbst schon einen Ruf nach der Unterwelt. Wer nicht mit Christus ist, der ist bereits gegen ihn, denn er unterwirft sich seinem Widersacher. Daher können wir begreifen, warum die Kirche alle Versuche verwirft und verurteilt, die das Leben nur auf das rein Natürliche beschränken wollen. Nach der Fleischwerdung des Logos gibt es nichts rein Natürliches, was nicht im Bezug auf ihn existiert. „Denn in ihm ist alles erschaffen", und „alles hat in ihm Bestand" (Kol 1, 16—17). Der Kampf der Kirche mit der modernen Laizisierung der Welt ist keinesfalls ein Kampf gegen irdische Realitäten, wie dies sogar Menschen guten Willens öfters deuten, sondern ein Kampf für Christus: für sein Bestehen und Wirken in der Geschichte. Die erlöste Welt soll nie zu einer indifferenten Wirklichkeit Christus gegenüber werden. Nie mehr soll die Natur ihren Zusammenhang mit der Übernatur brechen. Versucht sie es trotzdem, so bleibt sie nicht auf der Stufe ihrer reinen Diesseitigkeit, wie es scheinen könnte, sondern gerät in die Sphäre einer anderen Übernatur, leider nicht göttlicher, sondern satanischer Art. Daher ist der Kampf gegen den Laizismus ein grundsätzlicher Kampf für das Gott-menschtum in der Geschichte. Der Christ ringt mit „Mächten und Gewalten, mit den finsteren Weltbeherrschern, mit bösen Geistern in den Höhen" (Eph 6,12) um eine ver göttlichte Erde.

Fragen wir, auf welche Art und Weise der Antichrist die Stellung Christi in Besitz zu nehmen versucht, so müssen wir eindeutig darauf antworten: Der Antichrist sucht Christi Thron zu ersteigen nicht auf dem Weg der Heiligung seiner Person und seines Lebens, sondern auf dem Weg der Gewalt. In dieser Hinsicht ist es sehr lehrreich, daß Solowjew seinen Antichrist zu einem Politiker macht und ihn sogar auf den Gipfel der Politik stellt, indem er ihn zum Weltimperator aufsteigen läßt. Gewiß war sein Antichrist auch ein Wissenschaftler, sogar Theologe, ein sozialer Reformator, ja Wohltäter, und zugleich ein Schriftsteller. Aber all diese Tätigkeiten dienten ihm nur als Mittel, um in die Politik zu gelangen und in ihr feste Wurzeln zu fassen. Sie begründeten und verbreiteten seinen Ruhm in der Welt, und dieser öffnete ihm die Tür zur Politik. Erst auf diesem Gebiet entfaltete er seine ganze Kraft. Früher war er berühmt, besaß aber keine Mittel, um seine Pläne in die Tat umzusetzen.

Nachdem er aber zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa gewählt und mit dem Titel des römischen Kaisers geehrt war, eignete er sich diese Mittel an und wurde dadurch mächtig genug, um seine Vorhaben zu verwirklichen. Solowjew gab mit voller Absicht seinem Antichrist die politische Macht der ganzen Welt in die Hände. Er wollte uns symbolisch darauf hinweisen, daß die politischen Mittel für die antichristliche Tätigkeit besonders geeignet sind und deshalb von allen antichristlichen Mächten benützt werden.

Die Begründung dieses Symbols liegt gerade darin, daß die Politik und die Gewalt wesentlich miteinander verbunden sind. Politische Mittel sind ihrer innersten Natur nach immer Zwangsmittel. Politische Institutionen und Behörden bitten weder, noch überzeugen sie, sondern sie befehlen. Die Grundform ihrer Wirkung ist das Gesetz. Jedes Gesetz aber ist erlassen, um gehalten zu werden. Das Gesetz nimmt keine Rücksicht darauf, ob einer, den es verpflichtet, sich von seiner Sinnhaftigkeit oder Nützlichkeit überzeugt hat oder nicht. Es verlangt einfadi beobachtet zu werden. Handelt einer dem Gesetz zuwider, so wird er bestraft, mag seine Handlung auch aus innerster Überzeugung entstanden sein. Hinter jedem Gesetz stehen Polizei und Gefängnis, d. h. ausgesprochene Zwangsmittel, die jedoch allein dem Gesetz einen Erfolg im Staatsleben verbürgen. Politische Macht besitzen heißt also Zwangsmittel in Händen halten. In diesem Sinne sagt auch der hl. Paulus, daß man die Obrigkeit fürchten muß, denn „nicht umsonst trägt sie das Schwert" (Rom 13,4). Die vom Heidenapostel erwähnte Unterwerfung „auch des Gewissens halber" (Rom 13, 6) hebt den wesentlich gewaltsamen Charakter der politischen Macht durchaus nicht auf. Gewiß, Gewalt und Zwang sind in den meisten Fällen des irdischen Lebens vonnöten, und hierin liegt ihre sittliche Rechtfertigung. In dieser Hinsicht ist jede politische Macht, die ihre Grenzen zu wahren versteht, „von Gott eingesetzt" (Rom 13,1). Die Versuchung jedoch, diese Grenzen zu überschreiten und das ganze Leben politisch, d.h. gewaltsam,zu gestalten, ist so groß und so verlockend, daß es in Wirklichkeit kaum eine politische Macht gibt, die ihr widersteht und sich selbst beschränkt. Da der Staat eine Ganzheit bildet, in der alle Daseinsinhalte zum Ausdruck kommen, sind irdische Machthaber gerade dadurch veranlaßt, das ganze Leben in ihren Machtbereich einzubeziehen und politisch zu betrachten. Die Gewalt drängt sich auch in jene Gebiete des Daseins ein, in denen Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen ihrem Wesen nach walten müßten. Die Grenzen des Politischen hören auf zu existieren: die politische Macht dehnt sich zu einer totalen Lebensform aus, und die Gewalt wird zur einzigen Wirkungsweise. Gerade deswegen aber hört diese über ihre Grenzen hinweggeschrittene Macht auf, von Gott zu sein. Die Anwendung der Gewalt in jenen Daseinsbereichen, in denen der Mensch sich frei zu entscheiden von Natur aus berufen ist, wird zum Zeichen des antichristlichen Geistes.

Solowjews Weltimperator gab sich auch nicht damit zufrieden, daß er die Welt politisch vereinte; er strebte ebenso nach der Lösung der sozialen und letztlich auch der religiösen Frage. Aus diesem Grund verkündete er seine „allumfassende Sozialreform" und rief „unter seinem Vorsitz" eine Weltversammlung der christlichen Kirchen ein. Alles das wollte er aber zwangsweise verwirklichen. Solowjew bemerkt, daß der Kaiser „mit einer kleinen, aber erlesenen Armee" einen militärischen Spaziergang „von Ostasien bis nach Marokko" machte und „ohne viel Blutvergießen" alle Renitenten unterwarf. Es besteht kein Zweifel, daß seine kleine Armee ausgerüstet und kampfbereit stand, um jeden möglichen Widerstand auch auf dem sozialen und dem religiösen Gebiet zu brechen. Die Drohung mit Gewalt begleitete gleichfalls die Lösung der sozialen und der religiösen Frage. Dies trat eben während des Konzils ans Licht, nachdem ein Teil der Vertreter es abgelehnt hatte, den Imperator als ihren einzigen Herrscher und Führer anzuerkennen. Der Antichrist ließ, wie wir wissen, den Papst Petrus und den Starez Johannes durch seinen falschen Propheten Apollonius töten, befahl, ihre Leichen zu schänden, und verbannte die getreuen Anhänger Christi in die Wüste. Später erließ er sogar einen Befehl, „alle ungehorsamen Juden und Christen zu töten". Und das war nur eine folgerichtige Entwicklung der totalen Politik. Jede losgelöste Gewalt endet mit dem Massenmord. Der Antichrist greift nach dieser Gewalt, weil sie ihm die besten Mittel zur Verwirklichung seines usurpatorischen Vorhabens bietet. Da er weder durch seine Natur noch durch seine Berufung Messias ist, sucht er dessen Namen und Stellung gewaltsam in Besitz zu nehmen und wählt, um das zu erreichen, die Laufbahn des Politikers. Der Antichrist wirkt überall dort, wo sich der usurpatorische Geist in der Geschichte offenbart und durch gewaltsame Mittel verwirklicht wird. Christus ist in die Welt gekommen, um die Menschheit zu befreien; der Antichrist dagegen erscheint, um sie zu versklaven. Deswegen bemüht er sich, die Menschen zu zwingen, in ihm den alleinigen Machthaber nicht nur über weltliche, sondern auch über religiöse Dinge zu sehen. Er bleibt Politiker bis zum Ende.

4.

VERNICHTUNG DER GOTTES IDEE

Wenn der Antichrist Gott auch nicht leugnet, wenn er auch kein Atheist im direkten Sinne dieses Wortes ist, handelt er trotzdem so, als ob Gott jede Bedeutung verloren hätte und nicht mehr die größte Sorge und das letzte Ziel der Existenz wäre. Die Gleichgültigkeit Gott gegenüber kennzeichnet jede antichristliche Tätigkeit. Solowjew erzählt, daß der kaiserliche Palast in Jerusalem neben zwei prunkvollen Schlössern mit Bibliotheken, Museen und besonderen Räumlichkeiten für magische Versuche und Übungen auch „einen weiträumigen ,kaiserlichen' Tempel für die Vereinigung aller Kulte" in sich schloß. Es war ein ausgedehntes Gebäude, halb Kathedrale, halb Palast, in dem auch das Weltkonzil der Kirchen stattfand. Auf der Höhe von Haram-esch-Scherif errichtet, schaute dieser ,Dom' stolz auf die mit Christi Blut und Tränen geweihte Stadt herab und spottete hochmütig über das ganze Erlösungswerk. Dem Wunsch des Kaisers entsprechend, sollte er ein Symbol für die Einheit der Weltreligion sein — einer Einheit jedoch, die sich nicht auf die gemeinsame Wahrheit oder das gemeinsame Bekenntnis zu Christus stützte, sondern gerade auf einen gemeinsamen Indifferentismus gegenüber jeder Wahrheit und jeder Religion. Er sollte den in der Geschichte auseinandergegangenen christlichen Konfessionen einen Weg zur Vereinigung dadurch bahnen, daß er allen ihren Kulten seine Türe öffnete und einen Platz an seinen Altären einräumte. Gab es, äußerlich gesehen, etwas Selbstverständlicheres, als von der Einheit der Kulte zur Einheit des Glaubens zu schreiten? Im Wesen aber verbarg diese Unternehmung eine kalte Verneinung des Glaubens selbst. Was eigentlich ist der religiöse Kult in sich selbst? — Der Kult ist die Sichtbarkeit des Glaubens. Durch ihn drücken wir in einer anschaulich-erlebbaren Gestalt unsere religiösen Wahrheiten, Erlebnisse und Erfahrungen aus. In ihm objektivieren wir unsere intimsten Beziehungen zu Gott. Der Kult ist das sichtbar gewordene Dogma. Deshalb ist er keine zufällige Erscheinung der Religion. Seine Entstehung verdankt er dem Religiösen selbst, das uns mit Gott verbindet und objektiv unter sichtbaren Formen und Gestalten in Erscheinung tritt. Es gibt keine Religion ohne Kult, und es kann keine geben. Der religiöse Akt selbst ist seiner Natur nach ein integraler Akt, von dem kein Bereich der Existenz ausgeschlossen bleibt. Er ist weder nur eine seelische Rührung im verborgenen Kämmerlein des menschlichen Herzens, das von Gott allein durchforscht ist (vgl. Ps 25, 2), noch nur eine äußerliche Gebärde, sondern eine Ganzheit, die den Menschen samt all seinen Kräften und Vermögen umfaßt. Aber gerade diese allumfassende Ganzheit des religiösen Aktes schließt auch dessen Objektivation oder, anders ausgedrückt, einen mehr oder weniger entwickelten Kult in sich. Der Kult ist integrierender Bestandteil des religiösen Aktes. Die Religion erhält sich als eine Wirklichkeit erst dann, wenn sie als ein integrales Phänomen des Daseins erscheint und als solches vom Menschen angenommen und verwirklicht wird. Es versteht sich daher von selbst, daß die Verschiedenheit der Kulte unmittelbar auf die Verschiedenheit der Beziehung des Menschen zu Gott zurückgeht. Die symbolische Gestalt eines Kultes weist uns immer auf einen inneren religiösen Inhalt hin: auf eine Lehre und auf eine Gemeinschaft im Glauben. Die Verschiedenheit der Kulte ist daher nicht nur eine Mannigfaltigkeit der äußeren liturgischen Formen oder Riten, sondern eine Verschiedenheit des religiösen Aktes selbst: ihr liegt eine Differenz der religiösen Wahrheit zugrunde. Infolgedessen bedeutet jeder Versuch, Kulte zu einer äußerlichen Einheit zu bringen, eine tiefe Gleichgültigkeit gegenüber der göttlichen Wahrheit. Betraditet man die in der Verschiedenheit der Kulte liegende dogmatische Differenz als bedeutungslos, so hält man im Wesen auch das Erkennen und Erleben des wahren Gottes für wert- und sinnlos. Ein Indifferentis-mus gegenüber dem Kult ist gleichzeitig auch Indifferentismus gegen Gott. Verschiedene Anbetungsweisen besitzen für einen indifferenten Geist den gleichen Sinn und den gleichen Wert nur deshalb, weil Gott selber für ihn keinen Sinn und keinen Wert hat. „Wenn man der Meinung ist, es sei kein Unterschied zwischen den verschiedenen und sich widersprechenden Religionsformen, so geht dies schließlich darauf hinaus, daß man für keine sich entscheiden, keine üben will. Eine solche Ansicht mag daher dem Namen nach von der Gottesleugnung sich unterscheiden, in der Sache ist kein Unterschied. Denn wenn einer von Gottes Dasein überzeugt ist, der muß doch notwendig einsehen, daß die gottesdienstlichen Einrichtungen, so verschieden und in den wichtigsten Punkten sich entgegengesetzt, unmöglich gleich wahr, gleich gut, gleich Gott wohlgefällig sein können." 11 öffnet also der kaiserliche ,Dom' jedem Kult seine Türe und stellt jedem seine Altäre zur Verfügung, so wird er von selbst zu einem steinernen Symbol des religiösen Indifferentismus, zu einer Wiederholung jenes römischen Pantheons, in dem die von den Römern zusammengetragenen Götterbilder der besiegten Nationen standen. All diese Götter waren ihrem Wesen nach gleich, denn alle waren unwahr: sie waren „Werke von Menschenhand" (vgl. Ps 113, 13). Es war deshalb ganz gleichgültig, welchen von ihnen geopfert wurde: keiner nahm dieses Opfer an. Ihr Verbleiben in demselben Raum war nicht durch ihre Wahrheit, sondern im Gegenteil durch ihre Unwahrheit begründet. Der Mensch waltete in diesem Raum, ohne die Götter wirklich zu beachten.

Das gleiche sollte auch im kaiserlichen Tempel von Jerusalem geschehen. Auch hier sollten die verschiedensten Gebete verrichtet und die verschiedensten Opfer dargebracht werden, nicht aber deshalb, um die eine und ewige Wahrheit dadurch zu ergründen, sondern um diese Wahrheit durch die Verschiedenheit der Kulte zu verdunkeln und die Aufmerksamkeit der Menschen von ihr endgültig abzulenken. Das an den Feierlichkeiten im kaiserlichen ,Dom' teilnehmende Volk sollte zu dem Glauben gebracht werden, jeder Kult sei gut, denn jeder findet eine liebevolle Aufnahme im Heiligtum des Weltherrschers. Ein religiöser Skeptizismus sollte hier Hausherr sein. Er sollte die Menschheit überzeugen, jedes Suchen nach der religiösen Wahrheit und jeder Kampf für sie seien sinnlos, weil eine solche Wahrheit überhaupt nicht existiere. Sie sei nur eine Einbildung, nur eine Sublimierung der hiesigen Wirklichkeit. All die Bilder, durch welche der Mensch die religiöse Wahrheit auszudrücken glaubt, seien nur von ihm selbst erfunden, daher relativ, veränderlich, vergänglich. Sie seien eindrucksvolle Zeugen für die erfolglosen Bemühungen der Geschichte, das Göttliche aufzudecken oder ihm näherzukommen. Habe es deswegen einen Sinn, sich an eines von diesen Bildern unzertrennlich zu binden und sich von allen anderen abzuwenden? Entspreche es nicht eher der tatsächlichen Situation des erschaffenen Geistes, alle Kulte unter einem Dach zusammenzubringen und jedem von ihnen einen Platz am selben Altare des unbekannten Gottes anzuweisen? Gott existiere, gewiß! Der Antichrist bestreitet es nicht. Aber er existiere unzugänglich. Er sei nur ein jenseitiger Gott, nur ein „Deus absconditus", der keine Antwort auf menschliche Rufe und menschliches Flehen gebe. Sein Name sei nicht „Der ist", sondern „Der unbekannt ist". Auf derartigen Ideen war also der kaiserliche Tempel gebaut. Der ,Dom' für die Vereinigung aller Kulte ist seinem Wesen nach ein Heiligtum für den liturgisch gestalteten religiösen Indifferentismus.

Und gerade dieser ,liturgische Indifferentismus' bildet aller Wahrscheinlichkeit nach jene dämonische Entweihung des heiligen Ortes, die Daniel bereits erwähnt (vgl. 9, 27) und von der Christus in seiner großen Rede vom Weltende deutlich spricht: „Wenn ihr dann den Greuel der Verwüstung, von dem der Prophet Daniel gesprochen, am heiligen Orte herrschen seht — der Leser möge dies wohl beachten —, dann fliehe ins Gebirge, wer in Judäa ist; wer auf dem Dache ist, der steige nicht herab, sein Eigentum aus seinem Hause zu holen" (Mt 24, 15—16). In ihrer unmittelbaren Bedeutung beziehen sich diese Worte zwar auf die bevorstehende Zerstörung Jerusalems; doch in ihrem tiefsten Sinn weisen sie nicht nur auf jene einmalige Schändung des herodianischen Tempels durch römische Soldaten hin, sondern zugleich auch auf den antichristlichen Anschlag gegen die Verehrung Gottes im allgemeinen. Die grauenhafte Verwüstung des Heiligtums von Israel ist nur ein Sinnbild der geschichtlichen Bemühungen des Antichrist, die Verehrung Gottes auf Erden zu entweihen, was er in seinem .liturgischen Indifferentismus' gerade im Höchstmaß vollzieht. Der Tempel Gottes kann nicht abscheulicher geschändet und die Ehre Gottes nicht tiefer herabgesetzt werden, als wenn sich seine Verbannung aus dem Leben der Menschheit zur Form eines Kultes gestaltet und in dem vom Antichrist selbst erbauten ,Dom' feierlich begangen wird. Als der tolle Mensch Nietzsches „Requiem aeternam Deo" anstimmte und, zur Rede gestellt, Kirchen für Grüfte und Denkmäler des getöteten Gottes erklärte, entpuppte er sich als ein phantastischer und doch tiefsinniger Vorläufer dieser satanischen Liturgie. Nietzsche stellt sinnvoll fest, daß sein toller Mensch ein Requiem sang. Er konnte keine freudige Hymne anstimmen, sondern nur ein Trauerlied, denn Gott war tot, und in seinen Grüften sollte alles von nun an eine Trauerfarbe annehmen. Das größte Ereignis der Neuzeit, daß „Gott tot ist", begann — dies gibt Nietzsche selbst zu — seine ersten Schatten auf die Menschheit zu werfen. Die von ihrer Sonne losgekettete Erde stürzte fortwährend in ein unendliches Nichts.

Durchaus verständlich! Ist der Antichrist in seiner Macht so weit fortgeschritten, daß er seinen Tempel in einer Kultur errichtet und Feste des verbannten Gottes in ihm feiert, so ist das Ende dieser Kultur nahe. Zwar kreist der Mensch in seiner Geschichte „um Gott, um den uralten Turm" jahrtausendelang, ohne genau zu wissen, sei er ihm gegenüber „ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang" (R. M. Rilke). Das Irren auf dem Wege zu Gott ist möglich und psychologisch durchaus verständlich. Es ist vielleicht das unentrinnbare Los des geschaffenen Geistes. Doch wenn der Mensch grundsätzlich auf jedes Suchen nach dem wahren Gott verzichtet; mehr noch: wenn er erklärt, Gott sei überhaupt nicht zu finden, und wenn er diesem ,Dogma' eine liturgische Gestalt verleiht, so betet er den, wenn auch unbekannten Gott, wie ihn etwa die Griechen verehrten, nicht mehr an, sondern verspottet ihn durch seinen Tempel und seinen Kult. Aus diesem Grund ist auch der kaiserliche ,Dom' für die Vereinigung aller Kulte kein Heiligtum im wahren Sinn des Wortes. Er ist eine Kultstätte für den satanischen Spott über die Verehrung Gottes, denn in ihm wird Gott nicht durch die Wahrheit, sei diese auch unvollkommen, sondern durch die

Verneinung jeder Wahrheit ,verehrt'. Und dadurch, daß die Menschen an diesem Spott teilnehmen, entweihen sie die Ehre Gottes auf Erden in dämonischer Art und rufen das Gericht des Himmels auf sich herab, denn Gott läßt sich suchen, aber er läßt seiner nicht spotten. Hier liegt der Grund, warum Christus jene grauenhafte Verwüstung am heiligen Ort für ein deutliches Zeichen des unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs der Geschichte hält. Auch Solowjew läßt den ,Dom' für die Einheit aller Kulte im letzten Jahre der Herrschaft des Antichrist entstehen. Die Entweihung der Ehre Gottes bezeichnet immer die höchste Macht des Widerparts Christi und bildet somit die größte Spannung im Kampf zwischen dem Lamm und dem Tiere. Nachher aber tut sich der Abgrund unausweichlich auf (vgl. Offb 20, 3). Deshalb müssen jede Kultur und jedes Volk erzittern, in denen solch eine Entweihung in irgendeiner Form stattfindet.

Derselbe religiöse Indifferentismus erscheint auch in der falschen Universalität des Apollonius, als dieser die Urkunde der antichristlichen Vereinigung der Konfessionen entgegennimmt und unterzeichnet. Solowjew erzählt, daß das kaiserliche Welt-konzil trotz der Ermordung des Papstes Petrus und des Starez Johannes und der Verbannung der treuen Anhänger Christi in die Wüste fortgesetzt wurde. Alle Konzilsmitglieder waren „nach einem Festmahl beim Kaiser" in den Thronsaal geladen, wo die Wahl eines neuen Papstes stattfinden sollte. Als Kandidaten zum Oberhaupt der Kirche schlug der Imperator „im Namen aller Christen" dem Kollegium der Kardinäle „seinen geliebten Freund und Bruder" Apollonius vor. Während aber die Wahl vor sich ging, „hatte der Kaiser in einer schönen Rede voller Milde und Weisheit die orthodoxen und evangelischen Vertreter dazu überredet, angesichts der neuen großen Ära der Geschichte des Christentums den alten Hader zu beenden; er stehe mit seinem Wort dafür ein, daß Apollonius es verstehen werde, allen geschichtlich entstandenen Mißbräuchen der päpstlichen Gewalt ein Ende zu machen". Durch die Rede des Imperators überzeugt, vollzogen die Vertreter der Orthodoxie und des Protestantismus einen Akt der Kirchenvereinigung. Das Konklave dauerte nur anderthalb Stunden; dann kehrten die Kardinäle mit dem neuen ,Papst', selbstverständlich dem Apollonius, zurück. Und als dieser „unter freudigen Ausrufen der ganzen Versammlung" in Thronsaal erschien, brachten ihm „ein griechischer Bischof und ein evangelischer Pastor" die Urkunde der Vereinigung dar. Während er das Dokument entgegennahm und unterschrieb, sprach er folgende, in Hinblick auf die ganze antichristliche Einstellung bedeutungsvolle Worte: „Ich bin ebenso wahrhaft orthodoxer und wahrhaft evangelischer Christ, wie ich wahrhafter Katholik bin."

Dadurch wollte Apollonius selbstverständlich mit seiner Universalität oder Katholizität prahlen, als ob diese über allen Konfessionen stünde und alle ihre Differenzen in Einklang bringen könnte. In der Tat aber beruhte seine ,Katholizität' nicht auf einer höheren Wahrheit, die den christlichen Konfessionen etwa fehlte, sondern gerade auf der religiösen Gleichgültigkeit, auf der Mißachtung und Nivellierung der konfessionellen Unterschiede. In seinem Geist war Apollonius weder Katholik noch orthodoxer oder evangelischer Christ. Er war einfach religiös indifferent, ein falscher Prophet und Diener des Antichrist, ein Possenreißer zur Belustigung der Massen. Nur solch ein Charakter konnte sich anschicken, Merkmale der drei christlichen Konfessionen in sich vereinigt zu glauben. Die protestantische Reform der christlichen Lehre und die orthodoxe Reform der christlichen Gemeinschaft sind mehr als nur an der Oberfläche des Christentums haftende Dinge. Sie sind mehr als nur der menschliche Hader, entstanden auf Grund geschichtlicher Fehler und Mißverständnisse. Sie sind eine Verstümmelung der Kirchenlehre und der Kircheneinheit; ein Anschlag gegen jenen Felsen, auf den Christus seine Kirche gegründet hat; eine Untreue gegenüber dem Gebet des Herrn: damit „alle eins seien" (Jo 17, 11). Sich also gleichzeitig seiner Orthodoxie, seines Protestantismus und seines Katholizismus zu rühmen bedeutet, die Verwundung des mystischen Leibes Christi nicht zu sehen und dem Bestehen der Konfessionen keinen tieferen religiösen Sinn und keine wichtigere Bedeutung in der Geschichte des Christentums beizumessen. Die angebliche Katholizität des Apollonius entsteht nicht aus der Uberwindung der konfessionellen Entgleisung, sondern im Gegenteil gerade aus der kalten Gleichgültigkeit dieser gegenüber. In der Person des Wunderpapstes von Jerusalem kommen die christlichen Konfessionen nicht zu ihrer wahren, ursprünglichen Einheit zurück, sondern sie einigen sich auf Grund des Indifferentismus. Anstatt durch ihre Gemeinschaff: die Einheit der Heiligsten Dreifaltigkeit auszudrücken, werden sie zur antichristlichen Verhöhnung dieser Einheit und zum satanischen Spott über Christi Worte: „Für sie weihe ich mich selbst, damit auch sie geweiht seien in Wahrheit" (Jo 17, 19), denn des Apollonius Worte, die er beim Empfang der Urkunde sprach: „Accipio et approbo — Ich nehme an und bestätige", sind in ihrem tiefsten Sinn nichts anderes als die Annahme und Bestätigung der Unwahrheit.

Wonach aber strebt der Antichrist, wenn er den religiösen Indifferentismus verkündet und verbreitet? Was für ein Ziel verfolgt er, wenn er die Möglichkeit, religiöse Wahrheit zu erkennen, leugnet? — Die Antwort darauf finden wir in der Einstellung des Antichrist Gott gegenüber. Der Antichrist ist, wie gesagt, kein Atheist. Er glaubt an Gott, jedoch handelt er so, als ob es keinen Gott gäbe. Er leugnet nicht Gottes Dasein als solches, sondern Gottes Vorsehung, seine Offenbarung, seine Erlösung und sein Wirken im individuellen und geschichtlichen Leben des Menschen. Daher bemüht er sich stets, Gott aus dem menschlichen Bewußtsein zu verbannen und die Menschheit dahin zu bringen, daß sie über Gott weder denkt noch redet, daß sie ihn überhaupt vergißt. Und siehe, im religiösen Indifferentismus findet er das geeignetste Mittel dazu. Schreibt man jeder Religion die gleiche Wahrheit und folglich den gleichen Wert zu, so setzt man sie alle herab und veranlaßt den Menschen, dem Religiösen im allgemeinen keinen Sinn beizumessen. Behauptet man, Gott sei unerkennbar und unzugänglich, so will man ihn damit in der Tat überhaupt in Vergessenheit geraten lassen. Das Verwischen der Gottesidee im Menschen ist die Aufgabe, die der religiöse Indifferentismus in der Geschichte zu erfüllen hat. Gelingt es dem Antichrist, Gott einmal aus der Welt zu verbannen, dann beginnt eine neue Ära. „Dann wird man die Weltgeschichte", wie Kirilow sagt, „in zwei Teile teilen: vom Gorilla bis zur Vernichtung Gottes, und von der Vernichtung Gottes bis . .. bis zur physischen Veränderung der Erde und des Menschen. Der Mensch wird Gott und wird sich physisch verändern. Und das ganze Weltall wird sich verändern, und alle Dinge werden sich verändern, und alle Gedanken und alle Gefühle." 12. Dann beginnt eine neue Geschichte, Geschichte ohne Gott, Geschichte nur der Menschheit allein. Solche antichristliche Träume nennt Dostojewskij „geologische Umwälzung" und will damit ihre kosmische Bedeutung unterstreichen. Wie die geologischen Ereignisse — Vereisungen, Überschwemmungen, Erdbeben — neue Abschnitte der natürlichen Formation der Erde einleiten, so sollte auch die Vernichtung der Gottesidee eine völlig neue Periode der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit eröffnen. Dieser Gedanke gehört zwar Iwan Karamasow13. Aber es ist bezeichnend, daß ihn nicht Iwan selbst, sondern der ihm im Fieber erschienene Teufel ausspricht. Iwan hat diesen Plan nur ausgedacht und ihn in Form eines Gedankenpoems zusammengefaßt. „Geologische Umwälzung" ist die zweite Dichtung Iwans neben dem „Großinquisitor". — „Das ist mir mal ein Poemchen", sagt der Teufel und drückt dessen Inhalt folgendermaßen aus: Die Menschen „beabsichtigten, alles zu zerstören und wieder bei der Menschenfresserei zu beginnen. Die Toren, warum haben sie mich nicht gefragt? Wozu da so mühevoll zerstören? Das ist ja völlig überflüssig! Man brauchte doch einzig und allein die Gottesidee in der Menschheit zu vernichten, und alles würde nach Wunsch gehen. Das ist es, das allein ist es, womit man beginnen muß." Und der Teufel malt ein grandioses Bild der künftigen Weltgeschichte ohne Gott: „Hat die Menschheit sich erst einmal ganz allgemein, d. h. ausnahmslos14, von Gott losgesagt (und ich glaube daran, daß diese Periode, als Parallele zu den geologischen Perioden, eintreten wird), so wird die frühere Weltanschauung von selbst fallen, ohne jede Menschenfresserei, und dem Neuen Platz machen. Die Menschen werden sich zusammentun, um aus dem Leben alles zu ziehen, was es nur zu geben vermag, jedoch unbedingt einzig und allein zum Zweck des Glückes und der Freude bloß hier im Diesseits. Der Geist des Menschen wird sich in göttlichem, titanischem Stolz erheben, und dann wird der Menschgott erscheinen. Indem er allstündlich, und bereits ohne Grenzen zu kennen, mit seinem Willen und seiner Wissenschaft die Natur besiegt, wird er allstündlich einen so hohen Genuß empfinden, daß dieser ihm alle früheren Hoffnungen auf himmlische Genüsse ersetzen wird. Ein jeder wird wissen, daß er ganz und gar sterblich ist, ohne Auferstehung, und er wird den Tod stolz und ruhig hinnehmen wie ein Gott. Aus Stolz wird er einsehen, daß er nicht darüber zu murren hat, daß sein Leben nur einen Augenblick währt, und er wird seinen Bruder lieben ohne die Verheißung einer Belohnung dafür. Die Liebe wird nur während des Lebensaugenblickes andauern, dafür aber wird das Bewußtsein ihrer Kürze ihr Feuer um ebensoviel verstärken, als es früher in der Hoffnung auf die endlose Liebe im Jenseits geschwächt wurde." 15. Der Plan ist, wie man sieht, wirklich großartig. Es bleibt nur die Frage, ob es möglich ist, daß eine solche Periode jemals anbricht. Wegen der „in der Menschheit eingewurzelten Dummheit" kann dieser Plan vielleicht „noch nicht in tausend Jahren" durchgeführt werden; aber „wenn solche Periode anbricht, dann ist alles gelöst, und die Menschheit wird sich endgültig einrichten".

Der letzte Satz des ,Poems' ist besonders tiefsinnig. Solange Gott im Menschen lebendig ist, existiert der Mensch nur unterwegs. Jedes endgültige Sicheinrichten im Diesseits ist ihm untersagt, denn die Gottesidee, nach der der Mensch geschaffen ist, zieht ihn immer hinan und zwingt ihn, das hiesige Dasein nur als Übergang zu betrachten. Die christliche Bezeichnung des Menschen als viator, Pilger, hat nicht nur einen asketischen, sondern auch einen ontologischen Sinn. Sie ist der Ausdruck der wesentlichen Bestimmung zur Transzendenz. Unser Dasein vollzieht sich nur im Unterwegssein. Die Gottesidee macht den Menschen zum Pilger im Diesseits. Und erst dann, wenn diese Idee vernichtet ist, baut der Mensch, wie einst Kain, eine Stadt, d. h. einen ständigen Wohnsitz, und richtet sich hienieden endgültig ein. Dann fängt seine neue Geschichte an, in der er nicht mehr ein Wanderer nach dem verklärten Jerusalem, sondern ein seßhafter Einwohner dieser Erde ist.

Der religiöse Indifferentismus will gerade ein Morgenrot dieser neuen Geschichte sein. Er will ein Versuch sein, Gott nicht mehr zu besitzen; ein Versuch, den Menschgott entstehen zu lassen, dem das Bewußtsein seiner Erkenntnis und seiner Macht das jenseitige Glück ersetzen sollte. Infolgedessen ist der religiöse Indifferentismus die endgültige Gottlosigkeit, die letzte Verbannung Gottes nicht nur aus den äußeren Gestalten des Lebens, wie sie unter der Herrschaft des Prometheismus geschieht, sondern auch aus dem persönlichen Inneren, was eine gewisse Veränderung der menschlichen Natur voraussetzt. Der religiös indifferente Mensch ist auch ein ,Erlöster', nicht aber von der Sünde, sondern von Gott; er ist auch eine ,nova crea-tura' wie der Christ (vgl. Gal 6, 15), nicht aber in Christus, sondern gerade in Christi ewigem Widerpart. Deswegen sind die durch den Indifferentismus bezeichneten Perioden der Geschichte wesentlich Siegesfeste des Antichrist. Hier liegt der Grund, warum der Imperator seinen falschen Propheten Apollonius „umarmte und ihn lange hielt", nachdem dieser die Urkunde der auf Grund des religiösen Indifferentismus vollzogenen Kirchenvereinigung unterzeichnet hatte. In dieser Stunde glaubte der Antichrist den Kampf gegen Christus gewonnen zu haben. Die Gottesverachtung und die Schändung seines Tempels erreichten in diesem Moment ihre dämonische Höhe. Dies war jedoch nicht nur ein einmaliges Ereignis am Ende der Zeiten; es dauert mehr oder weniger sichtbar während der ganzen Geschichte der Menschheit an. Nie hört der Antichrist auf, jene „geologische Umwälzung" im Leben der Völker dadurch hervorzurufen, daß er Menschen indifferent macht, denen es dann ganz gleichgültig ist, welcher Konfession sie angehören und an welchem Kult sie teilnehmen. Die Vernichtung der Gottesidee im Menschen ist die immerwährende Bestrebung des Antichrist. Wenn also der Mensch, das Ebenbild Gottes, Gott nicht mehr durch sein Leben und Wirken wiedergibt, wenn das göttliche Licht in seinem Antlitz erlischt, dann kommt der Siegestag des Antichrist, und dann ist seine Tätigkeit in der Geschichte vollendet.

Aus diesem Grund haben die Juden den Antichrist Solowjews gerade aufgenommen. „Als er seine Residenz nach Jerusalem verlegt und dabei unter den Juden heimlich das Gerücht hatte verbreiten lassen, daß er die Aufrichtung der Weltherrschaft Israels als seine Hauptaufgabe betrachte, da hatten sie ihn als den Messias anerkannt." Doch später erfuhren die Juden, „die den Kaiser für einen reinen Vollblutisraeliten gehalten" hatten, daß er „nicht einmal beschnitten war". Dann verwandelte sich „die grenzenlose und glühende Ergebenheit" in einen Haß „gegen den verschlagenen Betrüger", und das ganze Judentum stand auf „wie ein Mann". Eine Millionenarmee von Juden besetzte Jerusalem, der Weltkaiser mußte fliehen und sammelte die Heiden gegen die Juden; zum Kampf kam es jedoch nicht, da die Feuerströme den Antichrist samt seinen Regimentern verschlangen.
2 Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949, S. 29.
3 Totenfeier, übersetzt von S. Lipiner, Leipzig 1887, S. 152.
a.a.O. S. 1189—1191.
Berdjajew, Die Philosophie des freien Geistes, Tübingen 1930, S. 378.
Enarrationes in Psalmos 49, 1 (PL 36, S. 715).
Sermones 19, 3 (PL 38, S. 133).
In der Eröffnungsrede des Weltkonzils sagt der Imperator: „Seit Beginn meiner Herrschaft, die der Höchste mit so wunderbaren und herrlichen Werken gesegnet hat, gabt ihr mir nie Grund ..." usw. Den Namen Gott vermeidet der Antichrist; an seiner Stelle wählt er den ,Höchsten', der vieldeutig ist und heute noch als eine ausweichende Redensart gern gebraucht wird.
9
Vgl. Vladimir Soloviev et son Oeuvre messianique, Paris 1935, S. 296. Der Meinung Strémooukhoffs schließt sich auch L. Müller in seinen Bemerkungen zur Übersetzung der „Erzählung vom Antichrist" (München 1947, S. 78) an. Dazu ist zu bemerken, daß Solowjew „das große Zeichen" am
dritten Tage nach der Eröffnung des Konzils nicht auf Grund vom Fest der hl. Sophia erscheinen läßt, sondern deshalb, weil er in den vom Antichrist im Konzilssaal getöteten Personen des Papstes Petrus II. und des Starez Johannes die zwei apokalyptischen Zeugen Gottes sieht (vgl. Offb 11, 3), deren Leichen „in der großen Stadt auf den Straßen" gerade „drei und einen halben Tag" liegenbleiben und von Menschen „aus den Völkern, Stämmen, Sprachen und Geschlechtern" gesehen werden (Offb 11, 8—9). Der 17. September spielt hier keine Rolle.
10  Dieses antichristliche ,neue Gebot' und seine praktische Verwirklichung im antichristlichen Reiche werden wir später ausführlicher untersuchen. Hier erwähnen wir es, insofern es einen Anschlag auf die Stellung Christi im Herzen des Menschen bedeutet.
11  Papst Leo XIII., „Immortale Dei" (Sämtliche Rundschreiben I), Herder, Freiburg 1881.
12  F. M. Dostojewskij, Die Dämonen, Piper, München 1949, S. 148.
13  Vgl. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow S. 1211 ff.
14  Diese so stark von Dostojewskij betonte Ausnahmslosigkeit ist eine unbedingte Voraussetzung für den bleibenden Sieg des Antichrist in der Geschichte. Solange es Gruppen von Menschen — und seien sie noch so gering — gibt, die sich von Gott nicht lossagen, tragen sie die Gottesidee durch Raum und Zeit weiter und vereiteln dadurch jede antichristliche Unternehmung. Gerade aber gegen diese kleinen Ausnahmen geht der Antichrist mit aller Schärfe vor, was Solowjew durch das mörderische Verhalten des Kaisers im Konzilssaal so tief versinnbildlicht hat. Nicht die Masse also erweist sich als geschichtlicher Träger der Unbesiegbarkeit der Kirche, sondern enge Kreise, an deren Spitze der Stellvertreter Christi steht und jedem antichristlichen Anschlag durch seine Unfehlbarkeit Trotz bietet.
15  Die Form und der Inhalt dieser Ausdrücke zeigen deutlich genug, daß der sogenannte „existentielle Augenblick", der in der heutigen Existenzphilosophie eine wesentliche Rolle spielt, in Wirklichkeit bereits von Dostojewskij hervorgehoben und beschrieben worden ist. Anderseits aber ist zu bemerken, daß Dostojewskij den existentiellen Augenblick als Moment eines höchst gesteigerten Daseins und als leuchtenden Punkt auf dem dunklen Untergrund unseres Lebens gerade aus der Vernichtung der Gottesidee im Menschen ableitet. Der existentielle Augenblick ist der weltliche Ersatz für die religiöse Ewigkeit; ein Ersatz jedoch, der sich als stärker erweist denn die ewige Dauer der Existenz und der Liebe.

VIERTER ABSCHNITT

Das antichristliche Reich

1.

ÄHNLICHKEIT MIT DEM REICHE CHRISTI

Aus dem antichristlichen Wirken als dessen sichtbare und bleibende Gestalt entsteht das antichristliche Reich. Es ist eine Verkörperung der antichristlichen Bestrebungen, eine Art Leib des antichristlichen Geistes, eine gewisse ,Kirche', die das gesamte Leben zu umfassen und es nach ihrer Idee umzubilden sucht. Das antichristliche Reich ist die Ganzheit der antichristlichen Mächte, insofern sich diese in den geschichtlichen Gebilden des menschlichen Daseins objektivieren. Nun haben wir aber bereits festgestellt, daß der Antichrist sich stets bemüht, dem Gottessohn gleichzukommen, nicht jedoch um ihm als dem Erstgeborenen aller Schöpfung nachzufolgen und ihn als das Ebenbild des unsichtbaren Gottes in seinem Leben zu verwirklichen, sondern um ihn durch seine nachäffende Tätigkeit immerfort zu verspotten, zu verschmähen und in den Augen der Menschheit herabzusetzen. Diese scheinbare Christusähnlichkeit des Antichrist, seiner Gestalt und seiner Tat, kommt auch in seinem Reiche zum Vorschein. Die Verkörperung des antichristlichen Geistes in Raum und Zeit bleibt ebenso ein bestimmtes Nachäffen der Menschwerdung des Logos in der Geschichte. Der Antichrist gestaltet sein Reich in der Weise, daß es die äußere Form der Kirche annimmt, obwohl es seinem Wesen nach ihr ausgesprochener Widerpart, ihr Verneiner und Bekämpfer ist. Das antichristliche Reich trägt die Maske der Kirche. Solowjew führt uns in seiner Erzählung eine ganze Reihe Einzelheiten an, die das Bild des antichristlichen Reiches als eine dämonische Kopie der Kirche bloßlegt, eine Kopie, die sich auf alle Gebiete des kirchlichen Lebens — auf die Lehre, auf die Moral, auf den Kult — erstredet.

Seiine Lehre gründete der Antichrist auf das von ihm selbst verfaßte Buch, dem er einen aufschlußreichen Titel gab: „Der offene Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Welt". Den eigentlichen Charakter dieses in der ganzen Welt berühmt gewordenen Werkes werden wir im folgenden Kapitel untersuchen. An dieser Stelle erwähnen wir es nur, soweit es einen dogmatischen' Kanon darstellt, dessen Ideen der Antichrist, nachdem er zur Herrschaft der Welt gelangt war, in die Praxis umsetzte. Für die antichristliche Gestaltung der Welt war dieses Buch von gleicher Bedeutung wie das Neue Testament für die Formung der von Christus erlösten Menschheit. Trotz seines weltlichen Titels barg es in sich, wie wir sehen werden, klare Grundsätze einer Diesseitsreligion. Es war jedoch keine zufällige Erscheinung im Leben des Antichrist, sondern eine Folgerung, noch mehr: die Krönung seiner ganzen ,theologischen' Laufbahn, denn der Antichrist Solowjews war in der Tat ein Theologe. In seiner Jugend verfaßte er „ein großes Werk über Bibelkritik", das seinen Ruhm begründete und die Universität Tübingen veranlaßte, ihm das Diplom eines ,Doctor theologiae honoris causa' anzubieten. Diese Ehrung nahm er „mit Befriedigung und Dankbarkeit" an. Der Antichrist — ein Ehrendoktor der Theologie! Gewiß, es ist ein kühner, aber zugleich auch ein tiefer Gedanke, durch den uns Solowjew darauf hinweisen will, daß der Antichrist einen möglichst engen Anschluß an die äußere Form der kirchlichen Lehrtätigkeit sucht und sich in ihre Gewänder kleidet, um ein Rabbi, ein Lehrer und Meister, genannt zu werden wie einst Christus.

Das sittliche Leben in seinem Reiche führte der Antichrist ebenfalls auf seine eigene Person zurück. Er wollte als ein Beispiel und sogar als das vollendete Ideal der Moral gelten und seine Nachfolge für die oberste Norm des sittlichen Handelns erklären. In dieser Hinsicht ist die Bemerkung Solowjews, der Antichrist sei „ein Mensch von untadeliger Sittlichkeit" gewesen, sehr bedeutsam. Um diese sonderbare Feststellung zu ergänzen, fügt Solowjew hinzu, sein Antichrist habe „die glänzendsten Beweise der Enthaltsamkeit, der Uneigennützigkeit und aktiver Wohltätigkeit" erbracht. Vor allem aber, sagt er, war er „ein mitleidsvoller Philanthrop". Die Menschenliebe, die er bei jeder Gelegenheit betonte, war seine Leitidee. Von ihr gleichsam ergriffen, verwirklichte er in der Welt „die Gleichheit des allgemeinen Sattseins", in dem sich Menschen als Brüder zueinander verhielten. Er rottete den Krieg „mit der Wurzel" aus. Er führte eine allgemeine Sozialreform durch. Die Philanthropie des Antichrist beschränkte sich nicht auf seine private Ebene, sie entwickelte sich bis zur Universalität und umfaßte die gesamte Welt. Jene gewaltige Unternehmung, die Menschheit in eine Herde zusammenzuschließen und sie einem Hirten zu unterstellen, von der Christus sprach und die erst der Antichrist in drei Jahren seiner Regierung vollzog, war in der Tat nichts anderes als eine sichtbare Auswirkung seiner Philanthropie. Doch der Antichrist war nicht nur ein Menschenfreund; er war auch ein Tierfreund, ein Philozoe. „Selbst vegetarisch lebend, verbot er die Vivisektion und unterstellte die Schlachthäuser einer strengen Aufsicht; die Tierschutzvereine wurden von ihm auf jede Weise gefördert." Dadurch wollte er sich als wahrer Erlöser zeigen nicht nur der Menschheit, sondern auch der dem Menschen unterstellten Kreatur, die „mitseufzt und in Wehen liegt" (Rom 8, 22). Der ganze Kosmos sollte von seiner verklärenden Liebe durchdrungen und verwandelt werden.

Den Kult aber übte der Antichrist in seinem Reiche nicht selber aus. Diese Funkeion übertrug er seinem ,Hohenpriester* Apollonius. „Aus dem fernen Morgenlande" kam dieser zu ihm und erwies sich als ein „zweifellos genialer Mensch". Seiner Abstammung nach war er „halb Asiat, halb Europäer", seinem Beruf nach, wie gesagt, „katholischer Bischof in partibus in-fidelium". Der Kaiser nahm ihn „als Geschenk von oben" auf und beauftragte ihn mit der Ausübung des Kultes, der sich durch die „verschiedenartigsten und unerhörtesten Wunder und Zeichen" zum größten Ergötzen der Menge auswirkte. Zur Zentrale dieses satanischen Treibens sollte der erwähnte Dom für die Vereinigung aller Kulte dienen. Endlich wurde Apollonius zum ,Papst' der vom Antichrist vereinigten Kirche. Seine Macht reichte selbst bis ins Jenseits hinein, denn durch sein Wort vermochte er jene „durchdringenden Stimmen" zu beschwichtigen, die anscheinend von der Unterwelt kamen und den Erlöser um die Rache für das vergossene Blut baten. Zum antichristlichen Kult gesellte sich auch eine antichristliche Mystik. All diese Parallellinien bestätigen die obige Behauptung: Das antichristliche Reich wird nach dem Bilde der Kirche gestaltet. Die von Solowjew angeführten Ähnlichkeiten sind keineswegs zufällig. Sie sind Objektivationen der absichtlichen Nachäffung des mystischen Leibes Christi, seiner Entfaltung in der Geschichte, seiner Wirkung in der erlösten Menschheit. Der Antichrist will ein Rabbi in der Lehre sein, deshalb schlägt er den äußeren Weg der kirchlichen Lehrtätigkeit ein. Er will sich als Ideal der Vollkommenheit zeigen, deshalb erweitert er seine Scheintugenden bis zur Universalität und verwandelt dadurch die Menschheit in seinen ,mystischen' Leib. Er will seinen eigenen Kult haben, deshalb verschafft er sich einen ,Hohenpriester', erbaut einen Tempel, läßt eine .Liturgie' entstehen und eine ,Mystik' gelten. Die Civitas diaboli sieht der Civitas Dei unbestreitbar ähnlich, wie auch das Tier dem Lamm ähnlich ist (vgl. Offb 13, 11). Beim tieferen Betrachten jedoch kann jeder leicht feststellen, daß diese Ähnlichkeit nur Maske, Verspottung und Verhöhnung des Reiches Christi ist. Solowjew erzählt, wie Apollonius, nachdem er zum ,Papst' erwählt worden war, auf dem Balkon des kaiserlichen Palastes erschien, aus großen Körben „ununterbrochen großartige römische Kerzen" und Raketen herausnahm und in die Luft warf. Sie entzündeten sich „durch die Berührung seiner Hand", flammten als Phosphorperlen auf und erstrahlten in Regenbogenfarben. Bei der Berührung mit der Erde verwandelten sie sich in „zahllose verschiedenfarbige Blätter mit vollkommenem und absolutem Ablaß für alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden". Selbstverständlich kannte „der Jubel des Volkes" keine Grenzen. Es schien ihm, als ob das universale Heil doch endlich ohne Opfer und Leiden eingetreten sei. Die Gnade fiel von selbst vom Himmel herab ohne jegliches Zutun des Menschen und ergötzte das Auge und das Herz. Und trotzdem „behaupteten einige, sie hätten mit eigenen Augen gesehen, wie sich die Ablaßzettel in abscheuliche Kröten und Schlangen verwandelt hätten".

Das Zusammenrücken dieser zwei symbolischen Bilder — der strahlenden Flammen in der Luft und der abscheulichen Kröten auf der Erde — drückt gerade den tiefsten Charakter des anti-christlichen Reiches aus. In seiner Gestalt ist dieses Reich strahlend, jedoch lediglich solange es Gestalt bleibt und seine prächtigen Flammen in der Luft schweben; sobald sie den Boden berühren, verwandeln sie sich in ekelhafte Reptilien. Die Verkörperung des antichristlichen Reiches in der diesseitigen Wirklichkeit verklärt diese nicht, sie erhebt sie nicht in die Sphäre des ewigen Lichtes. Im Gegenteil, sie wirft sie hinab ins Gebiet des beständigen Verbundenseins mit der irdischen Schwere. Solowjews Symbol der Kröten und Schlangen enthüllt uns das Listige und Trügerische am Reiche des Antichrist. Die antichristliche Wirklichkeit ist kein Reich des übernatürlichen, seligen Lichtes, kein geläuterter und verklärter Kosmos. Es ist diese selbe dunkle, eklige, von Kröten und Schlangen besudelte Erde. Jene in der Luft berstenden bengalischen Feuer sind nur ein Manöver, nur eine Augentäuschung: sie platzen und verschwinden, denn sie sind keine Lichter des Herrn im neuen Jerusalem. Sie sind nur Schöpfungen von Menschenhand. Ihre Gestalt sieht wohl den Werken Gottes ähnlich, doch ihrem Gehalt nach gehören sie zum Reiche der Kröten und Schlangen, welche die vom Herrn verfluchte, nur Dorn und Distel tragende (vgl. Gn 3, 17—18) und noch nicht erlöste Erde versinnbildlichen.

Es ist aber überaus bezeichnend, daß die Verwandlung der Ablaßzettel in Kröten und Schlangen nur von einigen gesehen wurde. Die überwältigende Mehrheit, wie Solowjew feststellt,-war „in einem Taumel des Entzückens" und sah nichts. Ihre Augen waren geblendet vom Feuerspiel in der Höhe. Sie vergaßen, ihren Blick auf das Nahe zu richten, und gaben sich nicht Mühe, die glänzende Gestalt der scheinbar neuen Wirklichkeit zu durchdringen und ihren Inhalt, ihr eigentliches Wesen zu erfassen. Infolgedessen entgingen Lüge und List des antichristlichen Reiches ihrem Blick, und sie gaben sich seinen Lockungen hin. Es ist daher von großer Wichtigkeit, herauszubringen, was für Menschen eigentlich diese Blinden waren. Warum sahen sie nur farbige Ablaßblätter, nicht aber zu ihren Füßen kriechende Reptilien? Darauf antwortet Solowjew, indem er uns erzählt, daß „eine unübersehbare Volksmenge" von allen Seiten den Haram-esdi-Scherif, wo der kaiserliche Palast stand, umlagerte, während die Wahl des neuen Papstes vor sich ging. „Bei Einbruch der Nacht trat der Kaiser mit dem neuen Papst auf die östliche Freitreppe hinaus und erregte einen Sturm der Begeisterung." Trotz seiner Alltäglichkeit birgt dieses Bild in sich einen tiefen Sinn und zugleich den Schlüssel zum Verständnis der geschichtlichen Erfolge des Antichrist. Jene Blinden, jene von den bengalischen Feuern verführten und betörten Menschen waren namenlose, unpersönliche Masse, wie sie stets im Lauf der Jahrhunderte auftaucht. Über die Masse warf der Wunderpapst seine römischen Kerzen, auf die Masse fiel ein Regen von Ablaßzetteln mit der unbeschränkten ,Sündenvergebung', die Masse starrte auf die funkelnden Flammen in der Luft, die Masse ergötzte sich daran und jubelte dem neuen ,Hohenpriester' zu. Das persönliche Erleben der Realität war hier getrübt und der tiefere Einblick in den geistigen Zusammenhang der Geschehnisse gehemmt. Hier herrschte das Kollektiv, und gerade deshalb feierte der Antichrist seinen Sieg.

Die Masse ist das Gegenteil der Person. Ist die Person, wie Berdjajew mit Recht behauptet, der Plan Gottes, entworfen in der Ewigkeit und ausgeführt in der Zeit, und damit Träger des göttlichen Ebenbildes im Menschen1, so ist die Masse eine Zerstörung dieses Planes, eine Verneinung der Gottähnlichkeit des Menschen. Hebt die Person den menschlichen Geist empor, weckt sie in ihm schöpferische Kräfte, behauptet sie seine Freiheit und Verantwortlichkeit, so zwingt ihn die Masse, sich selbst zu verneinen, auf seine Freiheit zu verzichten, weder eigene Weltanschauung noch eigenes Gewissen zu haben. „Masse ist der Durchschnittsmensch", sagt J. Ortega y Gasset; „man kann von einer einzigen Person wissen, ob sie Masse ist oder nicht. Masse ist jeder, der sich nicht selbst aus besonderen Gründen — im Guten oder im Bösen — einen besonderen Wert beimißt, sondern sich schlechtweg für Durchschnitt hält und dem doch nicht schaudert, der sich in seiner Haut wohlfühlt, wenn er merkt, daß er ist wie alle."2 Die Durchschnittlichkeit ist die Norm des Massenmenschen. Man erkennt leicht daraus, warum eine Kultur oder eine Epoche, in der ein Aufstand der Masse gegen die Person stattfindet, alle menschlichen Werte bald verliert und einer Gefahr „des Einbruchs des Urwaldes" (Ortega) entgegenläuft. Was in einer Gemeinschaft geschieht, die der Willkür der Masse ausgeliefert ist, schildert uns Papst Pius XII.: „Die Freiheit wie die moralischen Pflichten der Person verwandeln sich in tyrannische Forderung, den Leidenschaften und Trieben freien Lauf zu lassen ohne Rücksicht auf die Rechte des Mitmenschen. Die Gleichheit sinkt herab zu einer mechanischen Gleichmacherei, zu einer farblosen Gleichförmigkeit; das wirkliche Ehrgefühl, das persönliche Handeln, die Achtung vor der Überlieferung, die Würde, mit einem Wort alles, was dem Leben Wert gibt, versinkt und schwindet."3. Damit zugleich schwindet auch der Sinn für jede höhere Wirklichkeit, für jede tiefere Auffassung des Daseins, für jede Anerkennung und Ausübung der Religion. Der Massenmensch ist nicht nur ein entpersönlichtes, sondern gleichzeitig auch ein entgöttlichtes Wesen. Trägt die Person, wie gesagt, das göttliche Ebenbild im Menschen, so bedeutet jegliche Herabsetzung oder Zerstörung personaler Werte ohnehin auch eine Verdunkelung oder Vernichtung religiöser Werte. Die Masse entwertet die Religion in ihrem hehren Wesen und verwandelt sie in ein reines Mittel für ihre bürgerliche Lebensführung. In diesem Sinne ist jeder Aufstand der Massen, jedes Vorschieben des Chors an die Rampe der geschichtlichen Bühne (Ortega) eine unmittelbare Gefährdung der Kirche.

Gerade deshalb erweist sich die Masse als der geeignetste Boden für die Entstehung und den Aufschwung des antichristlichen Reiches. Dadurch, daß sie nur äußere Gestalten zu erfassen vermag, dem Sinn gegenüber aber blind bleibt, wird die Masse zum gefährlichsten Werkzeug in den Händen des Antichrist. Das antichristliche Reich ist in seinem Wesen ein Reich der Masse, und die Entpersönlichung des gesamten Lebens geht Hand in Hand mit dem Zuwachs der antichristlichen Herrschaft in der Welt. Das ist durchaus verständlich; denn je mächtiger die Masse ist, desto geringer wird die Person, und je geringer die Person wird, desto größer wächst der Antichrist. Infolgedessen ist die Vermassung des Menschen ein stetes Anliegen der antichristlichen Mächte. Sie berauben den Menschen seiner Einsamkeit, in der seine Persönlichkeit sich entfaltet und reift, und tauchen ihn ins Kollektiv unter. Sie erklären die Masse für den eigentlichen Raum des menschlichen Daseins und gestatten ihm deshalb nicht, dem Beispiel Christi folgend, sich in die Wüste zurückzuziehen und seine eigenen Gedanken und

Gefühle zu hegen. Alles soll im antichristlichen Reiche kollektiv sein: Arbeit und Ruhe, Familie und Haushalt, Werkstätte und Werkzeuge, aber auch Anschauungen und Meinungen, Lobpreisungen und Verurteilungen, Freude und Trauer, Liebe und Haß. Das Durchschnittliche und Gemeinsame wird hier zum obersten Gesetz des Lebens erhoben. Daraus entsteht nicht nur eine soziale, sondern auch eine religiöse Pflicht, alle personalen Werte zu pflegen und alle organischen Gemeinschaften zu fördern. Die weitreichendste Entmassung der Menschheit ist die dringendste Aufgabe der Kirche, um der antichristlichen Gefahr entkommen zu können, denn der Prozeß der Person-werdung ist eines der wesentlichen Kennzeichen des Reiches Christi.

2.

DAS ANTICHRISTLICHE EVANGELIUM

Das antichristliche Reidi setzt ein antichristliches ,Evangelium' voraus, d. h. ein gewisses Ideensystem, das der Menschheit vom Antichrist als dessen Botschaft verkündet und durch falsche Propheten, Anbeter und Diener verbreitet und verwirklicht wird. Das Reich des Antichrist ist auch in dieser Hinsicht dem Reiche Christi ähnlich: es besitzt ebenfalls seine ,Heilige Schrift'. Solowjew erzählt, daß sein „Mensch der Zukunft", nachdem er vom Teufel „in Kraft" gezeugt war, sich in sein Arbeitszimmer einschloß und mit einer „übernatürlichen Schnelligkeit und Leichtigkeit" sein berühmtes Werk schrieb, das er, wie schon gesagt, den „offenen Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Welt" nannte. Das war sein Lebenswerk. „Die früheren Bücher und sozialen Betätigungen des Übermenschen hatten manche strenge Kritik erfahren." Sein letztes Werk erfuhr nun keine Kritik mehr. Durch dieses Buch „zog er sogar einige seiner früheren Kritiker und Gegner zu sich herüber". Niemand vermochte eine „Erwiderung auf dieses Buch" zu schreiben. Jedem kam es vor als „die Offenbarung der ganzen Wahrheit". Es war „etwas Allumfassendes", in dem alle Widersprüche versöhnt waren. „Edle Ehrfurcht vor den alten Überlieferungen" verband sich hier mit einem „weiten und kühnen Radikalismus sozialpolitischer Forderungen und Weisungen; eine unbegrenzte Freiheit des Gedankens mit tiefstem Verständnis für alles Mystische; ein unbedingter Individualismus mit dem brennenden Eifer fürs Gemeinwohl; ein höchster Idealismus der leitenden Prinzipien mit der vollen Bestimmtheit und Lebendigkeit praktischer Lösungen". All das war so genial vereinigt und verbunden, daß es „jedem einseitigen Mann des Gedankens und der Tat" leicht war, „das Ganze nur unter seinem besonderen, ihm eigentümlichen Aspekt zu sehen und anzunehmen, ohne daß er der Wahrheit selbst irgendwelche Opfer zu bringen, ohne daß er sich um ihretwillen wirklich über sein Ich zu erheben, seiner Einseitigkeit in der Tat zu entsagen, ohne daß er die Fehler seiner Ansichten und Bestrebungen auszumerzen oder deren Unzulänglichkeit zu ergänzen brauchte". Es war ein Buch der vollkommensten Einheit, so daß jeder zu ihm sagte: „Ja, das ist es, was wir brauchen; das ist ein Ideal und doch keine Utopie; ein Plan und doch keine Chimäre." Deshalb war „dieses erstaunliche Buch" sofort „in die Sprachen aller gebildeten und einiger ungebildeten Nationen" übersetzt. „Tausende von Zeitungen aller Weltteile" waren voll von „Verlagsreklamen und entzückten Besprechungen". Billige Ausgaben „mit dem Porträt des Verfassers" waren „in Millionen von Exemplaren" abgesetzt. „Die gesamte Kulturwelt" hallte wider vom „Ruhm des Unvergleichlichen, Großen, Einzigen".

Die äußere Ähnlichkeit dieses antichristlichen Buches mit dem Evangelium Christi ist unbestreitbar. Die frohe Botschaft des Heilandes erfährt auch keine Kritik im wahren Sinne des Wortes: sie wird entweder angenommen oder abgelehnt. Julian Apostata aus Ibsens Drama „Kaiser und Galiläer" verspricht zwar, eine vernichtende Kritik des Christentums zu verfassen, die gleichsam wie ein Windstoß die neue Religion von der Erdkugel wegblasen sollte. Doch während er mit einem tintenfleckigen Papyrusröllchen unter dem Arm umherläuft, wächst der evangelische Samen zu einem großen Baum und beherbergt in seinem Laub die ganze damalige Kulturwelt. Julians Kritik bleibt ungeschrieben — für alle Jahrhunderte. Ebensowohl wird das Evangelium als die Offenbarung der vollen und letzten Wahrheit angesehen. Auch darin findet der Mensch eine Antwort auf alle seine Daseinsfragen. Das Evangelium Christi ist gleichfalls allumfassend. Es verwirft nichts, was in sich wertvoll ist; es versteht auch menschliche Gegensätze in sich zu vereinigen. Die Heilige Schrift ist ebenso in die Sprachen aller gebildeten und weniggebildeten Völker übersetzt und in Millionen von Exemplaren verbreitet. Ohne Zweifel, Solowjew schrieb dem Buch des Antichrist diese Eigenschaften des Evangeliums absichtlich zu, um dadurch die maskenhafte Gestalt dieses Werkes zu veranschaulichen und zugleich seinen inneren Gegensatz zur Botschaft Christi zu unterstreichen. Die äußere Ähnlichkeit sollte hier, wie auch im ganzen Reich des Tieres, zum Vorhang dienen, um den unüberbrückbaren Abgrund, der zwischen Christus und dem Antichrist gähnt, vor den Augen der Menschheit zu verhüllen. — Was also ist dieses Buch vom Antichrist, und worin besteht das Wesen des von ihm eingeschlagenen Weges zu Frieden und Wohlfahrt der Welt? Das Evangelium Christi ist ebensowohl der offene Weg dazu. Aus welchem Grund verwirft also der Antichrist die Botschaft Jesu und predigt seine eigene? Und worin besteht der wesentliche Unterschied zwischen diesen zwei Botschaften?

Das Evangelium Christi ist der Weg zur Uberwindung der hiesigen Wirklichkeit: es ist der Weg zum Selbsttranszendieren. Es gibt uns nicht dieser ungeläuterten, unverklärten Wirklichkeit preis, sondern zeigt uns eine höhere Realität, die sich in Christus erschlossen hat und zu der zu gelangen wir alle berufen, ja verpflichtet sind. Das Hauptgebot des Evangeliums ist Verzicht auf alles, was alt ist, was uns an die Erde bindet, seien es sogar unsere eigenen Eltern oder unsere eigenen Kinder (vgl. Mt 10, 37). Wollen wir den Weg des Evangeliums gehen, so sollen wir die Werke der Finsternis ablegen (Rom 13, 14), die Welt nicht mehr lieben (1 Jo 2, 15), keine Schätze hienieden sammeln (Mt 6, 19), ja unsere Habe verkaufen und den Erlös den Armen geben (Mt 19, 21); wir sollen nicht nur unseren Nächsten wie uns selbst lieben (Mt 22, 39), sondern auch unsere Feinde, und für die beten, die uns verfolgen und verleumden (Mt 5, 44); wir sollen uns unserer Werke nicht rühmen (Mt 6, 2—4); wir sollen weder richten noch verurteilen (Mt 7, 2). Das Emporheben des Menschen in eine höhere Ebene des Daseins ist die Aufgabe des Evangeliums Christi. — Das Buch des Antichrist dagegen verlangt vom Menschen keineswegs, daß er sich über sein faktisches Ich erhebt, seinen Einseitigkeiten entsagt und seine Unzulänglichkeiten ergänzt. Wohl findet jeder sich selbst in dieser weltberühmten Schrift, nicht aber so, wie er sein soll, sondern nur so, wie er in seiner faktischen Wirklichkeit ist. Das antichristliche ,Evangelium' fordert keine Reform des menschlichen Daseins. Ein einseitiger Denker darf auch weiterhin seine Absonderung vom Leben fortsetzen, ein einseitiger sozialer Aktivist braucht ebensowenig auf seine innere Vervollkommnung achtzugeben. Die antichristliche Botschaft befriedigt alle, weil sie alle in ihrer alten Lebensform verharren läßt. Sie verkündet kein Selbstüberschreiten, kein Sichemporheben, keine Überwindung der falschen irdischen Faktizität. Im Gegenteil, sie bestätigt alle menschlichen Gewohnheiten, Unzulänglichkeiten, Fehler und Sünden. — Das Evangelium Christi stellt in seinem Wesen das Bild der durch die Gnade geläuterten und verwandelten Wirklichkeit dar, wie diese in dem ursprünglichen Seinsplan Gottes leuchtet. Das Buch des Antichrist bleibt nur eine Kopie der hiesigen Welt, wie sie sich im Alltag befindet. Das Evangelium Christi läßt irdische Gestalten vergehen in der Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde gemäß der Verheißung des Herrn (vgl. 2 Petr 3, 13; Offb 21, 1); das Evangelium des Antichrist hingegen verewigt irdische Daseinsweise und hält sie in ihrer Falschheit aufrecht. Folglich ist die antichristliche Botschaft nie eine frohe Verkündigung, denn sie ist kein Ideal, das über der Wirklichkeit steht und diese einlädt, sich zu ihm zu erheben. Die antichristliche Botschaft ist diese Wirklichkeit selbst, nur in ein Gedankensystem eingekleidet.

Hier erhebt sich aber eine wichtige Frage: Was setzt das antichristliche .Evangelium' im Menschen voraus, um ihn an sich ziehen und binden zu können? Wenn das Werk des Solowjew-schen Antichrist eine universale Annahme und Zustimmung fand, wenn es keine Kritik erfuhr, wenn es in Millionen von Exemplaren verbreitet wurde, so geschah dies ja nur deshalb, weil der Mensch eine Bereitschaft für seine Grundstimmung und Grundrichtung besaß. Eine gewisse „potentia obedientialis" der menschlichen Natur ist erforderlich, auf daß die antichristliche Botschaft vernommen und angenommen wird. Da aber diese Botschaft eine schroffe Ablehnung des Evangeliums Christi bedeutet, ist leicht einzusehen, daß die Bereitschaft des Menschen für den Antichrist auf einer grundsätzlich anderen Ebene seiner Natur beruht als seine Bereitschaft für Christus.

Der Mensch ist ein sich selbst transzendierendes Wesen. In seinem tiefsten Inneren findet er sich nie mit der faktischen Wirklichkeit seines Daseins ab. Er sucht immer nach etwas, was über ihm steht und jenseits seiner Tatsächlichkeit west. Nicht immer ist er zwar darüber im klaren, wonach er sich konkret sehnt, und daher irrt er sogar oft, wenn er dieser Sehnsucht praktisch nachkommt. Doch die Sehnsucht selbst bleibt unausrottbar und spornt den Menschen beständig an, sich selbst zu überschreiten. In diesem Sinne bekommt der Ausdrude Zarathustras eine tiefere Bedeutung, als ihm Nietzsche selbst vielleicht beimaß: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll" — gewiß nicht im Hinblick auf die biologische Entwicklung, woran Zarathustra denkt, sondern in Hinsicht auf das irdische Leben überhaupt, auf die faktische Realität der Existenz, auf die un-geläuterten Gestalten ihrer Verwirklichung. Die Überwindung unseres Selbst liegt unserer Seinsstruktur zugrunde. Diese onto-logische Bestimmung über uns selbst hinaus bildet gerade die natürliche Grundlage und Bereitschaft des Menschen für die Annahme der übernatürlichen Botschaft Christi. Trotz seines gnadenhaften und übernatürlichen Charakters erscheint uns das Evangelium Christi als die Erfüllung unserer eigenen tiefsten Sehnsucht. Christus erleben wir als Vollender unserer eigenen Menschlichkeit; und mit vollem Recht, denn er ist unser Urbild, die fleischgewordene Antwort auf die Seins- und Sinnfrage des Menschen. Daher findet der innere Mensch, von dem der hl. Paulus spricht (vgl. Rom 7, 23), im Evangelium gerade das, wonach er sich sehnt und sucht. Indem er das Evangelium aufschlägt, öffnet er gleichsam sich selbst und findet darin das eigene Sein, das wahre Sein, das göttliche Sein, an dem er in seiner Tiefe teilnimmt und somit sich selbst erfüllt. Die onto-logische Bestimmung des Menschen zum Hinausschreiten über sich selbst erfährt im Evangelium ihre vollkommene Entfaltung und Vollendung.

Solange aber der Mensch in der Zeit lebt, bleibt diese Bestimmung mehr Aufgabe als Durchführung, mehr Sehnsucht als Erfüllung. Ein tiefer Zwiespalt durchzieht unsere ganze Natur, eine Zwietracht herrscht in unserem Innern, die dem hl. Paulus unermeßlich tiefe Worte in den Mund gelegt hat: „Ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt. Denn das Wollen liegt mir nahe, aber das Vollbringen des

Guten nicht. Ich tue ja nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich" (Rom 7, 18—19). Das Fleisch oder das fleischliche Ich (vgl. Rom 7, 14) bedeutet hier etwas viel Tieferes als nur unsern sichtbaren körperlichen Organismus. Das fleischliche Ich ist hier vielmehr ein Symbol für die Ausrichtung des menschlichen Daseins nach der Faktizität. Der Geist hingegen oder der innere Mensch (vgl. Rom 7, 23) bedeutet die Richtung nach oben, die Sehnsucht nach dem Höheren. Somit bilden das Hinausschreiten über sich selbst und das Verbleiben in der Faktizität ein wahres Kreuzfeuer, ein Kreuzfeuer des Daseins selbst, in dem sich das menschliche Sein vollzieht. Einmal entscheidet sich der Mensch für das Hinausschreiten über sich selbst, für die Überwindung des eigenen Ich, für das Höhere und Jenseitige. Einmal wiederum entsagt er alldem und begnügt sich mit seiner Wirklichkeit in ihrer reinen Tatsächlichkeit. Einmal lebt er aus dem Ideal, einmal aus dem nackten Faktum. Und so schwankt nicht nur jeder Einzelne, so schwankt auch die gesamte Menschheit in ihrer Geschichte. Solange das menschliche Dasein in der Zeit verläuft, bleibt es in via, und die Freiheit wird zu einer schicksalsschweren Macht für alle. Erst der letzte Moment des Daseins, sowohl des persönlichen als auch des geschichtlichen, wird die Entscheidung und daher auch schließlich das Schicksal des Menschen unabänderlich besiegeln.

Nun bietet sich die antichristliche Botschaft dem Menschen ausgerechnet dann an, wenn in ihm die Sehnsucht nach dem Höheren und Jenseitigen verstummt und die Genügsamkeit mit der faktischen Wirklichkeit überhandnimmt. Die Unterwerfung des Menschen unter die Faktizität ist die eigentliche Bereitschaft, die eigentliche „potentia obedientialis" für den Antichrist. Der Sieg der Faktizität über die Idealität bedeutet im Wesen einen Sieg des Antichrist über Christus. Der von dem fleischlichen Ich gefaßte Entschluß für die hiesige Wirklichkeit stimmt mit der Grundrichtung der antichristlichen Botschaft völlig überein und bereitet den natürlichen Boden für deren Annahme und Durchführung vor. Am erstaunlichsten ist es aber, daß das antichristliche ,Evangelium' sich dem Menschen doch als eine frohe Botschaft vorstellt, obwohl es ihm überhaupt keine neue Wirklichkeit und keine neue Daseinsweise erschließt. Nachdem der Massenmensch das antichristliche Wort vernommen und angenommen hat, fühlt er sich befreit, ja sogar erlöst. Früher schwankte er in sich, denn er konnte sich nicht mit seiner Faktizität abfinden. Jetzt aber wird er vom Antichrist gestärkt, indem dieser ihn in das Faktum seines Daseins fest einsetzt und es gewissermaßen gemütlich für ihn einrichtet. Die Faktizität wird zu seinem Los und die Erde zu seiner ewigen Heimat. Für Giftmischer und Verächter des Lebens, für Absterbende und Vergiftete werden alle erklärt, die ihm, diesem ,Neophyten', von überirdischen Hoffnungen reden.

Gerade hierin aber liegt das Dämonische dieser Botschaft. Christus verneint im Wesen das Diesseits auch nicht. Er selbst nahm unsere unverklärte Daseinsweise auf sich und erlitt sie in ihren Grenzsituatiionen. Doch all das war für ihn keine frohe und neue Botschaft. Die Neuigkeit des Evangeliums Christi bestand gerade in der Uberwindung des alten Daseins, in der Befreiung der Schöpfung von der Vergänglichkeit und in ihrer Erhebung „zur Freiheit der Kinder Gottes" (Rom 8, 22). Der Antichrist dagegen schließt den Menschen in seine alte Daseinsweise für ewig ein; gleichzeitig aber verkündet er, der Mensch sei von nun an ein neues, befreites Geschöpf, ein Herrscher der Welt, ein Herr der Zukunft. Nirgendwo wird so laut und entschieden behauptet, die Erde sei erneuert, wie im antichristlichen ,Evangelium', und nirgendwo bleibt alles so radikal beim alten wie im Reiche des Antichrist. Die Neuigkeit der antichristlichen Botschaft besteht gerade in der Beseitigung alles Neuen und in der Verewigung alles Alten. In dieser Hinsicht, wie in vielen anderen, ist das antichristliche Reich ein Reich der Lüge. Es ist nur eine Maske, die das alte Dasein verdeckt. Dessenungeachtet jubelt die Masse dieser Maske zu, und in diesem Zujubeln tritt das Geheimnis der Bosheit am deutlichsten ans Licht. Im Evangelium Christi, wo alles den Odem der neuen Schöpfung haucht, findet die Menge nicht Neues; im ,Evangelium' des Antichrist, wo alles nur Verwesung ist, spürt sie einen Fortschritt des Lebens selbst. Hier stoßen wir in der Tat auf ein Geheimnis, dessen Tiefe sich unserem Verstehen entzieht. Brauchte der Mensch die tausendjährige Geschichte nur dazu, um aus dem Mund des Antichrist zu hören, daß er so existiert, wie er immer existiert hat: als Schwächling, Feigling, Lügner, Mörder, Ehebrecher ...? Brauchte er alle Philosophie und Theologie nur dazu, um eine Formel hervorzubringen, in welcher der Antichrist unsere Faktizität zusammenfaßt? Wenn es so in Wirklichkeit ist, dann bedeutet die Annahme des antichristlichen ,Evangeliums' einen gründlichen Zusammenbruch der Geschichte in ihrer Sinnlosigkeit, denn die Botschaft des Antichrist ist Lüge. Entfaltet sich einmal diese Lüge bis zu einem objektiven Gebilde, umfaßt sie die Welt in ihrer Gesamtheit, so ist die Geschichte ihrem Ende nahe, weil die Objek-tivation der Lüge im Wesen ja eine Objektivation des Nichtseins ist.

Im Lichte dieser Erwägungen stellt sich ebenso heraus, daß die scheinbar vollkommene Einheit des weltberühmten Werkes vom Antichrist gleichfalls nur ein schlau verdeckter Lug und Trug ist. Zwar besteht das irdische Dasein aus lauter Gegensätzen, die sich bis zum Ende zu entwickeln und das Ganze sich selbst zu unterwerfen suchen. Daraus entstehen unablässig Konflikte, die unser Leben in einen unaufhörlichen Kampf aller gegen alle verwandeln. So ist es durchaus verständlich, daß die Menschheit seit allem Anfang nach der Einheit trachtet. Verwirklicht aber das Buch des Antichrist diese Einheit? Das menschliche Dasein löst sich eben deshalb auf, weil es das höhere Band verloren hat und sich nicht mehr in der Lage befindet, es zurückzubekommen. Das Verschwinden der einigenden Entelechie — mag sie Idee, Form, Seele, Gott heißen — ist das Zeichen des Todes und damit auch des Zerfalls. Will man also das zerfallene und zersplitterte Dasein von neuem vereinigen, so muß man ihm die entwichene Zentralentelechie zurückgeben. Besitzt aber diese das antichristliche ,Evangelium'? Wenn auch niemand dem Werke des Antichrist, so erzählt Solowjew, etwas vorwerfen konnte, so stellten doch „einige gottesfürchtige Menschen" mit Schauder fest, daß „Christus in ihm nicht ein einziges Mal erwähnt" ist. Eben diese Feststellung enthüllt uns nun die wesentliche Lücke in der Botschaft des Antichrist. Christus ist aus ihr ausgeschlossen. Er gilt hier nicht als das wahre und einzige Band für das sich auflösende Dasein. Er versöhnt nicht, „was auf Erden und im Himmel ist" (Kol 1, 21). Damit aber ist aus dem Werk des Antichrist gerade die Zentralentelechie beseitigt, aus der man die Eintracht stiftende und erhaltende Kraft schöpfen kann. In der Entfaltung des Seins herrscht ein unerbittliches Gesetz: das niedrigere Seiende wird nur durch das höhere Seiende vereinigt. Die Natur erreicht ihre wahre Einheit nur in der Kultur, und die Kultur nur in der Religion. Der Stoff wird nur vom Leben, das Leben nur vom Geiste und der Geist nur vom Gott in Einheit gehalten. Die ganze natürliche Ordnung ist nur so weit harmonisch, als sie die ewige Harmonie der übernatürlichen Ordnung durch sich wiedergibt und in sich verwirklicht. Die Einheit ist ihrem Wesen nach eine Ganzheit, d. h. etwas Höheres als die ihr zugehörigen und von ihr in ihrer Existenz und in ihrem Sinne abhängigen Teile. Verzichtet also das antichristliche ,Evangelium' auf die Übernatur, so schlagen alle seine Bemühungen, die Einheit in der Natur herzustellen, unausweichlich fehl. Für den Menschen ist das alleinige Band im Dasein nur Gottmensch, denn nur in ihm ist das Menschliche und das Göttliche vollkommen versöhnt und die unzerstörbare Einheit des Kosmos endgültig gestiftet. Schaltet man ihn aus dem Dasein aus, so verneint man in der Tat das Wesen selbst der Einheit. Eine Einheit ohne Christus ist nicht nur praktisch unmöglich, sondern auch widerspruchsvoll in sich, denn sie ist eine Einheit ohne das einigende Band.

Daher ist die vom Antichrist verkündigte Einheit keine Einheit im wahren Sinn des Wortes, sondern nur eine Zusammenstellung der Gegensätze nebeneinander. Er bringt die Widersprüche des Daseins nur unter einem Dach zusammen, ohne den Geist des Widersprechens zu überwinden. Er schafft keine Synthese, sondern nur einen Synkretismus. Daraus wird verständlich, warum die antichristliche Botschaft vom Menschen kein Opfer verlangt. Brächte sie die wahre Einheit, so würde sie ein Opfer um des Höheren und Gemeinsamen willen unbedingt fordern, denn ohne Opfer ist keine Einheit möglich. Um die Einheit herstellen zu können, muß man auf das verzichten, was scheidet. Da aber die Einheit des Antichrist nur eine Maske ist, verlangt sie folgerichtig keine Verzichtleistung, keine Selbstüberwindung und kein Opfer. Nebeneinander stehen kann man ja auch ohne jegliche Änderung der faktischen Wirklichkeit. Ebenfalls wird verständlich, warum das Buch vom Antichrist keine Kritik erfuhr, denn sein ,Evangelium' kritisieren heißt unser faktisches Selbst verurteilen. Das Evangelium Christi erfährt keine Kritik aus dem Grund, weil es die höhere Seinsordnung darstellt und sich dadurch unserem Werturteil entzieht: wir besitzen keinen Maßstab, um diese Ordnung auszumessen. Die

Botschaft des Antichrist erfährt keine Kritik deshalb, weil es diese Wirklichkeit selbst darstellt, ihre Faktizität, ihre alltägliche Daseinsweise. Jede Kritik ist aber ein Vergleich. Womit nun kann man diese Wirklichkeit vergleichen, wenn sie uns als die einzige und endgültige Realität verkündet wird? — Und so schreitet das ,Evangelium' des Antichrist durch Raum und Zeit, ohne kaum auf eine Kritik und noch weniger auf einen Widerstand zu stoßen.

3.

DIE ERZWUNGENE LIEBE

Gegen Ende seines irdischen Lebens wurde Christus von einem Gesetzesgelehrten mit der Frage auf die Probe gestellt: „Welches Gebot ist das größte im Gesetz?" Christus antwortete darauf: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Gemüte. Dies ist das größte und erste Gebot" (Mt 22, 36—37). Auf ihm und auf der von ihm abgeleiteten Nächstenliebe ruhen „das ganze Gesetz und die Propheten" (22, 40). Im Wesen ist dieses Gesetz ein Seinsgesetz, das in der ontologischen Struktur des Menschen liegt, denn ist die Liebe, wie wir bereits festgestellt haben, eine Kraft zum Sein hin, so richtet sich diese Kraft von selbst wesentlich auf Gott hin, weil Gott die Fülle des Seins, d. h. das einzig wahre Objekt unserer Liebe ist. Alle von uns geliebten irdischen Personen sind lediglich Sinnbilder und Zeichen, die uns auf das Ewige im Lieben hindeuten und uns stets warnen, beim Zeitlichen haltzumachen. Da unsere Natur in ihrem Aufbau zum Mitsein bestimmt ist, sucht sie unaufhörlich nach einem andern, mit dem sie ihr Dasein teilen könnte. In keiner irdischen Person jedoch findet sie diesen andern. Keine irdische Person ist imstande, uns so nahe zu kommen, daß wir mit ihr gemeinsam sein könnten. Wir können mit ihr gemeinsam uns freuen, leiden, beten, schaffen. Doch all dies ist nur noch Funktion des Daseins, nicht aber das Dasein selbst. Das Dasein an sich ist mit keinem Menschen zu teilen. Es ist inkommunikabel. Denn mitsein bedeutet nicht nur Erscheinungen oder Funktionen des Daseins auf sich nehmen, sondern auch das Dasein in seinem tiefsten Schicksal. Mitsein heißt auch mitsterben, weil der Tod, wie es die heutige Existenzphilosophie richtig hervorhebt, nicht ein Moment im Dasein, sondern die Vergänglichkeit des Daseins selbst ist. Will jemand also das Dasein mit uns teilen, so muß er auch dessen Vergänglichkeit teilen: er muß auch mitsterben. Doch das Mitsterben bedeutet im Wesen das Sterben des fremden Todes. Um aber den fremden Tod auf sich nehmen zu können, muß man von seinem eigenen Tode frei sein; frei von der Ursache, vom Stachel des Todes, also von der Sünde; frei jedoch nicht im Sinne des Befreitseins, sondern in dem der eigenen und absoluten Souveränität. All das überragt aber menschliche Kräfte.

Und trotzdem sind wir zum Mitsein bestimmt. Trotzdem trachten wir nach dem gemeinsamen Dasein, suchen den Weg aus uns selbst hinaus und sehnen uns nach einem Leben in dem andern. Das Mitsein ist Grundverfassung und zugleich Erfüllung des kreatürlichen Daseins. Mit wem können wir also mitsein? Wer ist imstande, unser Dasein auf sich zu nehmen, d. h. mit uns mitzuleben und mitzusterben? Gott? Ja, aber nicht als Schöpfer und Grund des Seienden, sondern als Erlöser. Unseres Todes sterben und folgerichtig unser Dasein tragen kann nur der fleischgewordene Gott. Und das ist nicht nur eine rein logische Möglichkeit, sondern auch die vollendete historische Wirklichkeit. Der göttliche Logos hat die menschliche Natur angenommen, das schwere menschliche Schicksal erlitten und ist gestorben, nicht aber seines eigenen Todes — es gab in der Menschlichkeit Christi keinen Grund zum Tode, weil in ihm keine Sünde war —, sondern des Todes der gefallenen und deswegen dem Tode verfallenen Menschheit. Dadurch wurde Christus auch zum Herrn des Daseins. Als der hl. Johannes in seinen apokalyptischen Visionen ein mit sieben Siegeln versiegeltes Buch — das Symbol des Daseins — sah, vermochte „keiner im Himmel oder auf der Erde" es zu öffnen außer dem Lamm, das geschlachtet und infolgedessen würdig war, „das Buch zu öffnen und seine Siegel zu erschließen" (Offb 5, 3; 5, 9). Das Dasein steht nur dem Besieger des Todes offen. Christus ist also jener andere, den der Mensch so sehnsüchtig sucht und dem er die Last seines Lebens und Sterbens auferlegen kann. Er ist die ganze Fülle sowohl des göttlichen als auch des menschlichen Seins und zugleich deshalb das konkrete Objekt unserer Liebe. Indem wir zum Mitsein bestimmt sind, sind wir in Wirklichkeit zu Christus bestimmt, und das Gebot, Gott aus unserem ganzen Herzen zu lieben, ist in der Tat ein Gebot, den menschgewordenen Gott zu lieben. Das menschliche Sein vollendet sich im Mitsein, und das Mitsein vollzieht sich nur in Christus.

Im Lichte dieser Gedanken verstehen wir, warum sich der Antichrist unaufhörlich bemüht, nicht allein objektive Gebilde des geschichtlichen Lebens zu beherrschen, sondern auch das Innere des Menschen an sich zu reißen und die Richtung seiner Unruhe zu ändern. Da er weiß, daß der Mensch nach einem andern trachtet, den er lieben, d. h., mit dem er sein Leben und Sterben teilen könnte, und daß dieser andere tatsächlich der menschgewordene Gott ist, versucht der Antichrist, Christus aus der Sehnsucht des menschlichen Herzens auszustoßen und seinen Platz selber einzunehmen. Eine symbolische Darstellung dieser Bemühungen gibt uns Solowjew, wie bereits erwähnt, in der Eröffnungsszene des Weltkonzils. Nachdem die Klänge des „Marsches der einigen Menschheit" verstummt waren, trat der Kaiser „neben den Thron, machte eine majestätisch huldvolle Geste, und mit einer klangvollen und angenehmen Stimme" hielt er folgende Ansprache: „Christen aller Bekenntnisse! Meine geliebten Untertanen und Brüder! Seit Beginn meiner Herrschaft, die der Höchste mit so wunderbaren und herrlichen Werken gesegnet hat, gabt ihr mir nie Grund, mit euch unzufrieden zu sein; ihr habt eure Pflicht nach Glauben und Gewissen stets erfüllt. Doch das genügt mir nicht. Meine aufrichtige Liebe zu euch, geliebte Brüder, dürstet nach Erwiderung. Ich möchte, daß ihr nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus dem Gefühl herzlicher Liebe mich anerkennt als euren wahren Führer in einem jeglichen Werke, unternommen zum Heil der Menschheit." Nachdem der Antichrist die Menschheit zur politischen Einheit gebracht, die soziale Frage gelöst und die christlichen Konfessionen zur Beseitigung der religiösen Zersplitterung zusammengerufen hatte, wußte er, daß er das äußere Leben bereits in seinen Händen hielt. Die Welt hat sich ihm unterworfen. Hätte aber sein Sieg einen Wert, ohne daß das menschliche Herz ihm gehörte? Hätte die Entchristlichung objektiver Gebilde der Geschichte einen Sinn, wenn der menschliche Geist von der Liebe zu Christus auch weiterhin erfüllt bliebe? Verharrt die menschliche Seele trotz allem in ihrem Innern in Treue zu Gott, so erwacht sie eines Tages aus der äußeren Versklavung und macht die vom Antichrist geschaffenen gottlosen Gestalten zunichte. Um das zu vermeiden, will der Antichrist weiterschreiten und die Seele selbst überwältigen. Fängt der Mensch an, den Antichrist zu lieben, dann wird dessen Reich unerschütterlich: sowohl von außen, denn seine „erlesene Armee" aus allen Stämmen und Völkern (vgl. Offb 13, 7) erstickt jeden politischen Widerstand im Keime, als auch unerschütterlich von innen, denn die Liebe zu ihm läßt keine geistige Empörung zu. Das auf Macht und Liebe gebaute Reich wird ewig. In diesem Fall wird Christus aus der Geschichte endgültig verbannt und bleibt lediglich in unerreichbaren Sphären seines himmlischen Vaters wohnen, ohne seine Gewalt über die historische Menschheit ausüben zu können. Hier liegt der Grund, aus dem sich der antichristliche Weltherrscher zum letzten Schritt entschloß, der ihm die Liebe seiner Untertanen sichern sollte.

Auf welche Art und Weise wollte er das erreichen? — Christus ist Objekt unserer Liebe dadurch, daß er das menschliche Dasein und den menschlichen Tod auf sich genommen und damit die menschliche Bestimmung zum Mitsein vollkommen verwirklicht hat. Wodurch aber gewinnt der Antichrist das menschliche Herz für sich? Die Antwort darauf gibt uns Solowjew durch die Fortsetzung der Eröffnungsansprache des Kaisers. Nachdem dieser das oben zitierte ,neue Gebot' der Liebe verkündet hatte, fuhr er fort: „Christen, womit könnte ich euch glücklich machen? Was könnte ich euch geben — nicht als meinen Untertanen, sondern als Glaubensgenossen, als meinen Brüdern? Christen, sagt mir, was euch das Teuerste ist am Christentum, damit ich meinen Bemühungen diese Richtung geben kann." Wie wir schon wissen, gaben die Mitglieder des Weltkonzils keine Antwort auf diese Frage. Dann begann der Imperator selbst, jeder Konfession „das Teuerste am Christentum" nachzuweisen. Er bot an: den Katholiken die Wiederherstellung der päpstlichen Rechte und Privilegien, den Orthodoxen die Gründung eines Weltmuseums für Archäologie und den Protestanten die Errichtung eines Weltinstituts für freie Erforschung der Heiligen Schrift. Durch diese Gaben hoffte also der Antichrist die Herzen der Christen für sich zu gewinnen. Und in der Tat nahm die Mehrheit der Christenheit seine Geschenke an, begab sich zu ihm und ließ sich im Schatten seines Thrones nieder. Dadurch drückte sie ihre Liebe zum Antichrist sichtbar aus, denn die Einnahme des Platzes auf der Estrade sollte eben die Antwort auf die Einladung des Kaisers sein: „Wer von euch midi nach Gewissen und Gefühl als solchen (d. h. als den einzigen Führer und Beschützer der Christen, d. Verf.) anerkennt, der komme her zu mir." Die Mehrheit ging zu ihm und brachte dadurch die Entscheidung ihres Gewissens und das Aufflammen ihres Gefühls zum Vorschein. Doch kleine Scharen aller drei christlichen Konfessionen befolgten das ,neue Gebot' nicht. Sie wollten keine Liebe zum Antichrist zeigen. Sie gehorchten ihm nur so weit, daß sie zum Konzil kamen und an der Versammlung teilnahmen. Aber ihr Herz wollten sie nicht verkaufen. Wie benahm sich der Antichrist ihnen gegenüber? Er nannte sie „seltsame Leute", Verlassene von der Mehrheit ihrer Brüder, Verurteilte „durch das gesunde Volksempfinden"; zwei von ihren Führern ließ er töten, andere verbannte er aus der Stadt in die Wüste. Das gleiche hätte er mit allen getan, wenn sie ihm ebenfalls Widerstand geleistet hätten. Darauf wies der Antichrist selbst hin angesichts des Leichnams Papst Petrus' II.: „Also werden alle meine Feinde umkommen." Das Angebot und die Drohung sind daher Grundmittel, kraft deren der Antchrist das menschliche Herz für sich zu gewinnen sucht. Gewiß, das Angebot des Solowjewschen Antichrist blieb noch auf das religiöse Gebiet beschränkt. Doch im Lauf der Jahrhunderte nimmt das antichristliche Angebot verschiedenste Formen an entsprechend den Erfordernissen und Stimmungen der Zeit, des Ortes, der Sitten. Alle Art irdische Güter und Vorteile dienen ihm als Objekt seines Angebotes: Geld, Ehre, Genuß, Macht... Im Wesen aber bleibt dieses Angebot immer dasselbe, und zwar: die Bestechung des menschlichen Herzens durch irdische Werte. Christus gewinnt das menschliche Herz dadurch für sich, daß er sich selbst ihm opfert. Der Antichrist versucht es dadurch zu gewinnen, daß er ihm eine Sache opfert. Indem der Mensch seine Liebe an Christus gibt, vereinigt er sich mit seiner göttlichen Person. Indem er aber seine Liebe an den Antichrist verkauft, bindet er sich an eine Sache. Um das menschliche Getrenntsein zu überwinden und das wahre Mitsein zu begründen, kommt Christus selbst ins menschliche Dasein: er selber wird zum Erlöser der Menschheit. Der Antichrist dagegen setzt für sich eine Sache ein, hinter der er seine Person versteckt. Der Erlöser des Menschen im antichristlichen Reiche ist nicht die Person, sondern die Sache. Der Antichrist opfert sich dem Menschen nicht und nimmt weder dessen Leben noch dessen Tod auf sich. Er leidet für die Menschheit nicht und betet ebensowenig für sie. Von einer Gemeinsamkeit des Daseins kann hier also keine Rede sein. Gerade deshalb kann es hier auch kein spontanes Sichöffnen des menschlichen Seins geben. Der Antichrist vermag nicht, aufrichtige Liebe im menschlichen Herzen zu entzünden; er vermag nur, es durch sein Angebot zu kaufen. Infolgedessen ist jede Liebe zum Antichrist im Wesen eine dirnenhafte Liebe im wahren Sinn des Wortes. Der Antichrist ist unzüchtig in seiner Beziehung zum menschlichen Herzen, wenn er auch sonst „ein Mensch von untadeliger Sittlichkeit" wäre und „die glänzendsten Beweise der Enthaltsamkeit" liefern könnte. Spricht daher das Neue Testament vom großen Babylon, „das von dem Glutwein seiner Unzucht alle Welt hat trinken lassen" (Offb 14, 8), von der großen Buhlerin, mit der „die Könige der Erde" Unzucht getrieben und sich „am Weine ihrer Buhlerei" berauscht haben (17,2), so will es uns gerade auf die Menschen hinweisen, die ihre Liebe an den Antichrist verkauft haben und somit Unzucht mit ihm treiben. Die große Buhlerin der Apokalypse, „in Purpur und Scharlach gekleidet, überladen mit Gold, Edelsteinen und Perlen" (17, 4), ist nichts anderes als die mit Geschenken des Antichrist ausgeschmückte Menschheit, und ihre Ausstattung ist eine Art Belohnung für die Untreue gegen Christus, ein Kaufpreis für die buhlerische Liebe.

Das zweite Grundmittel, kraft dessen der Antichrist das menschliche Herz für sich zu gewinnen sucht, ist die Drohung. Der Widerpart Christi beabsichtigt, sich die von ihm gekaufte Liebe für ewig zu sichern; deshalb droht er allen, die ihm ihr Herz nicht verkaufen wollen. Noch mehr: er verfolgt und tötet sie ohne Rücksicht. Der Antichrist enthüllt sich in der Geschichte der Menschheit nicht nur als Unzüchtiger, sondern auch als Mörder. Sein Reich ist voll vom „Blut der Propheten und der Heiligen und aller Erschlagenen auf der Erde" (Offb 18, 24). Da er diese Menschen durch sein Angebot nicht zu bestechen vermag, tötet er sie einfach, damit sie durch das Beispiel ihres Widerstandes keine Unruhe in den von ihm bereits gekauften Seelen stiften und somit keine Gefahr über sein Reich heraufbeschwören. Damit aber erschöpft sich der Sinn der antichristlichen Drohung noch nicht. Der Antichrist kann zwar die Anhänger Christi töten, jedoch ihre Herzen gewinnt er dadurch keineswegs. Der Mord sichert ihm nur einen rein äußeren Triumph. Das Innere des Menschen zu besiegen ist ihm damit nicht beschieden. Christi Worte: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, aber die Seele nicht töten können" (Mt 10, 28), erweisen sich als eine prophetische Enthüllung der wesentlichen Erfolglosigkeit des Antichrist. Es gibt aber noch eine viel tiefere und daher viel gefährlichere Seite der antichristlichen Drohung. Die Erfolglosigkeit des Mordes zeigt sich nur im Zusammenstoß des Antichrist mit den Mutigen. Doch in der Geschichte der Menschheit gibt es auch Feiglinge. Und es ist gerade erstaunlich, daß die Offenbarung diese Menschen als die zum zweiten Tode, d. h. zur Hölle Geweihten, zuallererst erwähnt: „Die Feiglinge ... werden ihren Teil bekommen in dem See, der von Feuer und Schwefel brennt" (21, 8). Ist die Feigheit eine Sünde? Ist der Mensch schuld, daß seine Natur feige ist? Wir verstehen, wenn die Offenbarung das Schicksal der Mörder, der Unzüchtigen, der Zauberer, der Lügner mit dem zweiten Tode besiegelt, doch es fällt uns schwer, zu begreifen, warum auch die Feiglinge sich unter diesen befinden.

Der Antichrist bedient sich der Drohung nicht nur, um zu töten, sondern gleichfalls, ja in erster Linie, um den Menschen zu zwingen, ihn zu lieben. Die antichristliche Drohung schickt sich an, die Liebe zum Widersacher Christi im menschlichen Herzen zu erwecken. Lesen wir die Worte: „Pereant, pereant", welche „die zitternden Kirchenfürsten" im Konzilssaal angesichts der Leichname des Starez Johannes und des Papstes Petrus schrien, so fühlen wir deutlich, daß jene Mehrheit der drei christlichen Konfessionen, die sich zum Antichrist auf die Estrade begab, nicht nur ihre Liebe äußerlich verkaufte, sondern daß sie sich auch innerlich bezwang, den Antichrist zu lieben. Dessen Wunsch, daß er nicht nur „aus Pflichtgefühl, sondern aus dem Gefühl herzlicher Liebe" als wahrer Führer der Menschheit anerkannt würde, erfüllten diese Menschen in der Tat, indem sie „mit freudigen Ausrufen" ihre Plätze neben seinem Thron einnahmen. Sie waren nicht nur Liebeshändler, sondern auch Feiglinge. Der Antichrist wußte, daß seine Gaben ihnen in Kürze überdrüssig werden und daß sie versuchen werden, ihr verkauftes Herz zurückzubekommen. Damit dies nicht eintritt, damit die Liebe zum Widersacher Christi ewig ,treu' bleibt, fügte er dem Angebot noch die Drohung an. Das Angebot sollte die Liebe im Herzen des Menschen entfachen, die Drohung sie schüren und erhalten. Unter dem Druck der Drohung sollen die Anhänger des Antichrist nie und nimmer auf den Gedanken kommen, sie könnten diese buhlerische Beziehung eines Tages abbrechen. Im antichristlichen Reiche ist die Drohung ein Mittel, die gekaufte Liebe des Menschen in ihrem Zustand zu verewigen.

Nun begreifen wir das Wesen jener Feigheit, von der die Offenbarung spricht. Ihrer Natur nach ist sie keine psychologische Feigheit, die in einer Nervenschwäche wurzelt. Die Feigheit der Offenbarung ist der Kleinmut des Menschen angesichts seiner Untreue zu Christus. Es ist eine Unschlüssigkeit, das ehebrecherische Verhältnis zum Antichrist zu lösen. Hat der Mensch sein Herz einmal dem Antichrist verkauft, so fehlt ihm später die Geisteskraft, sich dem Drude der antichristlichen Drohung zu widersetzen. Der Feigling im Sinne der Heiligen Schrift ist also nicht derjennige, dessen Nerven versagen, sondern dem der Mut fehlt, die Drohung des Antichrist als Sühne für seinen Abfall von der ersten Liebe zu Christus auf sich zu nehmen und zu ertragen. Gerade diese Art Leute aber sind das eigentliche Ziel der antichristlichen Drohung. Der Antichrist droht im Wesen weniger den mutigen Anhängern Christi — diese tötet er einfach — als jenen Feiglingen, die ihre Treue bereits einmal gebrochen haben und deswegen unter dem ständigen Druck der antichristlichen Mächte stehen, damit ihre neue ,Treue' ewig gehalten würde. In dieser Hinsicht ist die antichristliche Drohung sehr erfolgreich. Das Angebot allein ist zu schwach, um die Masse an das Reich des Antichrist für länger zu binden. Der Masse ist ja alles bald überdrüssig. Gesellt sich aber zum Angebot noch die Drohung, lebt die Masse unter einer ständigen Furcht, dann bleibt sie ,treu' bis zum Ende, denn niemand ist so feige wie der Massenmensch. Der Antichrist kennt genau diesen Geisteszug, daher bedient er sich der Drohung als des erfolgreichsten Mittels, um die Feiglinge zu beherrschen nicht nur in ihren Taten, sondern auch in ihren Gefühlen. Die Liebe, die der Antichrist dem menschlichen Herzen durch sein Angebot noch frei entlockt, verwandelt sich endlich in eine erzwungene Liebe. Die Anhänger des Antichrist werden zu einer Masse der zitternden Kreaturen, die den anderen „Pereant" zusdireien, um ihr nacktes, unpersönliches, verkauftes Dasein zu erhalten. Als eine unermeßlich tiefe Warnung erklingen uns deshalb die Worte Christi: „Fürchtet vielmehr den, der Seele und Leib in der Hölle zu verderben vermag" (Mt 10, 28).

Hier kommt der usurpatorische Zug des Antichrist am deutlichsten zum Vorschein. Der Antichrist bemächtigt sich der Stellung Christi nicht nur in den sichtbaren Gestalten des Lebens, sondern auch im Herzen des Menschen; er bemächtigt sich deren immer und überall auf dieselbe Art und Weise: durch Raub und Gewalt, und auf diese vergewaltigte, erzwungene Liebe gründet er sein Reich, schafft damit eine Gemeinschaft der Zitternden, die er der Gemeinschaft der Heiligen als deren Verhöhnung entgegenstellt. Im mystischen Leibe Christi wird die Liebe zum Gesetz der Freiheit. Hier erlangt unser Ich die vollkommene Selbständigkeit und die tiefste Befreiung von jeder Versklavung an die Uneigentlichkeit. Im Reiche des Antichrist dagegen wird die Liebe zum Gesetz der Sklaverei. Hier liebt der Mensch und zittert und zaudert. Der Antichrist macht die Liebe zur schwersten Last des menschlichen Daseins. Aus Furcht zu lieben bedeutet ja eine Erniedrigung und Schändung der menschlichen Person. Es bedeutet einen Zusammenbruch des gesamten inneren Lebens. Um einen Funken der erzwungenen Liebe aus seinem Herzen sprühen zu lassen, muß der Mensch aufhören, eine Person zu sein, und zu einer Unperson werden, wie ihn George Orwell in seinem phantastischen, aber tiefsinnigen Roman „1984" mit Recht nennt4.

4.

DIE EINHEIT

Die Welt zu einer allumfassenden Einheit zu bringen und ihr dadurch den ewigen Frieden zu schenken, das war der Jugendtraum des Solowjewschen Antichrist. Bevor er noch jenes seltsame Ereignis am Abgrund erlebte, hatte er sich bereits mit Christus verglichen und gefunden, daß er, nicht aber sein Vorläufer, wie er Christus nannte, berufen sei, die Menschheit zu vereinigen und ihr den endgültigen, so heiß ersehnten Frieden zu geben. „Als Moralist", dachte der Antichrist, „trennte Christus die Menschen durch die Unterscheidung von Gut und Böse, ich werde sie vereinigen durch die Güter, deren Gute und Böse in gleicher Weise bedürfen ... Christus brachte das Schwert, ich bringe den Frieden." Er ereiferte sich, diese Lebensaufgabe möglichst schnell zu erfüllen. Nachdem er von der konstituierenden Versammlung der Vereinigten Staaten von Europa zum römischen Kaiser erwählt worden war, erließ er noch im selben Jahre ein Manifest, in dem es hieß: „Völker der Erde! Meinen Frieden gebe ich euch." Und es endete mit einer vielversprechenden Versicherung: „Der ewige Weltfriede ist gesichert. Jeder Versuch, ihn zu stören, wird sofort auf unüberwindlichen Widerstand stoßen. Denn von nun an gibt es auf der Erde eine Zentralgewalt, die stärker ist als alle übrigen Gewalten im einzelnen oder in ihrer Gesamtheit. Und diese unüberwindliche, alles übersteigende Gewalt gehört mir, dem bevollmächtigten Erwählten Europas, dem Befehlshaber über alle Kräfte unseres Erdteiles ... Von nun an wird keine Macht sich erkühnen, ,Krieg' zu sagen, wenn ich sage: .Friede'. Völker der Erde! Friede sei mit euch." Das Manifest übte, wie Solowjew bemerkt, eine tiefe Wirkung auf alle Nationen aus. Uberall bildeten sich Parteien, welche die Regierung ihrer Länder zwangen, sich an die Vereinigten Staaten von Europa an-

Dann ist für Sie die Zeit gekommen, den letzten Schritt zu tun. Sie müssen den Großen Bruder lieben lernen. Es genügt nicht, ihm zu gehorchen: Sie müssen ihn lieben." Die Ubereinstimmung ist merkwürdig, aber durchaus verständlich. Jede Form des Antichristlichen sucht das menschliche Herz in Besitz zu nehmen und äußert deshalb diesen Wunsch durch dieselben Worte.

zuschließen und der Oberhoheit des römischen Kaisers zu unterwerfen. Nur in Asien und Afrika blieben noch unabhängige Stämme. Doch der Kaiser machte mit „seiner kleinen, aber erlesenen Armee", die sich aus internationalen Truppen zusammensetzte, „einen militärischen Spaziergang" und unterwarf alle „ohne viel Blutvergießen" seiner Herrschaft. So wurde der ganze Erdball innerhalb eines Jahres restlos vereinigt. Der Krieg wurde „mit der Wurzel" ausgerissen. Die allgemeine Friedensliga trat zum letztenmal zusammen, und „nach einer begeisterten Huldigung an den großen Friedensbringer" löste sie sich auf. Der alte Traum, den die Welt seit Jahrtausenden träumte, ging in einer unverhofft stabilen Form in Erfüllung. Es versteht sich von selbst, daß der antichristliche Friede und die Einheit eine Antwort auf die Verheißung Christi sind, seinen eigenen Frieden zu geben und seine eigene Einheit in der Weltgeschichte zu gründen. Während des letzten Abendmahles sprach Jesus zu seinen Jüngern: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht wie die Welt gibt, gebe ich ihn euch" (Jo 14, 27). Das heißt: die Welt sorgt sich auch um den Frieden, sie verspricht ihn, sie gibt ihn schließlich. Doch der Friede Christi ist etwas wesentlich anderes als der Friede der Welt. Gerade deshalb aber wetteifert die Welt mit Christus, um dem menschlichen Dasein den Frieden zu stiften. Anderseits verhieß Christus ebenso deutlich, die Menschheit zur Einheit zu bringen. Als er einmal das Gleichnis vom Guten Hirten erzählte und sich selbst „die Türe zu den Schafen" (Jo 10, 8) nannte, sagte er: „Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Schafstall sind. Auch sie muß ich herführen; sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirt werden" (Jo 10, 16). Am Vorabend vor seinem Leiden betete Christus zu seinem himmlischen Vater, daß er seine Jünger in Eintracht bewahre, und ebenso alle, „welche durch ihr Wort an mich glauben werden" (Jo 17, 11—20). Die Verheißung des Friedens und der Einheit war also das Vermächtnis Christi. Und wenn die Urgemeinde von Jerusalem „ein Herz und eine Seele" (Apg 4, 32) war, so war dies nichts anderes als eine konkrete und sichtbare Ausführung dieses Vermächtnisses.

Nun aber wiederholen sich die Worte der Spötter, von denen bereits der hl. Petrus spricht und die sagen: „Seitdem die Väter heimgegangen sind, bleibt alles so, wie es vom Anfang der Schöpfung an war" (2 Petr 3, 4). Es seien, so reden sie, schon zwei Jahrtausende verflossen, und es gebe in der Welt weder Frieden noch Einheit. Die Kirche selbst sei gespalten. Das Evangelium werde wohl allen Völkern der Erde gepredigt, jedoch so, daß es keineswegs eine Herde schaffen könne. Von Frieden sei überhaupt keine Rede: selbst die christlichen, ja katholischen Nationen würden sich zerfleischen, wie es auch die Heiden „vom Anfang der Schöpfung an" taten. Wo blieb also die Verheißung Christi? Sei er wirklich imstande gewesen, seinen eigenen Frieden zu geben? Der Antichrist dagegen habe diese schmerzlich klaffende Lücke innerhalb eines Jahres überbrückt. Er habe die ganze Welt unterworfen und vereinigt. Selbst die Christenheit sei zu einer Herde mit einem Hirt — dem Wunderpapst Apollonius — geworden. Der Fluch von Babel sei im Reiche des Antichrist von der Menschheit hin weggenommen: die Völker der Erde kämen wieder in einer Sprache und in einem Geiste zusammen. — Oberflächlich betrachtet, haben diese Spötter freilich recht. Die sichtbare Wirklichkeit der Geschichte erfreut sich tatsächlich nicht der Einheit Christi, sondern der des Antichrist. Bedeutet dies aber die Niederlage Jesu?

Während seines letzten Abendmahles nahm Christus den Kelch, „dankte, gab ihnen denselben und sprach: ,Trinket alle daraus; denn dies ist mein Blut des Neuen Bundes'" (Mt 26, 27—28). Das bedeutet, daß Christus die Einheit nicht nur verkündete, sondern auch begründete, und zwar durch das Opfer seines Blutes. Der von ihm gestiftete Neue Bund ist ein Opferbund, und das Band, das die Menschen in diesem Bunde untereinander vereinigt, ist sein eigenes Blut. Durch dieses Blutopfer versöhnte Christus „alles, was auf Erden und im Himmel ist" (Kol 1, 20). Der alte Abfall von Gott und die daraus entstandene Auflösung der Geschöpfe wurden grundsätzlich überwunden, und der Friede, „durch das Blut seines Kreuzes" (ebd.) gestiftet, herrschte wieder in der Tiefe der Seinsbeziehungen. Dies war die prinzipielle Tat des Erlösers. Die Geschichte nach ihm sollte diese Tat entfalten und konkret offenbaren. Was Christus durch sein Blut begründete, sollte im Laufe der Zeit eine sichtbare, objektivierte Gestalt gewinnen. Die Geschichte der Menschheit nach Christus sollte die Objektivation des Neuen Bundes werden.

Warum aber stützte Christus den Bund, diese universale und ewige Einheit, auf sein eigenes Blutopfer? Darauf antwortet er selbst: „Eine größere Liebe hat niemand, als die ist, daß jemand sein Leben für seine Freunde hingibt" (Jo 15, 13). Die Liebe zum Menschen war das Grundmotiv, warum sich Christus für die Welt opferte. „Daran haben wir die Liebe Gottes erkannt, daß er sein Leben für uns hingab" (1 Jo 3, 16). Die Liebe führte Christus zum Opfer, und sein Opfer brachte die Geschöpfe zur Einheit. Der Einheit Christi liegen also die Prinzipien der Liebe und des Opfers zugrunde. Ist aber die Geschichte eine Entfaltung der von Christus begründeten Einheit, so kann sie diese nur dadurch verwirklichen, daß sie selbst zur Entfaltung der Liebe und des Opfers wird. Gab Christus sein Blut für uns, „so müssen auch wir das Leben geben für die Brüder" (1 Jo 3, 17). Das Beispiel des Erlösers soll sich in der Geschichte objektivieren, an Umfang und Intensität stets zunehmen und schließlich zur Universalaufgabe der Menschheit werden. Die Christenheit soll die Liebes- und Opfertat Christi zu ihrem eigenen Werke machen. Die Geschichte nach Christus erweist sich damit als eine universale Verpflichtung zur opfervollen Liebe.

Gerade darin aber liegt das große Drama, das der von Christus gebrachten Einheit vorausgeht und auf das der Antichrist sich stützt, um seinen Sieg in der Welt zu feiern. Liebe und Opfer entstammen ja nur der Freiheit. Jeder Zwang ist hier undenkbar, denn er zerstört das Wesen selbst. Erzwungene Liebe bedeutet, wie gesagt, die Auflösung der Persönlichkeit, und das erzwungene Opfer ist nichts anderes als eine Staatssteuer. Mit allem Nachdruck verkündigte daher Christus das neue Gebot der Liebe, ohne jedoch konkrete Anweisungen zu dessen Ausführung zu hinterlassen. Ebensowenig gab Christus etwa ein soziales Gesetz, um das Opfer seiner Anhänger zu regeln. Die Liebe zu Gott und zum Nächsten sollte aus freier Entscheidung des Menschen entstehen, und das Opfer sollte sich als der objektive Ausdruck der freiwilligen Liebe zeigen. Die Freiheit sollte also als drittes Grundprinzip der Einheit Christi zugrunde liegen. An dieser Stelle jedoch kommt die natürliche Lasterhaftigkeit des Menschen am deutlichsten zum Vorschein. Freiwillige Liebe und freiwilliges Opfer entfalteten sich kaum im Laufe der Geschichte. Sie verkümmerten sogar und schlössen sich in den kleinen Gemeinschaften der Christen ein. Anstatt die Liebes- und Opfertat Christi zu entwickeln und zu objektivieren, wurde die Geschichte zum Schauplatz des immer mehr zunehmenden Hasses, zur Bühne der universalen Zwietracht und Auflösung. Wahre Liebe und wahres Opfer gab es selten in der Vergangenheit und gibt es noch seltener in der Gegenwart. Im Hinweis auf die Zukunft wagt R. Guardini mit Recht zu behaupten: „Die Liebe wird aus der allgemeinen Welthaltung verschwinden. Sie wird nicht mehr verstanden, noch gekonnt sein." 5 . Sie wird nicht mehr das Zeichen sein, an dem man erkennt, daß einer Jünger Christi ist. Sie wird nicht mehr der Maßstab des Daseins sein, mit dem man das ewige Schicksal des Menschen bestimmt. Deshalb hat der Antichrist einen gewissen Grund, über Christus als Friedensstifter zu spotten. In Wirklichkeit aber trifft dieser Spott nicht Christus selber, sondern gerade die Christen, die sich zur Liebe und zum Opfer nicht freiwillig entschlossen und somit das Vermächtnis Christi nicht erfüllt haben. Ist die Weltgeschichte zwei Jahrtausende nach Christi Blutopfer immer noch voll von Mord, Aufruhr und Zwietracht, so ist das kein Beweis der Unzulänglichkeit der von Christus verkündeten Einheit. Im Gegenteil, es ist ein ausgesprochenes Zeichen dafür, daß Christus auf der Freiheit des Menschen selbst dann besteht, wenn diese sich auch gegen ihn selbst richtet. Der Ablauf der Geschichte ist wirklich ein schmerzliches Drama, dem aber die Freiheit des menschlichen Willens zugrunde liegt. Christus weinte nicht nur über Jerusalem, das die Propheten mordete und die Gesandten Gottes steinigte (vgl. Mt 23, 37); er weinte zugleich über die ganze Menschheit, die sein Evangelium zurückweist oder zur Rechtfertigung ihres bürgerlichen Daseins mißbraucht. Er weint auch über seine eigene Kirche, die ihre ursprüngliche Einheit verloren und an Liebe und Opfer der ersten Jahrhunderte eingebüßt hat. Und doch ist die Freiheit eine so wesentliche und herrliche Gabe Gottes an die menschliche Natur, daß sie sogar der Tränen Christi wert ist. Als Christus über das sich ins Verderben stürzende Jerusalem klagte, beweinte er in Wirklichkeit die menschliche Freiheit und zugleich die darauf gestützte, ihm feindliche Gesinnung der Weltgeschichte.

Der Antichrist kennt keine Tränen. Er liebt nicht und weint daher nicht. Er wählt einen viel einfacheren Weg: er vernichtet die Freiheit, zwingt den Menschen zur Liebe und zum Opfer und schafft dadurch seine Einheit und seinen Frieden. Die Worte des kaiserlichen Manifestes: „Meinen Frieden gebe ich euch", sind buchstäblich dem Evangelium entnommen (Jo 14, 27). Um sie aber zu verwirklichen, bildete Christus keine erlesene Armee aus Juden, Hellenen und Römern und machte keine militärischen Spaziergänge durch die damalige Kulturwelt. Die Einheit Christi sollte nichts anderes sein als die konkrete Erscheinung der von ihm prinzipiell hergestellten Versöhnung der Kreatur mit Gott. Der Antichrist dagegen schreibt drohend in seinem Manifest: „Von nun an wird keine Macht sich erkühnen, ,Krieg' zu sagen, wenn ich sage: ,Friede'." Die Menschheit wird im Reiche des Antichrist nicht durch Liebe und Opfer, sondern nur durch Zwang vereinigt. Die Einheit Christi ist wesentlich religiös, daher sind auch ihre Mittel religiös: Liebe, Opfer, Entsagung... Die Einheit des Antichrist ist politisch, daher sind seine Mittel, deren er sich dazu bedient, gewalttätig: Drohung, Zwang, Mord... Es zweifelt wohl niemand, daß Politik eher als Religion die Welt vereinigt, daß Zwang sicherer als Freiheit der Menschheit den Frieden erhält. Und doch fragt es sich von selbst: Was eigentlich ist diese erzwungene Einheit in ihrem Wesen? Äußerlich gesehen, scheint der Antichrist Grund zu haben, sich mit seinem Sieg zu brüsten. Doch wie sieht all das von innen aus? Wohl verlangt die menschliche Natur nach Einheit und Frieden. Findet sie aber diese im antichristlichen Reiche? Ist die antichristliche Einheit in der Tat die wahre Vereinigung der Welt oder vielleicht nur deren Fälschung?

Ihrem Wesen nach ist die Einheit nichts anderes als die sichtbare Erscheinung des Mitseins. Das Mitsein aber bedeutet, wie gesagt, die Gemeinsamkeit des Daseins bis zu seiner letzten Tiefe. Wir üben es dann erst, wenn wir das Dasein des andern auf uns nehmen und dem andern das unsrige geben. Dieser Seinstausch geht sogar bis zum Aufsichnehmen des Todes. Daher können wir, so behaupteten wir an früherer Stelle, nur mit dem menschgewordenen Gott wesentlich mitsein, denn nur er allein ist imstande, unser Dasein mit all seinen Konsequenzen auf sich zu nehmen. Infolgedessen ist das Reich Christi die geschichtliche Entfaltung unseres Mitseins mit dem fleischgewordenen Logos. Der Antichrist aber, der immerfort Christus nachäfft, sucht ebenfalls der Bestimmung des Menschen zum Mitsein nachzukommen und diesem tiefsten Verlangen der menschlichen Natur einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Er sucht das jedoch nicht mittels der freien Entscheidung des Menschen selbst zu erreichen, sondern kraft seiner politischen Macht, indem er die Menschheit zwangsweise zur Einheit bringt. Die antichristliche Einheit ist also ein erzwungenes Mitsein. Jedes Mitglied des antichristlichen Reiches soll die Sünden des andern auf sich nehmen, für sie leiden und sogar sterben, nicht aber aus eigenem opfervollem Entschluß, sondern aus Furcht vor Drohung und Vernichtung. — Wie erlebt also der Mensch diesen ihm aufgezwungenen ,Bruder'? Was bedeutet ihm der ,andere' im erzwungenen Mitsein?

Wenn der Mensch seine Bestimmung zum Mitsein durch die eigene Liebe und durch das eigene Opfer hervorhebt und sie in Gestalt der freien Einheit verwirklicht, erlebt er den andern als seinen Nächsten im direkten und ursprünglichen Sinn des Wortes, d. h. als einen, der ihm am nächsten steht, an seinem Dasein teilnimmt, dieses mitträgt und mitvollzieht. Ist der Mensch jedoch durch Gewalt gezwungen, dem andern sein Dasein zu schenken, so betrachtet er diesen als Usurpator und erlebt ihn keineswegs als seinen Nächsten oder Bruder. Der Usurpator bleibt uns grundsätzlich ein Fremder und Ferner, der uns unseres Daseins beraubt und weggeht, wenn auch nicht immer im räumlichen Sinne. Räumlich kann er uns sehr nahe stehen, sogar im selben Zimmer mit uns wohnen. Er geht aber onto-logisch weg. Er vollzieht unser Dasein nicht, denn wir fühlen uns von diesem uns aufgezwungenen ,Nächsten' überfallen und bestohlen6. Es ist belanglos, daß dieser ,Bruder' sich vielleicht gleichfalls aus Furcht vor seiner eigenen Vernichtung uns nähert. Vielleicht vertritt er nur eine höhere Macht, ist aber in jedem Fall ein Usurpator unseres Daseins. Er macht uns nicht reicher, was in der echten Nächstenliebe stets geschieht, sondern ärmer, weil wir ihm unser Leben nicht in Form unseres freien Opfers schenken, sondern in der Form des Gezwungenseins. Er enteignet uns, so daß wir unser Selbst nicht überschreiten: wir sind aus unserem Selbst einfach verbannt.

Und doch handeln alle so im antichristlichen Reiche. Die antichristliche Einheit ist wesentlich ein gegenseitiges Rauben und Verbannen. Der antichristliche Mensch ist in seinem Verhalten zum Mitmenschen Räuber und Verbannter zugleich: er beraubt den andern seines Daseins, und gleichzeitig wird er von diesem aus seinem eigenen Dasein vertrieben. Das furchtbare Schicksal Kains wiederholt sich in jedem Bewohner des antichristlichen Reiches. Kain war ein Räuber, der seinen Bruder des körperlichen Lebens beraubte: Abel starb nicht als Opfer seines freien Entschlusses, sondern als Opfer des mörderischen Schlages. Und gerade dieser Schlag machte Kain zu einem Verbannten. Er vernichtete damit nicht nur seinen Bruder, d. h. den Mitträger seines Daseins, sondern auch den von ihm bearbeiteten Boden, d. h. den Raum seines Daseins. Daher waren die Worte Gottes: „Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden" (Gn 3, 12), nicht nur ein Fluch, sondern auch eine Deutung der neuen Daseinssituation Kains: einer Situation, die dem Menschen sein Mitsein entzieht und ihn deshalb unstet und flüchtig im Dasein selbst macht. Mit diesen Merkmalen Kains ist das ganze antichristliche Reich bezeichnet. Das antichristliche Reich ist im Wesen die geschichtliche Verkörperung und Entfaltung der Tat Kains. Räuber und Verbannter auf Erden zu sein, ist das unentrinnbare Schicksal der Mitglieder dieses Reiches.

Ist es da verwunderlich, daß der Haß das Grundgefühl ist, das die Bewohner des antichristlichen Reiches zueinander hegen? Da sie ihren Nächsten als Usurpator ihres Daseins erleben, wehren sie sich gerade dadurch, daß sie jeden hassen, mit dem sie in dieser erzwungenen Einheit zusammenleben müssen. Die antichristliche Einheit ist das Mitexistieren im Hassen. Da hier jeder raubt und gleichzeitig beraubt wird, so haßt auch jeder und wird gehaßt. Haß aber bedeutet die Verschließung des Seins und folglich die radikale Verneinung des Mitseins. Der hassende Mensch ist ja der, der sein Dasein nur für sich selbst behält und das fremde Dasein entschieden zurückweist. Bewegt sich der Mensch im Leben frei, so drückt er diese Verschließung auch sichtbar aus: er wird Misanthrop und Sonderling. Im antichristlichen Reiche aber ist solche Freiheit unterbunden. Hier ist der Mensch gezwungen, dem andern sein Dasein zu schenken und das des andern auf sich zu nehmen. Trotzdem aber kann niemand den Menschen zwingen, dieses Geben und Nehmen anzuerkennen, d. h. für seine eigene und innerliche Tat zu halten. Allerdings erlaubt der Antichrist seinen Anhängern nicht, ihre Gefühle äußerlich zu zeigen, und so ist selbst der Haß gezwungen, sich unter der Maske der Liebe zu verbergen. Von außen gesehen, sind alle Mitglieder der antichristlichen Einheit Freunde und Brüder. Sie nennen einander so, und zwar sehr laut. Sie geben viele äußere Zeichen der Nächsten- und Bruderliebe und scheinen froh und lustig zu sein in der Gemeinschaft. Doch in ihrem Innern sind sie voll Haß und Widerwillen. Erreicht der Mensch einmal einen solchen Zustand, daß er keine eigenen Gedanken, keine eigenen Gefühle, keine eigene Freude und Trauer, keine Familie und Gemeinschaft, schließlich kein eigenes Leben und keinen eigenen Tod hat, so bleibt ihm nichts anderes, als sein Ich mit dem tiefsten Haß zu umhüllen und niemanden in sein eigentliches Innere schauen zu lassen, selbst die Gedankenpolizei von G. Orwell nicht, die mittels Hubschrauber und Televisoren dem gesamten Leben ihrer Untertanen nachspürt. Der Haß in der antichristlichen Einheit ist das letzte Mittel, das menschliche Ich vor der endgültigen Entpersönlichung zu bewahren.

Die antichristliche Einheit ist also keine Einheit im wahren Sinne des Wortes. Sie ist nur eine Verhöhnung der Einheit und trägt nur ihre Maske. Sie erfüllt nicht das Verlangen des Menschen nach dem Mitsein, sie verspottet es nur. Nirgendwo fühlt sich der Mensch so einsam und so allem fremd wie in der antichristlichen Einheit. Das erzwungene Mitsein ist in Wirklichkeit die Aufhebung des Mitseins. Die erzwungene Liebe wendet sich rasch in Haß um. Der Antichrist beseitigt zwar den Krieg aus der äußeren Welt, versetzt ihn aber in die Herzen der Menschen. Das antichristliche Reich ist der eigentliche Schauplatz des Kampfes aller gegen alle, wenn auch unsichtbarerweise. Eben auf diesen allumfassenden Kampf weist Christus hin als auf ein deutliches Zeichen, daß das Weltende bereits nahe ist: „Es wird der Bruder den Bruder in den Tod liefern, und der Vater das Kind; die Kinder werden sich auflehnen gegen die Eltern und sie in den Tod bringen" (Mk 13,12). Die Errichtung der antichristlichen Welteinheit bedeutet den Zusammenbruch der Weltgeschichte.

5.

DER WOHLSTAND

Gleicherweise besorgt wie um die Einheit war der Antichrist auch um den Wohlstand der Welt. Beim Vergleich seiner Mission mit der Mission Christi überzeugte er sich, daß nur er, nicht aber Christus, berufen sei, den Wohlstand auf Erden herbeizuführen. „Christus", dachte er, „der das sittlich Gute predigte und in seinem Leben darstellte, war der Besserer der Menschheit, ich aber bin berufen, der Wohltäter dieser teils gebesserten, teils aber unverbesserlichen Menschheit zu sein. Ich werde den Menschen alles geben, was sie brauchen." Ohne Zweifel hatten diese Träume des Übermenschen einen gewissen Grund. Die soziale Frage, abgesehen von einigen räumlich und zeitlich begrenzten Experimenten, blieb während der ganzen Geschichte der Menschheit ungelöst. Selbst die apokalyptische Epoche trug dazu nichts Wesentliches bei. Während der Unterjochung Europas durch die Mongolen, erzählt Solowjew, versuchten zwar die führenden Klassen, die verschärfte sozialökonomische Lage zu bessern, immer aber nur „durch eine Reihe von Palliativmaßnahmen". Die christliche Urgemeinde von Jerusalem, wo „keiner etwas von seinem Besitztum sein eigen" nannte und wo „alles gemeinsam" war (Apg 4, 32), war schon längst vergessen oder mindestens zu einem schönen, jedoch unausführbaren Traum geworden. Der Geist der Liebe und des Opfers lag im Lauf der Jahrhunderte stets im Sterben und mit ihm auch die wahre Lösung der sozialen Frage. Als der Antichrist also im 21. Jahrhundert auf Erden erschien, fand er eine große Lücke im sozialen Leben klaffen und konzentrierte daher gerade hierauf seine Tätigkeit.

Im zweiten Jahre seiner Herrschaft erließ er ein neues Manifest, in dem er verkündete: „Völker der Erde! Ich habe euch den Frieden versprochen, und ich habe ihn euch geschenkt. Aber nur durch Wohlstand wird der Friede schön. Wem im Frieden die Nöte der Armut drohen, dem wird auch der Friede nicht zur Freude. Kommet her zu mir alle, die ihr hungert und friert, ich will euch satt und warm machen." Um dies zu erreichen, kündigte er eine allumfassende Sozialreform an. „Dank der Konzentrierung der Weltfinanzen und eines kolossalen Grundbesitzes in seiner Hand" konnte er diese Reform auf eine merkwürdige Weise durchführen: er befriedigte die Armen „ohne fühlbare Schädigung der Reichen". Jeder empfing „nach seinen Fähigkeiten", und jede Fähigkeit war „nach ihren Bemühungen und Verdiensten" ermessen. Das Hauptziel der kaiserlichen Unternehmung war „die feste Herstellung der grundlegenden Gleichheit für die gesamte Menschheit: der Gleichheit des allgemeinen Sattseins". Und wiederum innerhalb eines Jahres war dieses Ziel erreicht. Alle wurden gleich satt, allen wurde gegeben, was sie nur brauchten. Die sozialökonomische Demokratie wurde errichtet und die soziale Frage endgültig gelöst. Die Sorge, die jahrtausendelang die Menschheit gequält hatte, beseitigte der Antichrist mit einem Strich seiner kaiserlichen Feder.

Der Wohlstand ist die allseitige Befriedigung des Leiblichen am Menschen. Das leibliche Element unserer Natur ist stets hungrig, denn es ist wesentlich zu einem neben ihm sich befindenden Objekt bestimmt. Unser vitales Leben hungert nicht nur nadi Nahrung, sondern auch nach Wärme, Erholung, Bewegung, entsprechendem Raum, dem anderen Geschlecht... Der Mensch fühlt sich im Dasein erst dann wohl, wenn sein vitales Element satt und daher still ist, satt von allem, wonach er sich nur sehnt7. Da es zu einem außer ihm liegenden Objekt bestimmt ist, wird es erst befriedigt, wenn es ein entsprechendes Quantum von diesem Objekt in sich aufnimmt. Dann wird es schweigsam, und dann sagt unser Ich: „Jetzt bin ich satt." Absichtlich betonen wir das Wort Jetzt', denn zur Auffassung des Wohlstandes hat es eine grundlegende Bedeutung. Der Mensch fühlt sich ja im Dasein nicht deshalb wohl, weil er gestern satt gewesen ist oder erst morgen satt sein wird, sondern weil er jetzt satt ist. Der Wohlstand ist die satte Gegenwart. Auf den ersten Blick erscheint diese Behauptung als eine Binsenwahrheit, und doch zeigt sie sich im Lichte des menschlichen Daseins als ein großes, sogar tragisches Problem. Die satte Gegenwart offenbart sich als eine Verwirrung auf dem Wege zur menschlichen Vollendung. Satt sein heißt befriedigt sein, und befriedigt sein heißt im Dasein haltmachen. Der befriedigte Mensch existiert nur in der Gegenwart. Sein ganzes Leben sammelt sich um sein Sattsein, und die satte Gegenwart wird zur Grunddimension seiner Zeit. Er will weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft etwas wissen. Er geht in der Gegenwart auf und hält sich an ihr als dem Eckpfeiler seines Daseins. Die Existenz des satten Menschen verengt sich bis auf den Punkt, auf dem er sich gegenwärtig befindet. Er existiert nur jetzt, denn nur jetzt ist er satt. Der Wohlstand erweist sich also als eine Verengung des Daseins, als eine falsche Verewigung der ungeläuterten irdischen Gegenwart.

In der christlichen Auffassung des menschlichen Daseins bedeutet aber die Gegenwart nur eine flüchtige, ja die flüchtigste Dimension der Zeit: sie bedeutet den Übergang selbst. Der christliche Mensch ist wesentlich viator, ein Pilger, der seine Existenz immer nur unterwegs, nie aber zu Hause führt. Anders gesagt: der christliche Mensch existiert stets in der Zukunft, nicht aber in der Gegenwart. Er ist ein Mensch, der sich selbst und die ganze hiesige Wirklichkeit überschreitet. Das Viator-Sein oder das Unterwegs-Sein ist die Grundbestimmung des Christen. Daher aber ist die satte Gegenwart ein im Grunde antichristlicher Begriff. Sie wendet den menschlichen Geistesblick von der Zukunft ab, sie schließt den Menschen in diesseitige Wirklichkeit ein, sie läßt ihn diese als seinen einzigen und eigentlichen Daseinsraum erleben. Dadurch verneint er den pilgerischen Charakter des Menschen und bekämpft die Hoffnung, diese göttliche Tugend, im christlichen Leben. Der Mensch der satten Gegenwart hat keine Hoffnung mehr, freilich nicht im Sinne der Verzweiflung, sondern im Sinne des Befriedigtseins. Er hofft auf nichts mehr, denn er glaubt, da er satt ist, bereits alles zu haben. Wohlstand und Hoffnung sind Gegensätze des Daseins. „Eine Hoffnung, die man sieht, ist keine Hoffnung mehr" (Rom 8, 24).

Aus diesem Grunde betrachtet das Christentum den Wohlstand als eine grundsätzliche Belastung im Viator-Sein des Menschen. Allerdings muß der Mensch ein gewisses Maß von irdischen Gütern besitzen, um auf Erden überhaupt existieren zu können, und erst redit, um sein Wesen zu entwickeln und die Welt sich zu unterwerfen. Selbst für die Heiligkeit ist ein Mindestmaß von Wohlstand erforderlich. Doch wenn die irdischen Güter einen so umfangreichen Raum im Dasein einnehmen, daß sie die Zeit des Pilgerns in eine einzige Dimension, nämlich in die der Gegenwart, verwandeln, dann werden sie zu einer der Hauptversuchungen des christlichen Lebens, der die Kirche von Anfang an mit Recht einen scharfen Kampf ansagt. Das Christentum bemüht sich, den Wohlstand auf ein Minimum zu beschränken und somit den Menschen stets hungrig zu lassen. Der Hunger gilt dem Christentum als seligmachend, denn er ist in seinem tiefsten Wesen ja ein Hunger nach der Gerechtigkeit (vgl. Mt 4, 6), d. h. nach einer höheren Wirklichkeit und letztlich nach Gott selber8. Folgerichtig predigt das Christentum nicht den Wohlstand, sondern die Armut im weitesten Sinne. Das leibliche Wohl soll im christlichen Dasein stets arm sein, d. h. nie vollkommen satt werden. Das vitale Leben des Menschen soll immer eine Sehnsucht nach dem außer ihm liegenden Objekt haben: eine Sehnsucht, die als Hinweis auf das Höhere gewisse Spuren des Göttlichen ebenso auch in unserem Leib offenbart.

Das ist gerade der tiefste Sinn des Armseins. Der Arme ist nicht der, welcher wenig besitzt, sondern eben der, welcher mit wenig zufrieden ist, denn dadurch läßt er auch seine leibliche, nicht nur die geistige Natur nach dem Höheren hungern und dürsten. Die Armut ist wesentlich auf die Zukunft gerichtet. Sie ist der eigentliche Träger der Hoffnung. Das Armsein ist die einzige wahre Daseinsweise des Christen, weil es der konkrete Ausdruck der pilgerischen Bestimmung des Menschen ist. Ihrem tiefsten Wesen nach ist die Armut die leibliche Unruhe zu Gott. In ihr stimmt der Hunger des Leiblichen mit dem des Geistigen überein, und der Leib nimmt somit dieselbe Richtung im Dasein ein, die auch der christlichen Seele eigen ist. Infolgedessen ist die Armut das beste Mittel zur Überwindung des Zwiespalts unserer Natur und zur Befreiung unseres Lebens von dem in uns wohnenden Gesetz der Sünde (vgl. Rom 7, 23). Deswegen bildet die Armut einen Grundbestandteil des christlichen Daseins. Deswegen nannte auch Christus selig alle, die arm im Geiste sind, die trauern, hungern, sich vom fleischlichen Gelüst enthalten, geschmäht und verfolgt werden (vgl. Mt 5, 1—10). Anders ausgedrückt: Christus segnete alle, die von keinem irdischen Objekt — weder vom Reichtum noch von der Freude, noch vom Brot, noch vom anderen Geschlecht, noch vom Frieden — satt sind, die also hungern, d. h. stets eine Sehnsucht nach dem Jenseits haben. Die acht Seligkeiten der Bergpredigt sind im Wesen eine eindrucksvolle Segnung der Armut im Sinne des allseitigen Hungers im psychophysischen Leben des Menschen. Den Wohlstand hat Christus nicht gesegnet. Im Gegenteil, er hat deutlich genug gesagt: „Es ist schwer, daß ein Reicher in das Himmelreich eingehe" (Mt 19, 23); schwer deshalb, weil der Reichtum uns in die satte Gegenwart hinunterzieht, unser Viator-Sein verneint und damit im Diesseits einschließt. „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz" (Mt 6, 21), hat Christus gesagt und damit die eigentliche Stellung des Reichtums im Dasein erschlossen. Der Reichtum existiert nur jetzt und nur diesseits. Er hat keine Beziehung zur Ganzheit der Zeit und zur Ganzheit des Seins. Er bleibt wesentlich am Rande. Ist also unser Herz bei unserem Schatz, so bedeutet dies, daß es sich am Rande des Daseins befindet: nur in der Gegenwart und nur im Diesseits. Der Wohlstand ist gerade eine sichtbare Ob-jektivation dieses Am-Rande-Seins.

Im Lichte dieser Erwägungen wird es uns klar, warum der Antichrist den Wohlstand segnet und ihn in seinem Reiche unaufhörlich zu verwirklichen sucht, warum er kein Besserer der Menschheit, wie Christus, sein will, sondern ein Wohltäter, der der Welt alles gibt, was sie nur braucht. Schließt der Wohlstand den Menschen im Diesseits ein, beschränkt er das ganze Dasein nur auf die Gegenwart, verneint er das Viator-Sein des Menschen, so kann es kaum ein anderes, besseres Mittel geben, um die Menschheit von Christus zu entfernen. Der Mensch der satten Gegenwart ist nicht mehr der christliche Mensch. Er ist ein Diesseitsmensch, ein Mensch ohne Zukunft und daher ohne Hoffnung. Erweitern wir diese Geisteshaltung durch die Stillung jeglichen Hungers bis zum universalen Umfang, und das antichristliche Reich kommt von selbst auf Erden zur Herrschaft. Jede antichristliche Macht verspricht also der Menschheit, das durch die Sünde verlorengegangene Paradies auf Erden wiederherzustellen, nicht aber durch Reue und Buße, sondern durch Wohlstand und Sattsein. Daher ist die Verwirklichung des Wohlstandes durch den Antichrist im Wesen nicht eine ökonomische, sondern eine religiöse Tat. Sie ist eine Tat, die sich kühn anschickt, die Richtung des menschlichen Daseins zu ändern. Statt den Blick auf das Jenseits zu richten und somit stets für die Zukunft zu leben, sollen die Menschen, allseitig vom Antichrist befriedigt, ganz in der Gegenwart aufgehen und das Diesseits als ihren eigentlichen Daseinsraum betrachten.

Wir haben bereits gesagt, daß das gesamte antichristliche Reich die reine Faktizität ist und daß seine Hauptaufgabe darin besteht, den Menschen in dieser Faktizität für ewig festzuhalten. Als das geeignetste Mittel, diese Aufgabe zu erfüllen, erweist sich gerade der Wohlstand. Wecken erzwungene Liebe und Einheit Haß im Herzen des vergewaltigten Menschen und sind sie daher selbst inden Händen des Antichrist gefährlich, so ruft der Wohlstand ein tiefes Dankbarkeitsgefühl gegen den Wohltäter hervor und hilft dadurch kräftig mit, dessen Reich zu errichten und zu erhalten. Jede Versklavung geht der Gefahr eines Aufstandes entgegen. Jeder Usurpator wird eines Tages gestürzt. Die Wohlfahrt indessen erfreut sich des Wohlwollens aller. Gegen den Wohlstand rebelliert niemand, und daher ist der Wohlstand ein noch erfolgreicheres Mittel als Einheit, die antichristliche Herrschaft in der Geschichte zu befestigen. Unter dem Vorwand der sozialen Liebe versucht der Antichrist, die Erde umzugestalten, damit der Mensch sein Pilgertum vergißt. Nachdem die Erde die antichristliche Reform erfahren hat, soll sie nicht mehr ein Tränental sein, wie wir sie in unserem Gebet nennen, sondern eine Kopie des Neuen Jerusalems, wo es „weder Trauer noch Klage, noch Schmerz" gibt (Offb 21, 4). Der Wohlstand spielt im antichristlichen Reich eine wesentlich religiöse Rolle: die übernatürliche Verklärung und Läuterung des Seins durch die natürliche Befriedigung des Leiblichen zu ersetzen.

Und doch ist die vom Antichrist gegründete „Gleichheit des Sattseins" nur Betrug. Solowjew stellt in seiner Erzählung sinnvoll fest, daß die antichristliche Sozialreform auf eine sehr merkwürdige Weise erfolgte, und zwar „ohne fühlbare Schädigung der Reichen". Der Kaiser schöpfte die notwendigen Güter aus seiner Schatzkammer und verteilte sie an alle, die ihrer bedurften. Mit diesem Symbol will uns Solowjew nichts anderes sagen, als daß der Antichrist den Wohlstand auf Erden nicht durch die Verwandlung der sozialen Wirklichkeit, sondern nur durch deren Verdeckung mit seinen Gaben verwirklicht. Not und Elend entstehen deshalb, weil materielle Güter ihrer Natur nach beschränkt sind. Besitzt einer zuviel davon, so hat der andere zuwenig. Die Deckung des menschlichen Bedarfs ist unbeständig und hängt nicht nur von der Menge der Güter ab oder von der Höhe der Kultur, sondern gleichzeitig auch von der Zahl der bedürftigen Mitglieder unserer Gesellschaft. Wir dürfen nicht so viele Güter an uns reißen, als ob wir allein auf der Welt wären. Das ist ein Axiom des gesamten sozialen Lebens. Daher bemüht sich jede wahre Sozialreform gerade darum, die Verteilung der irdischen Güter wenigstens relativ auszugleichen, was selbstverständlich ohne eine fühlbare ,Schädigung' der Reichen nie gelingen kann. Solange unsere Wirklichkeit nicht von den Folgen der Sünde endgültig geläutert ist, müssen wir nicht nur um die Erzeugung der Güter Sorge tragen, sondern zugleich auch um ihre Verteilung, damit die soziale Gerechtigkeit in der Tat ausgeübt wird. Offenbart sich diese nicht auf dem Weg der Liebe und des Opfers, so müssen die Hartherzigen durch Gesetz gezwungen werden, ihre Güter mit den Bedürftigen zu teilen. Jede Sozialreform ist also eine unausweichliche ,Schädigung' derer, die zuviel besitzen, zugunsten derer, die zuwenig haben. Doch der Antichrist folgt diesem Grundsatz des sozialen Lebens nicht. Er läßt den Reichen ihren Reichtum und gewinnt dadurch ihre Gewogenheit. Er beschenkt die Armen und sichert sich damit auch deren Dankbarkeit. Die gesamte Gesellschaft unterwirft sich also dem Antichrist, weil sie glaubt, dieser habe das ewig unlösbare soziale Rätsel endlich gelöst.

Den Lug und Trug einer solchen Lösung kann aber jeder sehen, der nicht durch die antichristlichen Geschenke geblendet ist. Wir sagen ,Geschenke', denn die ganze Sozialreform des Antichrist beruht wesentlich auf dem Geschenk. Sie ist keine Durchführung der verteilenden Gerechtigkeit, sondern lediglich eine kaiserliche Gnade. Mag sein, daß diese Gnade überreich ist und daß sie den Armen ziemlich lange helfen kann. Trotzdem aber muß sie eines Tages ausgehen. Der Antichrist ist doch kein Schöpfer der materiellen Güter aus dem Nichts, er nimmt sie irgendwoher. Findet er sie in irgendeiner Form aufgestapelt, so kann er sie verteilen. Doch beim Verteilen gehen sie einmal aus. Einmal wird der Antichrist vor der hungrigen Menge mit leeren Händen erscheinen. Denn jede auf das Geschenk gestützte Sozialreform ist ein Traum, der bald aufhört und an dessen Stelle die unverwandelte Wirklichkeit mit all ihrer Grausigkeit tritt. Der Antichrist läßt jedoch gern die Menschheit diesen Traum träumen und sich durch ihn betören, denn seine Grundabsicht ist nicht, die Welt in der Tat sorglos zu machen, sondern sie von Christus zu entfernen und an sich zu binden. Dabei kümmert es ihn wenig, daß der Wohlstand bald ein Ende nimmt. Wichtig ist ihm nur, daß die Menschheit, durch seine Geschenke betäubt, die jenseitige Wirklichkeit vergißt, sich von Christus lossagt und ihn, den Antichrist, als ihren einzigen „Führer und Beschützer" anerkennt. Scheinbar verkündet er die Sozialreform und verwirklicht sie, in der Tat aber spottet er nur über das Verlangen des Menschen nach dem Sattsein. Die antichristliche Gleichheit des Sattseins ist lediglich eine Maske, die wahren Wohlstand vortäuschen soll. Unter dieser Maske steckt jedoch die soziale Faktizität, d. h. die unverwandelte soziale Wirklichkeit, so wie sie seit Anfang der Weltgeschichte besteht. Die Maske selbst ist aus Geschenken gewoben, die aber mit einer wahren Reform des sozialen Lebens nichts zu tun haben. Mag diese Maske auch ungemein anziehend wirken, in ihrem Wesen ist sie nur ein Betrug wie jede andere antichristliche Unternehmung. Der wahre soziale Wohlstand kann nur der freiwilligen Liebe und dem freiwilligen Opfer entstammen. Gerade deshalb kann er nur sehr relativ sein, wie auch das ganze irdische Leben relativ ist.

6.

DAS VERGNÜGEN

Die erzwungene Einheit wird viel zu lästig und das leibliche Wohl viel zu langweilig, wenn sich dazu nicht das Vergnügen in Form des Spieles gesellt und der satten Gegenwart einen höheren Glanz verleiht. Ist das erste Interesse aller Einsamen die Einheit und das aller Hungernden die Sättigung, so wollen, bemerkt Solowjew, „die Satten auch etwas anderes. Sogar Tiere wollen gewöhnlich nicht nur schlafen, sondern auch spielen. Um so mehr die Menschheit, die post panem immer cir-censes gefordert hat." Daher war die Tat des Antichrist durch die Vereinigung der Menschheit und durch die Begründung des allgemeinen Wohlstandes noch nicht abgeschlossen. Ihn erwartete noch eine Aufgabe, um nichts leichter als die beiden ersten, und zwar: die Versorgung der Menschheit mit Vergnügen. Im dritten Jahre seiner Regierung unternahm also der Kaiser, auch dieses Problem zu lösen, indem er den Wundertäter Apollonius damit beauftragte. Dieser „zweifellos geniale Mensch" kam, wie gesagt, zum Kaiser und bot ihm seine ganze Kunst zum Dienste an. Der Kaiser nahm ihn „als ein Geschenk von oben" auf, schmückte ihn mit „prächtigen Titeln" und ließ sich nicht mehr von ihm trennen. Apollonius sollte also den dritten .Grundwert* des antichristlichen Daseins verwirklichen, einen Wert, den keine Armee und kein Gesetz verwirklichen konnte: er sollte Ergötzer der Massen sein und dem Leben im Anti-christlichen Reich eine glänzende Krone aufsetzen. Damit sollten die Völker der Erde „außer dem allgemeinen Frieden, außer dem allgemeinen Sattsein noch die Möglichkeit erhalten, sich beständig an den verschiedenartigsten und unerhörtesten Wundern und Zeichen zu ergötzen". Die Grundform der Tätigkeit des Apollonius war das Spiel mit dem Licht. Doch zum Feiern der Vereinigung der Kirchen in der Kathedrale für alle Kulte erschienen auch die Blumen, „die die Luft mit einem unbekannten Aroma erfüllten". Ebenso „erklangen hinreißende, Herz und Seele ergreifende Töne von bisher nie gehörten Musikinstrumenten". Apollonius versuchte also, alle menschlichen Sinne zu ergötzen. Der Ruf der Massen: „Panem et circenses!" wurde dadurch vollkommen befriedigt.

Es ist kein Zufall, daß das Vergnügen im antichristlichen Reiche neben der Einheit und dem Wohlstand steht. Im Gegenteil, das Vergnügen ist die Vollendung des antichristlichen Daseins in dem Sinne, daß es diesem einen höheren Glanz verleiht und dadurch seine Sinnlosigkeit verdeckt. Einheit und Wohlstand dienen zwar dazu, den Menschen in die Faktizität für ewig einzuschließen. Doch weder das eine noch das andere vermag der Faktizität einen sichtbaren Glanz zu geben. Keiner von diesen ,Grundwerten' des antichristlichen Daseins setzt der hiesigen, schweren und dunklen Wirklichkeit die Maske des verklärten und geläuterten Seins auf. Daher kann der in antichristlicher Einheit und in antichristlichem Wohlstand ganz und gar aufgegangene Mensch sich immer noch eine andere Welt vorstellen, in der das Dasein nicht nur satt und warm und einig, sondern auch schön ist. Das Schöne ist, wie schon gesagt, eine große Lebenskraft. Es ist die sichtbare Erscheinung der Vollkommenheit des Seins, die sichtbare Gottähnlichkeit der Kreatur. Da aber die Sünde die Spuren Gottes in der Schöpfung verdunkelt und teilweise sogar vernichtet, so verliert ebenso auch das Schöne seine gestaltende Macht in der hiesigen Wirklichkeit. Es wird zu einer seltenen Erscheinung, die uns zwar beglückt und unsere Alltäglichkeit durchbricht, aber diese nicht mehr wesentlich überwindet und bis zum Grunde formt. Das Schöne ist nur ein Regenbogen auf dem dunklen Gewölbe des Diesseits9. Im vollendeten und verklärten Dasein jedoch erscheint es als die Sichtbarkeit des vollkommenen Seins überhaupt. Das vollendete Sein ist das Schönsein. Folgerichtig stellt uns also die Offenbarung die jenseitige Wirklichkeit als lautere Schönheit dar, die sich in den Symbolen von Edelsteinen, Perlen, Kristallen, Licht, Glanz ausdrückt. Die Heilige Stadt, die in den Visionen des hl. Johannes das ganze verwandelte Sein bedeutet, funkelt „wie ein Edelstein, wie Jaspisstein, wie ein Kristall" (Offb 21,12). Wo die Herrlichkeit Gottes alles beleuchtet (vgl. Offb 21, 23), muß auch das Schöne sich in voller Kraft zeigen, denn Gott ist die unendliche Schönheit. Bricht also die Gottähnlichkeit der Kreatur durch, so offenbart sich das Sein unbedingt als das Schöne. Anderseits, fehlt einer Daseinsform die Schönheit, so ist dies ein Zeichen, daß sie noch nicht vollendet ist, daß sie ihrer Verklärung noch harrt und nur ein Hinweis auf etwas Höheres ist, das den Menschen anzieht und in ihm eine Unzufriedenheit mit seiner Gegenwart weckt. Mögen die Menschen noch so friedlich und einig sein, mögen sie auch eine Gleichheit des Sattseins erreicht haben, sie träumen doch immer von einem anderen Lande, wo alles Licht und Glanz und Form ist, wenn sie die Objektivationen ihrer Einheit und ihres Wohlstandes als häßlich und langweilig erleben. Der Mangel am Schönen ist der überzeugendste Beweis, daß die irdische Wirklichkeit in der Tat nicht unser eigentlicher Daseinsraum ist.

Der Antichrist versteht die Gefährlichkeit dieses Mangels nur zu gut, und deshalb bemüht er sich, auch diese Lücke in seinem Reich auszufüllen. Das Leben seiner Anhänger soll nicht nur friedlich und satt, sondern gleichzeitig auch schön sein. Bezaubert durch die Schönheit, soll der Mensch die übernatürliche Vollendung des Seins vergessen, er soll sich nicht nach dem Neuen Jerusalem sehnen, denn schon hier glänzt doch alles wie das Funkeln von Edelsteinen. Warum soll die Menschheit mit Christus auf den Berg Tabor steigen, um sein strahlendes Gesicht und seine schneeweißen Kleider zu erblicken, wenn doch hier alles durch die Geste des Apollonius ebenso wunderlich aufblitzt? Das spielerische Vergnügen des Antichrist ist ein Vorhang, der den Seinsglanz der vollendeten Welt verhüllen soll. Im antichristlichen Reich ist alles so lückenlos zusammengewoben, daß nicht einmal der kleinste Spalt zum Jenseits offenbleibt. Nichts weist im antichristlichen Dasein auf die höhere Wirklichkeit hin, nichts redet von ihr, und nichts offenbart sie. Sogar das Schöne, in Wahrheit Herold der künftigen Verklärung des Kosmos, wird hier zur Waffe im antichristlichen Kampf gegen Christus, und die Sichtbarkeit der Heiligung der materiellen Kreatur dient hier zum Vergessen alles dessen, was heilig ist.

Gerade in diesem Punkte aber kommt das Betrügerische des antichristlichen Vergnügens zum Vorschein. Das Spiel, wodurch sich das Schöne im menschlichen Leben gewöhnlich offenbart, hat einen viel tieferen Sinn, als der Antichrist ihm in seinem Reiche zuschreibt. Allerdings entfaltet sich dieser Sinn hie-nieden nie vollkommen. In unserem dunklen, schweren Dasein erscheint das Spiel nur als eine psychophysische Entspannung, nur als eine Gestaltung der Freizeit nach der mühsamen Arbeit, um Muskel und Nerven zu schonen. Der geistige, ja der göttliche Sinn des Spiels ist uns kaum begreifbar. Als Christus uns seine f rohe Botschaft brachte, nahmen wir sie zwar als eine Neuheit an, doch wir konnten nicht verstehen, warum diese Botschaft gerade froh sein soll und was wir tun müssen, um das Frohe an ihr in unserem Leben zum sichtbaren Ausdrude zu bringen. Was hätten wir aber tun müssen, wenn wir dies doch verstanden hätten? Wie hätten wir unser Leben gestalteil sollen, um das Frohsein des Evangeliums auch äußerlich zu objektivieren? Nichts anderes als das, was der Psalmist angesichts der erwartungsvollen Ankunft des Erlösers schrieb: „Jubelt dem Herrn, alle Lande; freut euch, frohlocket und singt! Singet dem Herrn zur Zither, zum Zither- und Harfenklang; zum Schall der Posaunen und Hörner jubelt vor unserem König und Herrn! Es brause das Meer und was es erfüllt, das Erdenrund und die auf ihm wohnen. Die Ströme sollen frohlocken, die Berge mit ihnen den Jubel erheben vor dem Herrn, denn er kommt, er kommt, die Erde zu richten" (Ps 97, 4—8). Anders gesagt: wir hätten spielen müssen. Die ganze Erde samt ihren Bewohnern, die ganze Natur, der ganze Kosmos hätte vor dem kommenden Herrn gespielt. Die universale Freude, die sich nadi außen in der Form des Spiels zeigt, wäre die Antwort der Kreatur auf das Erscheinen des göttlichen Weltkönigs gewesen. Das Spiel hätte das neue, erlöste Dasein des Menschen und des Kosmos eingeleitet und sichtbar offenbart. Die Zither- und Harfenklänge, das brausende Meer, die frohlockenden Ströme, die jubelnden Berge wären vernehmbare Zeichen dieses neuen Daseins gewesen. Alles hätte gespielt und dadurch das verwandelte Sein ans Tageslicht gebracht. Das Spiel ist die Daseinsweise der erlösten Kreatur.

Mehr noch: das Spiel geht nicht nur mit der Erlösung der Welt zusammen, es steht ebensowohl am Anbeginn des Seins überhaupt. Im Buch der Sprüche ist die Rede von der göttlichen Sophia, die dabei war und alles ordnete, als Gott „den Himmel herstellte, als er die Wölbung überm Ozean festsetzte, als er die Wolken droben mächtig machte" und „als er der Erde Gründe legte" (8, 27—29). Doch dieses Dabeisein der Sophia10 war kein passives Beobachten der göttlichen Taten. Im Gegenteil, die Sophia war Wirk- und Ordnungsprinzip der göttlichen Schöpfung. Auf welche Weise aber ordnete sie alles? Darauf antwortet sie selbst: „Und spielte vor ihm jede Zeit und spielte auf dem Erdkreis, den ich liebte, und zur Ergötzung diente ich den Menschenkindern" (8, 30—31). Das Spiel ist also die Wirkungsweise der göttlichen Sophia11. Spielend stellte sie die Himmel her, spielend befestigte sie Wolken, spielend wog sie die Wasserquellen ab, spielend wies sie dem Meer seine Grenzen an, spielend legte sie die Grundfesten der Erde. Die ganze bewunderungerregende Harmonie des Weltalls ist aus dem Spiel der göttlichen Sophia geboren. Durch das Spiel wurde die Sophia „die Künstlerin des Alls" (Weish 7, 21). Das Spiel ist also die Daseinsweise des göttlichen und vergött-lichten Seins. Wird der Mensch von der Schwere der Sünde erlöst und durch die Gnade in das göttliche Leben eingegliedert, so nimmt er auch das Spiel als seine neue Daseinsweise an, so singt er und frohlockt und jubelt vor dem Herrn. Die vom Psalmisten erwähnten Harfen, Posaunen, Hörner, brausenden Meere und frohlockenden Ströme sind nur ein schwacher Widerhall des absoluten und schöpferischen Spieles der göttlichen Sophia. Die erlöste Kreatur nimmt an der göttlichen Daseinsweise teil und spielt somit von selbst, indem sie ihr neues Dasein zum Ausdrude bringt. Kein Zweifel : da die Vergöttlichung der Schöpfung durch die Erlösung Christi nur noch im Wesen, nicht aber in ihren konkreten Erscheinungen vollzogen ist, bleibt uns der göttliche Sinn des Spieles immer noch verborgen und beinahe unverständlich. In kurzen liturgischen Stunden jedoch bricht dieser Sinn trotz unserer mit dem Fluch der Arbeit be-ladenen Zeit durch und läßt uns das göttliche Sein erleben. Die Liturgie ist das Spiel vor dem Herrn und somit die eigentliche Daseinsweise des erlösten Menschen12. Im religiösen Kult nehmen wir teil an jener universalen Freude, über die der Psalmist spricht und die jeglidbes Erscheinen Gottes begleitet. In unseren Kirchen geschieht bereits das, was im Neuen Jerusalem in alle Ewigkeit geschehen wird. Spielen heißt göttlich existieren: das Spiel ist die Daseinsweise des Heiligen. Wir spielen in unserer Wirklichkeit deshalb so wenig und so ungeeignet, weil diese immer noch von der Sünde beherrscht ist.

Dagegen ist das Spiel im antidiristlichen Reich nur ein äußerer Glanz für die Augen. Es ist hier keineswegs Daseinsweise des verklärten und vergöttlichten Seins. Er erschöpft sich hier nur im kindischen Schleudern des bengalischen Feuers. Sein Licht ist hier nicht das innere Aufblühen der geläuterten Kreatur, sondern nur eine Zauberkunst, die wesentlich der Oberfläche der Dinge anhaftet. Die Feuerwerke des Apollonius sind nur Maske des verklärten Seins: nur dessen Verdeckung und Verhöhnung. Sie haben keinen tieferen Sinn, als lediglich die menschlichen Sinne zu ergötzen. Mit seinem Spiel spottet der Antichrist nicht nur über Christus, sondern gleichzeitig auch über den Menschen, der sich durch Zeichen und Wunder so leicht verführen und betören läßt. Spricht nicht ein tiefer Hohn aus dem Bilde, als Apollonius, dieser neue ,Papst' der antichristlichen Kirche, statt der Welt seinen Segen zu erteilen, sich auf dem Balkon des kaiserlichen Palastes zeigte, die römischen Kerzen aus dem Korb herausholte und sie auf die Menge hinunterschleuderte? Wird nicht diese Menge für kindisch gehalten, wenn sie sich mit den berstenden Raketen zufrieden gibt, ihre unverwandelte Wirklichkeit vergißt und sich bereits im Neuen Jerusalem zu befinden glaubt? Zwar unternimmt es der Antichrist, jede Träne in den Augen des hiesigen Menschen zu trocknen, jede Trauer zu trösten, jeden Schmerz zu lindern, jedoch nicht dadurch, daß er das Sein verklärt — dazu ist er ja von Natur aus unfähig —, sondern dadurch, daß er die Aufmerksamkeit des Menschen von den eigenen Tränen, von der eigenen Trauer, von den eigenen Schmerzen ablenkt und auf die schimmernden Gestalten seiner Umwelt richtet. Das Spiel im antichristlichen Reich ist nicht der Durchbruch der Vollkommenheit des Daseins, sondern nur ein Mittel, gerade seine Unvollkommenheit vergessen zu lassen. Es ist nur ein Rausch, eine gewisse Trunkenheit, ein psychologischer Eindruck, der aber der faktischen Wirklichkeit nicht entspricht und deshalb seinem Wesen nach lügenhaft bleibt. Durch sein Vergnügen lügt der Antichrist ebenso wie durch seine Einheit und seinen Wohlstand.

Mit dem Vergnügen schließt also der Antichrist den Bau seines Reiches auf Erden ab — eines Reiches, dessen Hauptaufgabe, wie gesagt, darin besteht, den Menschen in dieser Wirklichkeit beharrlich wohnen zu lassen und ihm jede Aussicht nach dem Jenseits zu versperren. Durch die Einrichtung der Einheit, des Wohlstandes und des Vergnügens glaubt der Antichrist dies erreicht zu haben, indem er die hiesigen — unverwandelten und ungeläuterten — Realitäten mit seiner dämonischen Dreiheit verdeckt und alle überirdischen Hoffnungen aus dem Herzen des Menschen ausrottet. Christus hat gesagt: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch dareingegeben werden" (Mt 6, 33), d. h., das Glücklichsein soll als Folge des verwirklichten Himmelreiches auf Erden erscheinen. Der Antichrist verdreht dieses Grundprinzip des menschlichen Daseins und stachelt die Menschheit stets an, zuerst das Glück in der Form von Einheit, Wohlstand und Vergnügen zu suchen und damit auf das Reich Gottes endgültig zu verzichten. Dadurch wird die Geschichte nicht nur die Entfaltung der erlösenden Tat Christi, sondern gleichzeitig auch die der irreführenden Unternehmung des Antichrist. Daraus entsteht ihre ganze Spannung und ihre schaudervolle Tragik, denn sie wird somit zum eigentlichen Baufeld für zwei entgegengesetzte Reiche.

1 Vgl. De la Destination de l'Homme, Paris 1935, S. 79.
2 Der Aufstand der Massen, Stuttgart 1947, S. 7.
3 Pius XII., Weihnachtsansprache vom Jahre 1944.
4
Aller Wahrscheinlichkeit nach hat G. Orwell die Erzählung vom Antichrist Solowjews nicht gekannt. Und trotzdem bringt er beinahe wörtlich denselben Wunsch des Großen Bruders ans Tageslicht, den auch der Antichrist Solowjews auf dem Weltkonzil offenbarte. Als O'Brien, der Untersuchungsrichter des totalitären Staates, einmal in die Zelle zu Winston, der von der ,Gedankenpolizei' verhaftet und ins Verließ des .Liebesministeriums' eingesperrt wurde, kam, sagte er zu diesem: „Sie bessern sich. Verstandesmäßig ist recht wenig an Ihnen auszusetzen. Nur gefühlsmäßig haben Sie keinen Fortschritt gemacht. Sagen Sie mir, Winston, ... was sind Ihre wahren Gefühle gegenüber dem Großen Bruder?" „Ich hasse ihn." „Sie hassen ihn. Schön.
5 Guardini, Das Ende der Neuzeit, Basel 1950, S. 125.
Uber sein eigenes erzwungenes Mitsein mit Sträflingen in Sibirien schreibt Dostojewskij folgendermaßen: „Seit fast fünf Jahren bin ich ständig unter Bewachung oder mit vielen Menschen zusammen und nicht eine Stunde für mich allein. Das Alleinsein ist ein normales Bedürfnis wie das Essen und Trinken; sonst wird man bei diesem gewaltsamen Kommunismus unbedingt Menschenfeind. Die ständige Gesellschaft von Menschen wirkt wie Gift oder Pest, und an dieser unerträglichen Marter habe ich in den letzten vier Jahren am meisten gelitten. Es gab Augenblicke, in denen ich jeden Menschen, ob gut oder böse, haßte und als einen Dieb, der mir ungestraft mein Leben stiehlt, betrachtete" (Brief an Frau N. D. Fonwisin, 1854; F. M. Dostojewskis Briefe, Piper, München 1914, S. 62—63).
Die Beziehungen zwischen unserem Leib und dem neben ihm liegenden Objekt und die daraus entstehenden metaphysischen und religiösen Folgerungen hat der Verfasser in seiner Studie „Der Großinquisitor" (siehe das Kapitel „Das Problem des Brotes") ausführlicher behandelt. An dieser Stelle erwähnt er sie nur in aller Kürze und verweist den Leser auf die genannte Studie.
Vgl. Der Großinquisitor S. 168.
9 Vgl. Solowjews Studie über die „Schönheit in der Natur": Solowjews Werke Bd. 7. Herausgegeben von Wl. Szylkarski, Freiburg 1953, S. 119—167.
10  Nebenbei sei bemerkt, daß die Lehre von der Sophia eine grundlegende Rolle in der Philosophie Solowjews spielt, wo Sophia mit der Weltseele, d. h. mit dem ordnenden und erhaltenden Prinzip des Weltalls, zusammenfällt, in der Entwicklung der Schöpfung verschiedene Daseinsweisen annimmt und endlich in Maria, der Jungfrau und Mutter Gottes, einen konkreten geschichtlichen Ausdruck findet (vgl. Vorlesungen über das Gottmenschtum; La Russie et l'Église universelle). Diese Lehre ist von S. Bulgakow, dem berühmtesten und originellsten Theologen der orthodoxen Kirche in der letzten Zeit (1871—1944), besonders entwickelt worden. Die Sophia ist hier beinahe zur vierten Hypostase des göttlichen Seins erhoben, zugleich aber in Maria als „geschaffene Hypostase" erschienen (vgl. Das abendlose Licht, 1917; Der unverbrennbare Dornbusch, 1927).
11 Vgl. dazu H. Rahner, Der spielende Mensch, Einsiedeln 1952, Kap. „Der spielende Gott", S. 15—27.
12  Vgl. R. Guardini, Vom Geist der Liturgie (Ecclesia orans 1. Bd.): „Vor Gott ein Spiel zu treiben, ein Werk der Kunst — nicht zu schaffen, sondern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie" (S. 69).

FÜNFTER ABSCHNITT

Die Kirche unter der Bedrängnis des Antichrist

1.

VERBANNUNG IN DIE WÜSTE

Der antichristliche Feldzug, wie wir ihn eben geschildert haben, richtet sich in seiner konkreten Erscheinung nicht direkt gegen Christus, der zur Rechten des Vaters sitzt, sondern vielmehr gegen Christus, insoweit er sich in Raum und Zeit entfaltet, d. h. gegen seinen mystischen Leib, gegen die Kirche. Christus als Logos, als die zweite Person der Heiligsten Dreifaltigkeit, Christus in seiner ewigen Glorie ist den antichristlichen Mächten absolut unzugänglich. Dadurch aber, daß der Logos fleischgeworden ist und das ganze menschliche Los auf sich genommen hat, wurde er den Anschlägen der alten Schlange erreichbar. Ohne einen, wenn auch nur den geringsten Einfluß auf die Göttlichkeit Christi auszuüben, kann der Teufel die Menschlichkeit des fleischgewordenen Logos angreifen, und er hat sie tatsächlich angegriffen. Nachdem Christus „vierzig Tage und vierzig Nächte lang" in der Wüste gefastet hatte, „trat der Versucher an ihn heran und versuchte ihn" (Mt 4, 2—4). Er versuchte ihn mit dem Brot zur Stillung seines leiblichen Hungers; mit dem Wunder zum Beweis seiner göttlichen Sendung; mit der Macht zur Stiftung und Erhaltung seines Reiches. In diesen drei Versuchungen lag bereits alles eingeschlossen, womit der Teufel die menschliche Natur gewöhnlich locht und sie mehr als einmal überlistet. Christus wies diese Versuchungen zwar zurück, und der Teufel verließ ihn. Doch das Evangelium fügt da sinnvoll hinzu, der Versucher ließ „von ihm ab bis zu gelegener Zeit — usque ad tempus" (Lk 4, 13). Das heißt, der Teufel hegte die Absicht, zurückzukommen. Gewiß, er wird sich nie dem auferstandenen und in den Himmel aufgefahrenen Christus nähern. Das Besteigen des Thrones zur Rechten des Vaters befreite auch die menschliche Natur Christi von jeglichem Vorhaben des Teufels. Jedoch kehrt er zurück zu dem in der Geschichte wirkenden Christus. Er tritt an seinen mystischen Leib heran, an seine Kirche, an die erlöste Menschheit und versucht diese von neuem. Nachdem der Teufel über den Gottmenschen in dessen Persönlichkeit nicht hat Herr werden können, bestrebt er sich jetzt, seine geschichtliche Entfaltung und Erscheinung zu überwältigen. Die Kirche als das sichtbare Gott-menschtum auf Erden wird zum Hauptziel der teuflischen Anschläge und Angriffe. Die Geschichte nach Christus ist gerade jene von Lukas erwähnte gelegene Zeit für alle antichristlichen Mächte. Es ist die Zeit, da der Drache gegen das Weib ergrimmt und den Krieg führt „mit seinen übrigen Kindern, die Gottes Gebote halten und das Zeugnis Jesu bewahren" (Offb 12,17 bis 18). Der geschichtliche Angriff desTeufels gegenGott kommt konkret unter der Gestalt einer unerbittlichen Verschwörung aller antichristlichen Mächte gegen die Kirche zum Vorschein. Das Erste, wonach der Antichrist greift, wenn er der Kirche auf seinem Wege begegnet, ist, sie in die Wüste zu verbannen. Der Satz ist selbstverständlich symbolisch; er drückt jedoch das Wesen dieses antichristlichen Vorhabens sinnvoll aus: ein Vorhaben, das nicht nur Solowjew in seiner Erzählung, sondern auch die Offenbarung selbst als eine der Kampfformen des apokalyptischen Drachen schildert. Der hl. Johannes hat in seinen Visionen gesehen, wie der Drache sich vor dem gebärenden Weibe hinstellte, „um nach der Geburt ihr Kind zu verschlingen" (12, 4). „Dem Weibe aber wurden beide Flügel des großes Adlers gegeben, damit es in die Wüste an seine Stätte hinflöge" (12, 14). Nachdem es geboren hatte, wurde sein Kind „entrückt zu Gott und seinem Throne, das Weib aber floh in die Wüste, wo von Gott ein Ort für sie bereitet war" (12, 6). Die Wüste ist hier ein Symbol für das Zurückziehen aus einer Welt, in der die antichristlichen Mächte überhandgenommen haben. Gott selber führt die Kirche aus solcher Welt hinaus, um sie vor dem tödlichen Schlag des Drachen zu beschützen. Solowjew geht in seiner Erzählung auch den Weg der Offenbarung und berichtet uns, wie sein antichristlicher Kaiser, nachdem er den Papst Petrus und den Starez Johannes hatte töten lassen, einen Befehl erließ, der den Christus treu gebliebenen Christen zwar „völlige Freiheit" gewährte, ihnen jedoch verbot, „in Städten und anderen bewohnten Orten zu weilen". Gleich darauf zogen die verbannten Anhänger Christi aus Jerusalem hinaus und beschlossen, „auf den wüsten Höhen um Jericho einige Tage zu warten".

All diese Symbole besagen eines: der Antichrist bemüht sich eifrig darum, die Kirche aus dem öffentlichen Leben auszuschalten. Sie soll sich aus der Familie, aus der Schule, aus dem Staat, aus der Kunst, Wissenschaft, Philosophie zurückziehen und sich zwischen den vier Wänden ihrer Tempel einschließen. Sie soll auf ihre Aufgabe, die Welt nach Christus umzugestalten, verzichten und sich nur auf das enge Gebiet der sogenannten Inneren Religiosität' beschränken. Die Wüste, wo niemand wohnt, sei der richtige Daseinsraum für die Kirche. Deshalb dauert die Verbannung der Kirche in die Wüste ihre ganze Geschichte lang. Seit der Vertreibung der Apostel aus den Städten Kleinasiens (vgl. Apg 13, 50; 14, 20) hört der Antichrist nie mehr auf, die Kirche in ihrer öffentlichen Tätigkeit zu unterbinden und ihr die Erneuerung des Lebens nach dem Geiste Christi zu erschweren. Er vertritt ihr stets den Weg und gestattet ihr nie, die Wüste restlos zu verlassen und sich „in den Städten und anderen bewohnten Orten" ansässig zu machen. Der Weg der pilgernden Kirche auf Erden streift immer die wüsten Höhen des Daseins.

Welche Tragweite nimmt also diese Verbannung an? — Einerseits bringt sie der Kirche großen Schaden. Die Kirche ist nicht eine Zusammenschließung der Menschen für eine rein immanente Frömmigkeit oder für die Kultivierung des rein seelischen Lebens. Sie fördert zwar die innere Entwicklung und Vervollkommnung des subjektiven Geistes; sie ist die einzige Stätte, wo das seelische Leben des Menschen zur vollen Reife gelangen kann. Doch damit erschöpft sich die Hauptaufgabe der Kirche nicht. Die Kirche ist etwas Seinshaftes, was in der Seele des einzelnen — sei er auch ein noch so großer Heiliger — nicht aufgeht. Im Gegenteil, die subjektive Vollkommenheit und Heiligkeit fließt der Seele gerade vom Ontologischen der Kirche zu, von jener objektiv-transzendenten Ebene, an der die getaufte Person teilnimmt und durch deren Gnaden sich ständig bereichert. Die rein psychologische oder moralische Auffassung der Kirche berührt nur ihre Oberfläche, nicht aber ihren Wesenskern; sie entstellt sogar ihr Wesen, weil sie die Auswirkung an die Stelle des Grundes setzt. Die Kirche ist der erlöste Kosmos, der die Aufgabe hat, die Erlösungstat Christi zur Vollendung zu bringen. In ihr soll das Kreuzesopfer des Heilands zur Reife kommen und zur universalen Umfassung gelangen. Die erlösende Tat Christi ist aber keine subjektive Stimmung und keine nur innere Religiosität. Die Erlösung ist das neue Sein. Wer erlöst ist, „ist ein neues Geschöpf" (2 Kor 5, 17). Durch die Erlösung sind wir „geschaffen in Christus Jesus" (Eph 2, 10), geworden zu „Hausgenossen Gottes" (2, 19), mehr noch: zu „Kindern Gottes" (Rom 8, 17). Dadurch sind wir „der Macht der Finsternis entrissen und in das Reich seines vielgeliebten Sohnes versetzt" (Kol 1, 13). Will also die Kirche nicht ihrer Wesensbestimmung untreu werden, so muß sie ihre Aufgabe so erfüllen, daß sie das neue von Christus gewonnene Sein auf allen Gebieten des Lebens errichtet, alles neu macht, alles mit Jesus Christus anzieht (vgl. Rom 13, 14). Allerdings sakramental tauft und firmt die Kirche nur die menschliche Person. Doch diese getaufte und gefirmte Person, dieses „neue Geschöpf" schafft das neue Leben sowohl in seiner eigenen Seele als auch in seinem äußeren Werk, indem es alles, was es nur berührt, mit dem Feuer des Heiligen Geistes bezeichnet. Alle Gestalten des objektiven Lebens fassen doch ihre Wurzeln im subjektiven Geiste und drücken diesen ziemlich genau aus. Hat dieser Geist also Anteil am neuen Sein in Christus, so prägt sich dieses Sein von selbst auch in die von ihm gestalteten Formen des objektiven Lebens ein. Die Kirche aus diesen Formen verbannen zu wollen, bedeutet daher dem Menschen verbieten, christlich zu leben und zu handeln. Es bedeutet den Glauben unterbinden, damit dieser sich nicht in den Werken auswirkt. Es bedeutet den Menschen zerspalten, so daß sein Denken nicht seinem Tun entspricht. Die Kirche widersetzt sich dauernd dieser Zerspaltung und fordert unablässig, daß dem Menschen das Recht gewährt wird, nicht nur innerlich zu glauben, sondern auch nach seinem Glauben zu leben. Alle Jahrhunderte hindurch besteht sie darauf, daß das menschliche Leben samt seinem ganzen objektiven Inhalt nichts anderes sein soll als die Objektivation des Glaubens.

Daher widersetzt sich die Kirche folgerichtig ihrer Verbannung in die Wüste, d. h. ihrer Ausschließung aus den objektiven Lebensformen, denn darin sieht sie nicht nur die Verletzung eines der Grundrechte der menschlichen Person, sondern zugleich auch die Vernichtung der Erlösung Christi. Die Kirche ist eine Ganzheit, die Glauben und Werke, Person und Leben umfaßt und in sich organisch vereinigt, denn diese zwei sind ihrem Wesen nach nicht zu trennen. Werke sind ja nichts anderes als der verkörperte Glaube, und das Leben ist nichts anderes als die entfaltete Person. „Der Glaube ohne Werke ist tot" (Jak 2, 20), und die Person ohne Leben verkümmert. Den Glauben zu unterbinden, damit er sich nicht in Werken auswirkt, bedeutet ihn selbst zu töten; die Person zu behindern, damit sie nicht im Leben zur Entfaltung kommt, bedeutet sie selbst zu erstik-ken. Der Antichrist weiß: ist die Kirche aus dem Leben einmal verbannt, so wird sie bald auch aus der Person verbannt werden. Die Entchristlichung des Lebens ist immer eine Einleitung in die Entchristlichung der Person. In allen jenen Ländern, wo es dem Antichrist geglückt ist, den objektiven Geist dem erlösenden Einfluß der Kirche zu entziehen, zeigen sich bald Zeichen der Rückkehr zum Heidentum auch in der Gestaltung der Seele. Die Verbannung der Kirche in die Wüste ist im Wesen ein Anschlag auf die Erlösung der Menschheit.

Anderseits ist diese Verbannung auch eine von der göttlichen Vorsehung selbst zugelassene, hie und da sogar geschickte Hilfe für die Kirche. Die Wüste ist Symbol nicht nur des Hinausgestoßenseins aus der Welt, sondern auch ein Hinweis auf die innere Erneuerung. Sie ist jene Ebene des Daseins, wohin Christus gleich nach der Taufe vom Geiste hinausgeführt wurde (vgl. Mt 4, 1) und wo dem vom Drachen verfolgten Weibe — dem Bild der Kirche — von Gott ein Ort bereitet war (vgl. Offb 12, 6). Die Wüste ist Symbol des Aufstieges zu Gott, der Einkehr in sich selbst, des Alleinseins mit dem Herrn. In die Wüste zu gehen bedeutet daher, die uns belastenden und hindernden irdischen Gestalten abzulegen. Ein Kleid von Kamelhaaren, ein lederner Gürtel um die Lenden, Heuschrecken und wilder Honig, diese Grundelemente in der Existenz des hl. Johannes des Täufers (vgl. Mt 3,4), sind die eindrucksvollen Hinweise auf jenes Minimum, das jeder von Gott Berufene besitzt, um noch in der Welt zu bleiben, nicht aber von der Welt zu sein. Jedesmal also, wenn der Christ in der Welt aufzugehen droht, wenn er sich zu eifrig um das Irdische bemüht und um viele Dinge kümmert, ist er vom Geiste selbst angeregt, sich in die Wüste zu begeben, dort zu fasten und zu beten, sich zu den Füßen des Meisters zu setzen und auf sein Wort zu hören. Die Wüste ist unbedingter Bestandteil des christlichen Daseins. Der Christ darf die Wüste nie gänzlich verlassen, wenn er nicht Schaden an seiner Seele nehmen will. Das ist eines der Grundgesetze der christlichen Existenz auf Erden; ein Gesetz, das nicht nur einzelne Personen, sondern auch christliche Gemeinschaften und sogar die Kirche in ihrer Gesamtheit verpflichtet. Die Kirche ist wohl berufen, die ganze Welt zu durchdringen, sie zu taufen und in ihr das durch die Erlösung Christi wiederhergestellte neue Sein zu entfalten und zu vollenden. Sie soll sich in jedweder Gestalt der Welt verkörpern und sie kraft des Heiligen Geistes nach dem göttlichen Urbild verwandeln. Die Weltwerdung ist wesentliche Aufgabe der Kirche. Wie der ewige Logos fleischgeworden ist, so soll die Kirche weltwerden und das alte Sein nach ihrem göttlichen Wesen umgestalten. Der persönlichen Fleischwerdung des Logos entspricht die geschichtlich-universale Weltwerdung der Kirche.

Doch gerade hier, wenn die Kirche diese Aufgabe zu erfüllen sucht, liegt ihr ewiger Feind schon auf der Lauer. Wie der Teufel einen gewissen Zugang zur Menschlichkeit Christi gehabt hatte, ebenso übt er einen Einfluß auf die Weltlichkeit der Kirche aus. Nachdem er Christus verlassen hat, kommt er jetzt zur Kirche zurück und will sich ihrer durch dieselben Versuchungen bemächtigen. Er versucht sie mit dem Brot: die Mitglieder der Kirche werden angespornt, sich in weltlichen Palästen einzurichten und mit irdischen Gütern zu versorgen, statt durch das Wort Gottes lebendig zu sein und ihre Zukunft auf die göttliche Vorsehung zu bauen. Er versucht sie mit dem Wunder: die Vertreter der Kirche, anstatt die Welt durch ihre persönliche Heiligkeit an sich zu ziehen, stützen sich ausschließlich auf die ihnen von Christus verliehene sakramentale Gewalt, als ob diese allein, ohne das menschliche Zutun, die Seele erretten könnte. Er versucht sie mit der Macht: die Führer der Kirche wollen oftmals Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit annehmen und die Erlösung Christi nicht durch ihren apostolischen Eifer, sondern durch politische Mittel vollendet sehen. Die Kirche in ihrer Gesamtheit erlag nie den Verführungen ihres Feindes, und sie wird nie erliegen. Doch in einzelnen Abschnitten ihres Lebens, in einzelnen Jahrhunderten ihrer Geschichte und in einzelnen Ländern ihrer Verbreitung kann sie den Versuchungen nachgeben und hat sie ihnen nachgegeben. Hie und da vergessen kirchliche Gemeinden, daß sie immer noch der streitenden Kirche angehören, und beginnen deshalb, sich der Welt gegenüber so zu verhalten, als ob sie bereits die triumphierende Kirche des Jenseits wären, das Neue Jerusalem, die Heilige Stadt Gottes, an welcher der Antichrist keinen Anteil mehr nimmt. Solch kurze Stunden des Sichvergessens gab es immer auf dem Pilgerweg der Kirche und wird es auch in Zukunft als Folge der menschlichen Ermüdung auf diesem Wege geben. Dieser unwahre und hienieden auch unmögliche Triumph wird vom Antichrist, kraft der göttlichen Zulassung, tief erschüttert. Die antichristlichen Angriffe gegen die Kirche begraben jede falsche Hoffnung und zersprengen jede falsche Grundlage. Sie überzeugen selbst die lässigen Christen, daß die Kirche sich nie mit der Welt verschmelzen soll, daß ihre Weltwerdung nie ihre Verweltlichung bedeutet. Die Kirche steht ihrem Wesen nach über der Welt. Beugt sie sich zu ihr und nimmt ihre Gestalten an, wie einst Christus die menschliche Natur angenommen hat, so tut sie das nicht deshalb, um sich zu verweltlichen, sondern um das Weltsein in die Sphäre des Göttlichen zu erheben. Die Weltwerdung der Kirche bedeutet im Wesen die Vergöttlichung der Welt. Weicht aber ein Zeitalter oder ein Teil der Kirche von diesem Grundgesetz ab, dann kommt der Antichrist, entblößt sie ihrer der Welt entnommenen, jedoch nicht vergött-lichten Formen und verbannt sie in die Wüste. Hier aber fängt ihre Erneuerung an. Fern von weltlichen Sorgen und Geschäften kehrt die Kirche in sich selbst ein, denkt über erloschene irdische Träume tiefer nach, bereut ihre menschlichen Verfehlungen, tut Buße dafür und bereitet sich somit von neuem vor für die Erfüllung ihrer göttlichen Sendung.

Zum Vergleich stellt Solowjew das irdische Schicksal der wahren Kirche Christi dem der antichristlichen ,Kirche' des Weltkaisers gegenüber. Während die christustreuen Mitglieder aller drei Konfessionen sich „auf den wüsten Höhen von Jericho" dem Fasten und dem Gebet ergaben, feierten die Anhänger des Antichrist ein großes Freuden- und Siegesfest, indem sie sich an den Wundern und Zeichen des Apollonius ergötzten. Dieses Volksfest dauerte, wie Solowjew bemerkt, sogar „einige Tage". Die Kirche Christi betete und fastete, die Kirche des Antichrist vergnügte sich und triumphierte. Mit dieser Gegenüberstellung bringt Solowjew jenen tiefen Gegensatz ans Licht, der zwischen der Kirche und der Welt ewig besteht und der im Diesseits nie überwunden werden kann. Auf ihn hat Christus selbst hingewiesen, als er sagte: „Wahrlich, wahrlich, sage ich euch: ihr werdet weinen und wehklagen, die Welt aber wird sich freuen" (Jo 16, 20). Das Los der Kirche auf Erden ist, zu beten, zu fasten und wehzuklagen. „Die Welt geht ihren dornenvollen Weg im Vertrauen auf Reichtum, Gewalt, Waffen, Talent; die Kirche aber schreitet sicher und ohne Bangen durch die Zeiten, einzig im Vertrauen auf Gott, zu dem sie im Gebet bei Tag und Nacht Augen und Hände erhebt."1 Jedesmal daher, wenn sie an den ihr wesentlich fremden Freuden der Welt teilnimmt, wird sie vom Antichrist überwältigt und gerät in seine Gefangenschaft.

Im Hinblick darauf hat die Verbannung der Kirche in die Wüste tatsächlich einen tiefen Sinn. Sie schützt die Kirche vor dem menschlichen Element, welches das Göttliche in ihrem Leben zu überwuchern und zu unterdrücken droht. Christus selbst lenkt das Wachstum seines Leibes so, daß dieser nicht zu sehr diesseitig wird und sich nicht zu tief in der Welt verliert. Er befreit deshalb dann und wann seinen Widerpart aus dem Kerker (vgl. Offb 20, 7), um die Entfaltung der Kirche in der Geschichte von allen allzumenschlichen Auswüchsen zu reinigen. Das Drama Job ist das eigentliche Drama der Kirche. Der Teufel erscheint immerfort vor Gott und beschuldigt die Kirche, sie liebe Christus nur deswegen, weil sein Evangelium ihr Reichtum, Ehre und Macht verschafft habe. Möge aber der Herr seine Hand ausstrecken und ihre Güter antasten, so würde sie Christus ins Angesicht verwünschen. Aus seiner eigenen Erfahrung redet so der Teufel, denn er weiß nur zu wohl, daß es eben solche Mitglieder in der Kirche gibt. Und Gott antwortet auf diese Beschuldigung genauso, wie er einst auf die Anklage des Teufels gegen Job geantwortet hat: „Alles, was sein eigen, ist in deiner Hand" (1, 12). Dann geht Satan hin und vernichtet alles, wessen sich die verweltlichten Mitglieder der Kirche so laut rühmten und so tief freuten, nachdem sie vergessen hatten, daß sie nicht durch Wagen und Rosse, sondern allein „durch den Herrn, unseres Gottes, Namen" stark sind (Ps 19, 8). Dann kommt die Zeit der Unterdrückung und Verfolgung, des Seufzens und Weheklagens.

Doch gerade in dieser schweren Zeit scheidet sich von selbst das Unkraut vom Weizen, und die schlechten Fische verlassen das Gewässer der Heiligtümer. Das göttliche Antlitz des mystischen Leibes Christi beginnt von neuem zu strahlen, wenn auch gefurcht vom Leide wegen des Verrates seiner einzelnen Glieder. Die Verbannung der Kirche in die Wüste ist für sie eine große Einkehr, denn aus der Wüste ruft der Herr Propheten und Heilige, die ihr den richtigen Weg von neuem zeigen und die nötige Buße für die Sünden ihrer Vergangenheit tun. Nachdem die Kirche in der Wüste gefastet und geweint hat, kommt sie wirklich als die Braut Christi zurück, gekleidet in „reine, glänzende Leinwand" (Offb 19, 8), doch „das Linnenkleid sind die gerechten Werke der Heiligen" (ebd.), nicht aber Purpur und Scharlach, Gold, Edelsteine und Perlen wie bei der großen Buhlerin, „die über vielen Wassern thront" (17, 2—4). Der scheinbare Sieg des Antichrist über die Kirche verwandelt sich in Wirklichkeit in dessen Niederlage, denn anstatt die Kirche endgültig zu verderben, worauf ihr Gegner stets hofft, macht die Wüste sie nur stärker und bereitet sie vor für das neue Wirken und den neuen Kampf.

2.

DIE BLUTIGEN VERFOLGUNGEN

Hand in Hand mit der Verbannung der Kirche aus dem öffentlichen Leben gehen blutige Verfolgungen als die zweite Form des antichristlichen Kampfes gegen den mystischen Leib Christi. Angesichts der Verbote des Antichrist, „in Städten und anderen bewohnten Orten zu weilen", wiederholen manche Christen die Worte des hl. Petrus vor dem Hohen Rat der Juden in Jerusalem: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg 5, 30). Wie aber einst die Juden, als sie das hörten, in Wut gerieten und die Apostel töten wollten (vgl. 5, 33), ebenso wüten die anuchristlichen Mächte aller Jahrhunderte, wenn sie auf die Unnachgiebigkeit der Anhänger Christi stoßen, und töten diese ohne Rücksicht auf ihre soziale, politische oder kulturelle Stellung in der Gesellschaft. Seit den Tagen des Hero-des, der „alle Knäblein von zwei Jahren und darunter umbringen" ließ (Mt 2, 16), bis in unsere Zeit herein, in der die Menschenrechte proklamiert werden, reicht die Verfolgung und Tötung der Christen. Die blutigen Verfolgungen der Kirche sind existentieller Bestandteil ihrer Geschichte. Sie sind kein rein menschliches Mißverständnis oder politischer Fehler. Etwas Dämonisches und Antigöttliches liegt ihnen zugrunde. Sie sind eine konkrete Erscheinung der mörderischen Einstellung des Teufels zur Schöpfung Gottes, daher haben sie einen tiefen religiösen Charakter. Zwar gibt sich der Antichrist immer viel Mühe, sein blutiges Unternehmen äußerlich zu rechtfertigen und irgendwie zu begründen. Politische, wirtschaftliche und kulturelle Gründe müssen dafür herhalten. Christenverfolgungen werden stets als Dienst für irgend etwas erklärt und vor dem Volke hingestellt. „Jeder, der euch tötet, glaubt, Gott einen Dienst zu tun", sprach Christus (Jo 16, 2) und deutete damit auf den eigentümlichen Charakter der Verfolgungen hin. Das Blut der Märtyrer ist für den Menschen unerträglich. Deshalb erklärt der Antichrist die Christen zuerst für Verbrecher: für Feinde des Staates, des allgemeinen Wohles, der Kultur, und dann, sich auf diese Beschuldigung stützend, ruft er die Welt zum Kampf gegen die Kirche.

Dieser Taktik folgend, verbannte auch der Antichrist Solowjews die Christen zuerst in die Wüste, später aber „gab er Befehl, alle ungehorsamen Juden und Christen zu töten". Viele Tausende und Zehntausende wurden schonungslos hingemordet. Auch diesen Massenmord versuchte der Antichrist mit einem höheren Motiv zu verdecken, und zwar mit dem Wohl des Weltstaates, das durch den Aufstand der Juden in Palästina erschüttert werden konnte. In Wirklichkeit war dieser Aufstand nur ein guter Vorwand, sich an den dem Antichrist ungehorsamen und Christus treu gebliebenen Menschen zu rächen. Der Massenmord in Jerusalem war im Wesen nichts anderes als die Fortsetzung des Mordes im Konzilssaal, begangen an Papst Petrus und Starez Johannes. Der Kampf des Teufels gegen den sich in der Geschichte entfaltenden Christus ist der tiefste Grund aller Christenverfolgungen. Da der Teufel Christus selbst zum zweitenmal nicht mehr töten kann, greift er die Glieder seines mystischen Leibes an und tötet diese, indem er glaubt, dadurch auch den Leib vernichten und Christus aus der Geschichte verbannen zu können. Das Christsein selbst ist also das größte Verbrechen in den Augen der Welt, ein Verbrechen, das nur durch den Tod zu sühnen ist. Der Haß, den die Welt der Kirche gegenüber hegt, ist nichts anderes als die geschichtliche Objektivierung ihres Hasses gegen Christus. Solange die Kirche Christus treu bleibt, hält sie fortwährend Abstand von der Welt und wird deshalb von ihr gehaßt, verfolgt, getötet. Frieden und Ruhe könnte sie nur mit dem Verrat des Heilands, d. h. mit der Verneinung ihres eigenen Wesens erkaufen.

Wenn wir aber fragen, warum die Kirche von der Welt gehaßt und verfolgt wird, können wir nur eine Antwort darauf finden: weil die Kirche dauernd versucht, die Welt aus ihrer Faktizität aufzurütteln. In dieser Hinsicht ist die Kirche ebenfalls ein treues Abbild Christi. Was im Leben des Gottessohnes nur einmalig geschah, wiederholt sich beständig in der Geschichte der Kirche. Die Hauptanklage, welche die Hohenpriester gegen Christus erhoben, war, daß „dieser unser Volk aufwiegelt" (Lk 23, 2). Darunter verstanden sie gewiß das politische Aufwiegeln, denn sie fügten gleich hinzu: „Er verbietet, dem Kaiser Steuer zu zahlen, und sagt, er sei der Messiaskönig" (ebd.). Doch ohne es selbst zu wissen, drückten die Lehrer Israels damit die wesentliche Art und Weise des Wirkens sowohl Christi selber als auch seiner Kirche aus. Christus ist gerade deshalb auf die Welt gekommen, um die Welt aufzuwiegeln. Mit seiner Lehre hat er den Frieden auf Erden bis zum Grunde erschüttert. Er hat die alte Beziehung des Menschen zum Dasein — zu seinen Freunden und Feinden, zu Frau und Familie, zu Reichtum und Versorgung, zur Gesellschaft und schließlich zu Gott — zerstört und an ihre Stelle eine neue Beziehung gesetzt. „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden sei... Ich aber sage euch", waren Worte, die eine Zäsur im Dasein selbst bedeuteten. Jedoch es war kein politischer Umsturz. Christi Tat war im Wesen ontologisch. Es war eine Umwandlung der menschlichen Natur, eine neue Schöpfung, eine Herstellung des zum Nichts sinkenden Daseins. Gerade deshalb aber griff diese Tat so tief. Christus ist der größte und radikalste Umstürzler in der Weltgeschichte. Barabbas war ebenfalls ein Aufrührer in der Stadt (vgl. Lk 23, 19). Was aber bedeutete der Aufruhr des Barabbas im Vergleich mit dem ,Aufruhr' Christi! Darum schrie auch, als Pilatus das Volk in seinem Hof fragte: „Welchen soll ich euch losgeben, den Barabbas oder Jesus?", die ganze Menge: „Hinweg mit diesem! Gib uns Barabbas frei!" — „Was soll ich denn mit Jesus machen?" war die weitere, diesmal bereits verlegene Frage des Pilatus. — „Ans Kreuz mit ihm! ans Kreuz mit ihm!" war die entschiedene Antwort des Volkes (vgl. Mt 27, 17; Lk 23, 19; Mt 23, 22). Und in dieser Antwort liegt die ganze Einstellung der Welt zu Christus. Die Welt erträgt wohl Mörder, Räuber, Ehebrecher, Diebe, Lügner, Kinderschänder, ja alle Verbrecher kann sie ertragen, aber Christus eträgt die Welt nicht. Die Verbrecher stören ebenfalls den Frieden des ruhigen Bürgers. Doch sie stören ihn nur an der Oberfläche seines Daseins. Das Dasein selbst bleibt von ihnen unberührt. Deshalb kann die Welt die Verbrecher begnadigen und sie zu ihren Nationalfesten freilassen. Die Welt wendet aber keine Begnadigung Christus gegenüber an, weil er der Umstürzler im Dasein selbst ist. Der Schrei der Menge im Pilatushof wird nie mehr verstummen. Die Geschichte der Welt ist die Entfaltung und Objektivierung des Ans-Kreuz-mit-ihm, seine Trägerin bis zu ihrem Ende.

Nicht anders ergeht es auch der Kirche, denn sie setzt den von Christus durch sein Leben und seinen Tod eingeleiteten Umsturz im Dasein fort. Sie bringt sein Schwert in alle Erdteile, sie entzweit Volk mit Volk, Stand mit Stand, Sippe mit Sippe. Der von der Kirche getaufte Mensch fühlt sich aufgerüttelt, aus seiner bisherigen Ruhe gebracht, in die Daseinsweise eines Pilgers versetzt. Durch ihre Lehre wertet die Kirche alle alten Werte um; durch ihre Regierung will sie die alte empörerische Welt ins Reich Gottes zurückführen; durch ihre Sakramente leitet sie die Verwandlung und Verklärung des Seins selbst bereits ein. Alles, was alt war, soll vergehen. Aus dem Schoß der Kirche sollen der neue Mensch und das neue Leben entstehen. Die Welt soll sich „vom Schlafe erheben", „die Werke der Finsternis ablegen" und den Herrn Jesus Christus anziehen (Rom 13, 11—14). Das ist der unaufhörliche Ruf der Kirche an den weltlichen Menschen, an den alten Adam, dessen geschichtliche Entfaltung gerade das bildet, was wir unter dem Wort ,Welt' verstehen. Ist es also zu verwundern, wenn dieser Ruf der Welt endlich zum Überdruß wird? Ist es vielmehr nicht selbstverständlich, wenn die Welt die Kirche, diese ewige Friedensstörerin, zu hassen und zu verfolgen beginnt? „Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen" (Jo 15, 20), hat Christus gesagt und damit den wesentlichen Zusammenhang zwischen seinen eigenen Verfolgungen und denen der Kirche ausgedrückt. Die Verfolgungen sind also keine zufällige Erscheinung im Leben der Kirche. Sie sind vielmehr in der Erfüllung ihrer göttlichen Sendung selbst mit einbegriffen. „Wenn die Kirche den Menschen die Wahrheit bringen und sie zum ewigen Heil führen will, muß sie, wie Jesus dies den Aposteln vorausgekündet hat, jeden Tag von neuem auf Kampf und Streit gefaßt sein."2. Deshalb brauchen die Christen sich gar nicht zu wundern, wenn es Verfolgungen gibt. Im Gegenteil, sie müssen sich Sorge machen, wenn eine längere Pause eintritt, denn die Ruhe kann ein Zeichen dafür sein, daß ein Teil der Kirche bereits ,von der Welt' geworden ist und sich das Weltsein angeeignet hat. Infolgedessen hat die Welt ihn in Frieden gelassen, denn sie hat sich selbst in ihm erkannt. Wird dagegen die Kirche verfolgt, so ist es jedem klar, daß sie stets einen Abstand von der Welt hält, daß der genannte Gegensatz zwischen ihr und der Welt stark in den Vordergrund ihrer Geschichte tritt und daher den Haß der Welt auch tätlich hervorruft. Die Zeit der Verfolgungen ist immer die Blütezeit des inneren kirchlichen Lebens. Es ist die Zeit der bekennenden Fülle, denn es kann kein vollkommeneres Bekenntnis zu Christus geben als den Tod für ihn und in ihm. Daher sagt auch der hl. Petrus: „Sehet zu, daß ja keiner von euch als Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder wegen unbefugter Einmischung in fremde Angelegenheiten zu leiden habe; wenn er aber als Christ leidet, braucht er sich nicht zu schämen, vielmehr preise er Gott um dieses Namens willen" (1 Petr 4, 15—16). — Was für eine Bedeutung hat nun das Blut der Märtyrer in der Geschichte der erlösten Menschheit? Was für eine Stellung nimmt es im christlichen Dasein selbst ein?

Ist die Kirche der in Raum und Zeit sich entfaltende Christus, so nimmt ein jedes ihrer Mitglieder an dieser Entfaltung teil. Anders gesagt, ein jedes Mitglied der Kirche ist sichtbarer Träger und Ausdruck Christi in der Zeit. Christus entfaltet sich in den Gliedern seines mystischen Leibes und offenbart sich durch sie in der Geschichte. Durch sie gestaltet er das objektive Leben und vollendet somit seine eigene Sendung3. Das einzelne Mitglied der Kirche ist also ein kleiner Christus. Gewiß, kein Mensch — sei er auch ein noch so großer Heiliger — vermag die gottmenschliche Fülle Christi in sich aufzunehmen und sie in seinem Leben auszudrücken. Doch jeder Christ lebt nicht von sich selbst, sondern von Christus, denn in jedem ist Christus durch seine Erlösungstat gegenwärtig, die den eigentlichen Grund und Quell des Christseins ausmacht. Infolgedessen vergegenwärtigt jedes Mitglied der Kirche das irdische Schicksal Christi in der Art und Weise, wie es ihm von der göttlichen Vorsehung vorherbestimmt ist. Und nur durch diese Vergegenwärtigung Christi wird der Mensch zum Christen, d. h. zum wirklichen Träger und Ausdruck der geschichtlichen Entfaltung Christi, zum wahren Glied seines mystischen Leibes. Ist Christus in einem Glied seines Leibes nicht mehr gegenwärtig, so ist dieses Glied bereits von der alles am Leben erhaltenden Zen-tralentelechie abgefallen und deshalb tot. Die Sichtbarkeit Christi durch die Vergegenwärtigung seines Daseins auf Erden ist die wesentliche Voraussetzung für jedes christliche Leben. Wenn es also jemandem von Gott bestimmt ist, nicht nur in Christus zu leben, sondern auch in ihm und für ihn zu sterben, so ist sein Tod ebenfalls Ausdruck des Todes Christi. Er ist eine gewisse Vergegenwärtigung seines Kreuzopfers, und zwar in der blutigen Weise, denn unblutig wird das Sterben des Erlösers in jedem Meßopfer vergegenwärtigt. Es besteht eine innere, gewiß nicht sakramentale, aber doch eine wirkliche und tiefe Ähnlichkeit zwischen dem Martyrium und dem Meßopfer. Sind wir alle „ein königliches Priestertum" (1 Petr 2, 9) dadurch, daß wir, kraft unseres Taufcharakters, Gott „geistige Opfer darzubringen" vermögen (2, 5)4, so stehen die Märtyrer in der Hierarchie des allgemeinen Priestertums — denn auch hier kann man von einer Hierarchie sprechen — am höchsten. Sie bringen Gott und dem Lamm nicht nur geistige Opfergaben, wie Gebete und gute Werke, dar, sondern gleichzeitig auch ihr Leben selbst: ihre Persönlichkeit wird auf dem Opferaltar geschlachtet, und ihr Blut wird als Sühnopfer für viele vergossen. Das Kreuz Christi auf dem Kalvarienberg findet im Martyrium einen realen und blutig sichtbaren Ausdrude. Das Blut der Märtyrer ist geschichtliche Entfaltung des Blutopfers Christi. Entfaltet die Messe dieses Opfer in einer mystischsakramentalen und daher unblutigen Weise, so trägt das Martyrium dasselbe Opfer blutig durch die Geschichte hindurch und macht das Kreuz Christi in unserem Dasein stets gegenwärtig. Denn die Kirche ist nicht nur Christus in der Glorie, sondern auch in der irdischen Pilgerschaft, in der sich ebenso nicht nur eine Hochzeit zu Kana in Galiläa befindet, sondern auch ein Gethsemani und ein Golgotha. Die Kirche ist der ganze Christus: angenommen und abgelehnt, leidend und triumphierend, gestorben und auferstanden. Die Fülle des Lebens und Wirkens Christi entfaltet sich in der Kirche und findet in ihr einen allseitig sichtbaren, objektiven und historischen Ausdruck. Daher nehmen auch Leiden und Sterben Jesu eine integrierende Stellung im Leben der Kirche ein und drücken sich konkret im Martyrium aus. Das Martyrium ist ein organischer Bestandteil in der Geschichte der Kirche, wie es auch ein Bestandteil im irdischen Leben Jesu war.

Doch vermag, wie gesagt, kein einzelnes Mitglied der Kirche die gottmenschliche Fülle Christi zu vergegenwärtigen und auszudrücken. Die Trägerin der Fülle Christi ist die Kirche in ihrer räumlich-zeitlichen, d. h. geschichtlichen Ganzheit. Das einzelne Mitglied vergegenwärtigt nur ein Merkmal oder einen Abschnitt des Lebens Jesu. Was für ein Merkmal oder einen Abschnitt es auszudrücken berufen ist, hängt von der Gabe des Heiligen Geistes ab, „der einem jeden nach seiner Art zuteilt, wie er will" (1 Kor 12, 11). Unter den verschiedensten Gnadengaben des Heiligen Geistes befindet sich auch die Gnade zum Martyrium. Das Martyrium ist eine wirkliche Gabe von oben, nicht aber eine Entscheidung des rein menschlichen Willens. Wie der Christ den lehrenden, regierenden, heilspendenden oder prophezeienden Christus nur kraft einer göttlichen Berufung und sogar einer Salbung auszudrücken vermag, ebenso auch den leidenden und sterbenden Christus. Wie niemand Herr Jesus „außer im Heiligen Geist" (1 Kor 12, 3) sagen kann, um so weniger ist jemand imstande, für Jesus zu sterben, ohne von demselben Geist dazu berufen, gestärkt und geleitet zu sein. Ein Märtyrer zu werden bedeutet also, vom Heiligen Geist zu einem geschichtlichen Träger des Leidens und Sterbens Jesu berufen zu sein. Das Martyrerdasein ist die Vergegenwärtigung jenes Abschnitts im Leben des Heilandes, der in Gethsemane anfing und auf dem Kalvarienberg endete. Die Verfolgungen der Kirche sind die geschichtliche Entfaltung des großen Dramas auf Golgotha.

Damit jedoch erschöpft sich der geschichtliche Sinn der Verfolgungen noch nicht. Im Hinblick auf die Verfolgten sind sie wohl die geschichtliche Entfaltung des Leidens und Sterbens Jesu. Durch das Vergießen ihres Blutes tragen die Märtyrer das erlösende Blut Christi durch die ganze Weltgeschichte hindurch. Was bedeuten aber die Verfolgungen im Hinblick auf die Verfolger? Was für eine Rolle spielen diejenigen in der Geschichte, die die Christen martern und töten?

Darauf kann man nur eine Antwort geben: Das Blut der Märtyrer macht die Zahl voll und bringt somit das Ende der Geschichte näher. Der Mord ist das frevelhafteste Eingreifen des Menschen in die Ordnung des Schöpfers, infolgedessen wird er immer vom Gotteszorn getroffen. Nachdem sich Kain wider seinen Bruder Abel erhoben und ihn getötet hatte, erschien Gott und sprach zu ihm: „Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit auf zu mir von dem Erdreich" (Gn 4, 10). Und dieser Schrei war gleichzeitig auch eine Verurteilung und Verdammung. Er war ein Ruf nach der Strafe des Himmels, damit das der Schöpfung zugefügte Unrecht von Gott selber wiedergutgemacht wird. Deshalb ward Kain verflucht, und mit ihm zusammen noch einmal auch die Erde, die sich auftat und das unschuldige Blut hinnahm (vgl. Gn 4, 11). Das gleiche sagte Gott zu Noë, als er ihm nach der Sintflut alles zur

Speise gab, ausgenommen das Blut: „Denn das Blut eures Lebens werde ich fordern von allen Tieren und von der Hand des Menschen; von eines jeden Hand als seines Bruders werde ich fordern das Leben des Menschen" (Gn 9, 5). Und der Herr erklärte, auf welche Art und Weise er diese Forderung durchführen will: „Wer Menschenblut vergossen hat, dessen Blut wird vergossen werden" (9, 6). Doch am merkwürdigsten ist die Begründung dieses unerbittlichen Gesetzes, so unerbittlich, daß sogar Haustiere durch Steinigung erschlagen werden sollten, falls sie einen Menschen tödlich verletzten (vgl.Ex21,28): „Denn nach dem Bilde Gottes ward der Mensch geschaffen" (9, 6). Das Frevelhafte im Mord liegt eben darin, daß der Mörder einen konkreten Ausdruck des Gottesbildes vernichtet. Wer einen Menschen tötet, legt seine Hand nicht an eine Sache, sondern an eine Person, d. h. an das Heiligste von der ganzen Schöpfung Gottes, an das, was Gott den Herrn selbst offenbart und sichtbar ausdrückt. Dadurch aber wird auch dem Mörder das Recht abgesprochen, ein konkreter Träger des Gottesbildes auf Erden zu sein. Er soll gleichfalls sterben, denn er ist nicht mehr der Hüter seines Bruders; im Gegenteil, durch seine mörderische Tat will er sich zum Richter über das Dasein und zum Herrn des Lebens erheben5. Er will das werden, was in Wirklichkeit nur Gott ist. Er reißt die göttlichen Rechte an sich und wird somit zum Usurpator der Stellung Gottes im Dasein. Deshalb fordert Gott von ihm das Blut seines Bruders, denn Gott läßt weder seiner noch seines Ebenbildes spotten6.

Hat aber nicht Christus dieses Gesetz widerrufen? Hat er nicht gesagt: „Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Aug um Aug, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen, sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin . .. Liebet eure Feinde ..., betet für die, welche euch verfolgen ..." (Mt 5, 38—44.) Gewiß, das Gesetz der Rache, die von Menschen ausgeübt werden sollte, hat Christus verworfen. Doch er hat nicht den einst von Gott gegen die Mörder geschleuderten Bannfluch aufgehoben. Christus leugnet nicht die Strafe für den Mord, sondern nur das Recht, diese Strafe auf menschliche Art und Weise zu vollziehen. Der Vollstrecker einer Strafe für vergossenes Blut soll im Neuen Bunde nicht mehr der Mensch, sondern Gott allein sein. Im Alten Testament überließ Gott die Blutrache dem Menschen: „Der Nächstverwandte des Ermordeten soll den Mörder töten" (Nm 35, 19). Im Neuen Testament dagegen behält er sich das Recht der Rache unmittelbar vor. Durch seine Erlösungstat hat Christus die Menschheit zu seinem mystischen Leibe und sich selbst zum Haupt dieses Leibes gemacht. Jeder einzelne Mensch nimmt daher nur als Glied daran teil und ist deshalb Christus unterworfen, nicht nur als dem Gott, sondern zugleich als dem Menschen. Die verklärte Menschlichkeit Christi ist die oberste Norm und das regierende Prinzip aller menschlichen Akte der einzelnen Glieder seines Leibes. Er selbst leitet und ordnet ihre Beziehungen untereinander. Er richtet über sie, denn ihm „ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden" (Mt 28, 18). Infolgedessen ruft auch das vergossene Blut jetzt zu Christus auf. Der Schlag gegen das konkrete Ebenbild Gottes ist im Neuen Bunde auch ein Schlag gegen den Gottmensch selbst, der ja unser Haupt ist. Jeder Mörder verletzt jetzt nicht nur seinen Bruder, sondern gleichzeitig auch Christus, in dem der Bruder sein Dasein führt, den er in sich trägt und durch sich ausdrückt. Folgerichtig behält sich Christus selbst vor, diesen Frevel zu bestrafen, ohne das Recht dazu in die Hände der Menschen zu verlegen, wie es im Alten Bunde gewesen ist.

Gerade hierin aber liegt die schicksalsschwere Bedeutung der Kirchenverfolgungen für die Weltgeschichte. Das Blut der Märtyrer, indem es zum Himmel schreit, bittet Christus unablässig, diesem Sakrileg, diesem Mordanschlag auf die Glieder seines mystischen Leibes Einhalt zu gebieten. Die Kirchenverfolgungen kürzen die Weltgeschichte — das ist ein Gesetz, das die Menschheit allzu leicht vergißt, das aber seine unabänderliche Folgerichtigkeit aufrechterhält. Solowjew erzählt uns, daß man, während der falsche Prophet Apollonius seine „wunderbaren" Zeichen im Tempel für die Vereinigung aller Kulte demonstrierte, „zahllose feine und durchdringende Stimmen" vernahm, die „unter dem Kubbet-el-Aruach, d. h. der Kuppel der Seelen", schrien: „Die Zeit ist gekommen, laßt uns frei, ihr Erlöser, Erlöser!" Das ist keine Zusammendichtung Solowjews. Das ist die Idee der Offenbarung selbst, nur in ein paar konkrete Bilder eingekleidet. Der hl. Johannes, während er die Öffnung der sieben Siegel schildert, sagt: „Und da das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altare die Seelen derer, die hingeschlachtet waren um des Wortes Gottes und des Zeugnisses willen, das sie festhielten. Sie riefen mit lauter Stimme: Wie lange noch, о heiliger und wahrhaftiger Herr, willst du nicht richten und unser Blut nicht rächen an den Bewohnern der Erde?" (Offb 6,9—10.) Das von Solowjew in seiner Erzählung erwähnte unterirdische Lärmen ist gerade ein Symbol für den Ruf der Märtyrer zum Lamm. Und dieser Ruf ist nicht erfolglos.

Die Frage der Seelen unter dem Altare wird beantwortet: „Es wurde ihnen gesagt, sie sollen nur kurze Zeit sich gedulden, bis die Zahl ihrer Mitknechte und ihrer Brüder vollendet sei, die noch getötet werden sollen wie sie" (6, 11). Das heißt: Das Gericht und die Strafe für das vergossene Blut wird sicher kommen. Der Herr wartet nur „noch kurze Zeit", bis die Zahl vollendet ist, und jeder Tod um des Zeugnisses willen bringt diese Zahl ihrer Vollendung entgegen. Zwar weiß niemand, wessen Blut zuletzt in den mystischen Becher des Lammes tropft, eines aber ist klar: je blutiger die Verfolgung der Kirche ist, um so eiliger schreitet die Geschichte ihrem Ende zu. Im Lichte der Kirchenverfolgungen offenbart sich also das

Ende der Geschichte nicht als etwas Zufälliges, als etwas rein Natürliches — sagen wir: eine kosmische Katastrophe —, sondern als das direkte Eingreifen Christi, um das weitere Vergießen des unschuldigen Blutes seiner Glieder zu verhindern. Die Geschichte, die den Erlöser selber getötet und mit dem Blut seiner Heiligen das von Gott bestimmte Maß vollgemacht hat, wird durch das Gericht unterbrochen. Die Unterbrechung des Frevels ist der eigentliche Abschluß der Zeiten. Damit werden die uranfänglichen Worte Gottes endgültig in die Tat umgesetzt: „Das Blut eures Lebens werde ich fordern" (Gn 9, 5). Das Ende der Geschichte ist eine solche Forderung, nicht aber von der Hand des Einzelnen mehr, wie es Christus im Laufe der Jahrhunderte tut, sondern von der gesamten Menschheit; ebenso nicht für den einzelnen Märtyrer, sondern für die gesamte verfolgte Kirche. Einen schweren Fluch nimmt also jedes Volk auf seine Schulter, wenn es die Zahl der um des Zeugnisses willen Hingeschlachteten in seiner Geschichte vergrößert. Die Glieder des mystischen Leibes Christi töten heißt seine eigene Geschichte töten. Ein apokalyptischer Sinn liegt den Verfolgungen der Kirche zugrunde, ein Sinn, der viel tiefer und bedeutsamer ist als der der anderen Taten des Widerparts Christi.

3.

DER GROSSE ABFALL

Durch die unablässige Verbannung der Kirche in die Wüste und durch die blutigen Verfolgungen werden viele Christen so stark eingeschüchtert, daß sie sich von Christus lossagen, um ihren Frieden von der Welt zu erkaufen. Manch einer wird in dem rastlosen Ringen müde und vertauscht das Schwert Jesu gegen ein ruhiges Dasein. Manch einer gehorcht der scheinbar weitherzigen Einladung des Antichrist, geht zu ihm und setzt sich in den Schatten seines Thrones. Der Abfall von Christus ist daher eine unausbleibliche Begleiterscheinung auf dem geschichtlichen Weg der Kirche. Und je ungestümer das Wüten des Antichrist wird, desto größeren Umfang nimmt auch der Abfall an. Da aber der Kampf des Tieres gegen das Lamm im Lauf der Geschichte beständig zunimmt und sich gegen das Ende der Zeiten besonders verschärft, so wird auch der Abfall zu einem Hinweis, daß der Abschluß des geschichtlidien Prozesses bevorsteht. Die Offenbarung hält den Abfall von Christus für ein so bedeutungsvolles Zeichen, daß sich aus ihm wie aus dem weißschimmernden Korn auf dem Felde erkennen läßt, ob „die Stunde zum Ernten" (Offb 14, 15) gekommen ist. Als deshalb unter den Thessalonichern falsche Propheten auftauchten und predigten, „der Tag des Herrn sei schon angebrochen" (2 Thess 2, 2—3), warnte der hl. Paulus die Gemeinde davor, denn „zuvor muß der Abfall kommen" (2, 3), und erst dann wird der Gottessohn in seiner Herrlichkeit erscheinen. Es gab zwar auch zur Zeit der Apostel Abtrünnige. Derselbe Paulus ermahnte die Philipper, sich „in keinem Stücke" (1, 28) von den Widersachern abschrecken zu lassen, sondern „fest am Worte des Lebens zu halten" (2, 16). Die Gefahr, sich den Versuchungen der Welt zu ergeben und daher die erste Liebe zu verlieren, ist in der christlichen Existenz immer gegenwärtig und droht selbst den Heiligen auf der höchsten Stufe der Vollkommenheit. Doch wegen dieser allgemeinen Gefährdung während der irdischen Pilgerschaft kann man noch nicht von dem apokalyptischen Abfall sprechen, von einem Abfall, der als ein klares Zeichen auf das bevorstehende Ende der Zeiten hindeutet.- Solange dieser Abfall nicht zum Vorschein kommt, bedeutet jede Prophezeiung des nahen Abschlusses der Geschichte nur eine Täuschung. Tritt aber dieser Abfall ein, so müssen sich die Christen an die Worte Jesu erinnern: „Vom Feigenbaum lernet das Gleichnis: wenn sein Zweig schon zart wird und die Blätter hervorsprossen, dann wißt ihr, daß der Sommer nahe ist. So sollt auch ihr, wenn ihr all dies seht, erkennen, daß es dicht vor der Türe steht" (Mt 24, 32—33). Die Aufgabe der Geschichtstheologie ist es deshalb, zu ergründen, worin das Wesen dieses Abfalls besteht und welche Bedeutung er für die Kirche hat.

Auf zweierlei Art und Weise kann man von Gott abfallen: durch das Leugnen und durch das Vergessen. Beide entfernen den Menschen von Gott, beide machen ihn zum Gottlosen, in ihren konkreten Erscheinungen aber sind sie von Grund auf verschieden. Es fragt sich deshalb, welche von diesen Grundformen der Gottlosigkeit das Wesen des apokalyptischen Abfalles ausmachen wird. Wird das Leugnen oder das Vergessen Gottes die Geschichte vor den Gerichtsthron Christi stellen?

Der Leugner ist im Wesen ein Kämpfer gegen Gott sowohl im Inneren der Seele als auch im Äußeren des objektiven Lebens. Er versucht Gott aus dem Sein selbst zu vertreiben, er will sich unabhängig gebärden und dieser Unabhängigkeit sichtbare Gestalt verleihen. Der Leugner Gottes ist daher sein tiefer Feind, sein Widersacher, sein Rivale im Dasein. Jedoch gerade mit dieser Feindschaft und Rivalität erkennt er Gott als Wirklichkeit am anschaulichsten an. Der Mensch, der Gott den Kampf ansagt, beweist unwiderlegbar, daß Gott seine größte, ja alleinige Daseinssorge ist, daß er seinem Sein am nächsten steht und es am schmerzlichsten berührt. Der Kampf gegen Gott ist nur dann verständlich, wenn Gott als Person begriffen und erlebt wird, aber als eine Person, die nicht irgendwo in unerreichbaren Sphären verschwindet und in keiner Beziehung zur Welt steht, sondern die sich unmittelbar vor den Kämpfer stellt und ihn zur Unterwerfung auffordert. Der Kampf gegen Gott setzt im Grunde die personale Auffassung seines Wesens und die existentielle Beziehung zu seinem Dasein voraus. Daher ist der Kämpfer gegen Gott kein Atheist im wahren Sinn des Wortes, ebensowenig wie der Teufel Atheist ist. Der Kämpfer gegen Gott ist ein Prometheus, der die göttliche Ordnung ablehnt, um seine eigene an deren Stelle zu setzen. Er will sich absichtlich gegen das ewige Gesetz vergehen und die Schuld bzw. die Strafe dafür auf sich nehmen, ohne Reue darüber zu empfinden und Buße dafür zu tun. „Ich wollte, ja ich wollte die Vergehen, und ich werde es nicht leugnen", sagt der Prometheus des Aischylos und drückt damit die innerste Stimmung eines jeden Kämpfers gegen Gott aus. Diese aber ist kein Bekenntnis einer Sünde, um dadurch Vergebung zu erflehen; sie ist eher ein tiefer Stolz auf die begangene Tat. Demzufolge erwidert Prometheus dem Hermes, der ihn zu bewegen sucht, sich dem Willen des Gottes Zeus zu beugen: „Belästigst mich vergeblich, gleich als redetest du einer Welle zu. Niemals soll dir der Gedanke kommen, daß aus Furcht vor seinem Plan ich weibischen Sinnes würde und den tief Verhaßten (Zeus; d. Verf.) nach Frauenart mit flehenden Händen bitten werde, zu lösen mir die Fesseln hier. Das fehlt mir ganz."7 Es sind Worte, die jeder kämpfende Geist an Gott richtet. Der Mensch der prometheischen Haltung fühlt sich groß und mächtig genug, um, wenn auch nicht die Natur Gottes, so wenigstens seine geschaffene Ordnung anzugreifen und zu zerstören. „Kann ich sie (die Natur; d. Verf.) nicht in Trümmer zersplittern", sagt Konrad in der „Totenfeier" von Adam Mickiewicz, „doch werde ich all deine Reiche erschüttern."8. Daher sind Entstellung und Vernichtung der Schöpfung, Verfolgung der Kirche, Tötung der Anhänger Christi konkrete Erscheinungen der kämpferischen Einstellung Gott gegenüber.

Der Abfall von Gott durch das Vergessen vollzieht sich auf einem gerade entgegengesetzten Weg. Der Mensch dieser Haltung kämpft nicht gegen Gott, er vergißt ihn einfach. Es wird ihm ganz gleichgültig, ob Gott existiert oder nicht, ob er in irgendeine Beziehung zur Welt tritt oder nicht, ob er väterlich für das Sein sorgt oder sich verächtlich von ihm zurückzieht. Der Gottesgedanke übt keinen Einfluß auf das Dasein eines derartigen Menschen und bestimmt auf keinerlei Weise seinen Geist und sein Werk. Gott ist diesem Menschen nicht mehr Wirklichkeit. Vielleicht ist er ein Traum, eine bereits überholte Überlieferung, eine psychische Projektion unserer unerfüllten Begierden und Wünsche — er weiß es nicht, ja er kümmert sich überhaupt nicht darum. Der vergessende Mensch geht an Gott vorbei. Er ist mit der sichtbaren Wirklichkeit durchaus zufrieden und richtet sich für immer in ihr ein. Das Diesseits hält er für einen einzigen Daseinsraum. Haben wir den kämpfenden Menschen den Prometheus genannt, so müssen wir den vergessenden Menschen den Bourgeois nennen, dessen Wesen gerade im Aufgehen in der Welt, im Sichverlieren in der Alltäglichkeit, in jenem berühmten Heideggerschen ,man' besteht. Da aber die Alltäglichkeit wie ein dichter Schleier alles Transzendente verhüllt, verliert der Bourgeois die Richtung im Dasein, verstrickt sich ins Ordinäre und geht deshalb an allem Göttlichen vorbei, als ob es überhaupt nicht bemerkbar wäre. Greift der kämpfende Mensch jede konkrete Erscheinung des Religiösen an, so schenkt der vergessende Mensch all dem keine Aufmerksamkeit. Die kalte Gleichgültigkeit Gott gegenüber zeichnet den Abfall durch das Vergessen existentiell aus.

Welche von diesen Grundformen des Abfalls von Gott könnte also die obengenannte apokalyptische Bedeutung haben? Welche von ihnen hat der hl. Paulus im Sinne, wenn er die Thessa-lonicher auf den Abfall als auf ein Zeichen des bevorstehenden Endes der Geschichte hinweist?

Einen guten Wink zur Lösung dieser Frage gibt uns eben Solowjew, indem er die Lage der Christenheit am Vorabend des Weltendes schildert. Bereits am Anfang seiner Erzählung erwähnt er, daß trotz des endgültigen Zusammenbruchs des theoretischen Materialismus „die gewaltige Mehrheit der denkenden Menschen überhaupt ungläubig" blieb. Später, wenn er die Vorbereitungen zum Weltkonzil der Kirchen beschreibt, stellt er eine beträchtliche Verringerung der Anhänger Christi fest, so daß es damals auf der ganzen Erde „nur noch 45 Millionen Christen" gab. Damit will uns Solowjew offenbar darauf hinweisen, daß der apokalyptische Abfall von Gott massenhaft ist. Genügend Grund zu einer solchen Deutung des Abfalls hat er gewiß in der Offenbarung selbst gefunden. Als der hl. Johannes das Tier aus dem Meere auftauchen sah, erfuhr er gleichzeitig, daß „die ganze Welt" über das Tier staunte, weil der Drache ihm „eine gewaltige Macht" verliehen hatte: eine Macht „über alle Stämme und Völker, Sprachen und Länder" (Offb 13, 2—8). In einer anderen Vision, als er sah, wie „der Satan aus seinem Kerker befreit" wurde und die Völker zum Krieg gegen Christus sammelte, erblickte der hl. Johannes plötzlich ein unzähliges Heer des Antichrist: „Ihre Zahl ist wie der Sand am Meere" (20, 7—9). Das Heer des Tieres, das dieses „gegen den, der auf dem Roß saß" (19,19), ins Feld stellte, war eine gewaltige Masse. Und gerade kraft ihrer Zahl rückte diese Masse „herauf zur Hochebene der Erde" und umzingelte „das Lager der Heiligen" (20, 9). Der Sieg des Antichrist über das Lamm in der irdischen Wirklichkeit erfolgt nicht nur durch Lüge und Täuschung, sondern auch durch die überaus große Zahl seiner Anhänger. Ist es aber so, dann erscheint der apokalyptische Abfall von Gott nicht mehr als eine rein private Angelegenheit einzelner Personen, sondern als ein öffentliches Problem der gesamten Menschheit und ihrer Geschichte. Der Abfall ist ein Zeichen des bevorstehenden Endes nur deshalb, weil er zur Massenerscheinung wird. Verringert sich einmal die Zahl der Anhänger Christi bis zu einer unbedeutenden Minderheit, und wird die Zahl der Anbeter des Drachens dagegen „wie der Sand am Meere", dann geht die Prophezeiung des Apostels, daß „zuvor der Abfall kommen muß", in Erfüllung.

Hierin liegt aber auch — so scheint es uns — der Schlüssel dazu, das Wesen des apokalyptischen Abfalls zu verstehen. Geschieht der Abfall, wenn er apokalyptische Bedeutung hat, massenweise, so kann er nicht das prometheische Leugnen, sondern nur das bourgeoise Vergessen Gottes sein. Allerdings bleibt der Kampf gegen Gott im Laufe der Zeit ebenso fortdauernd. Er hört nie gänzlich auf. Es erstehen immer Nachfolger des Sau-lus, die „voll Wut und Mordlust gegen die Jünger des Herrn" vorgehen (Apg 9,1). Doch dieser Kampf wird stets von einzelnen, und zwar starken Persönlichkeiten, nie aber von der Masse getragen. Der Kampf mit Gott ist ja in erster Linie ein inneres Ringen. Er ist eine geistige Spannung, die sich im Grübeln, Zweifeln, Leugnen, Drohen auswirkt. Äußere zerstörende Taten sind nur eine sichtbare Objektivation dieser inneren Spannung. Sie sind nur Zeichen der geistigen Verzweiflung, des Außer-Fassung-Geratens, das den kämpfenden Menschen dahin bringt, konkrete Erscheinungen des Göttlichen zu vernichten. Doch in seinem Wesen bleibt der Kampf gegen Gott trotz allem rein geistig. Wenn Konrad in der erwähnten „Totenfeier" von Mickiewicz den schweigenden Gott zur Antwort auf seine Bitte zu zwingen versucht, kennzeichnet er sehr treffend den eigentlichen Charakter dieses Kampfes: „Wisse", sagt er zu Gott, „was nicht der Gedanke zerbricht, entrinnt doch dem Feuer des Herzens nicht. Siehst du den Feuerherd, siehst du die Herzensglut? Ich häufe sie, dränge sie enger zusammen, daß mir die Flammen noch höher erflammen, schlag' sie in meines Willens Koloß, wie tödlich Erz ins wetternde Geschoß." Mit diesem ,Geschoß' will Konrad gegen das Reich Gottes losdonnern, jedoch nicht physisch, weil ein physischer Anschlag gegen Gott keinen Sinn hätte, sondern gerade geistig, durch einen Ruf, der „weithin gellt von Geschlecht zu Geschlecht", d. h. durch eine Idee, und zwar, daß Gott nicht der Vater der Welt ist, sondern „ihr ... Zar"9. Anders ausgedrückt: der Gedanke und das Gefühl und das diese beiden tragende Wort sind Hauptmittel im Kampf gegen Gott. Man muß deshalb tiefe Gedanken haben und starke Gefühle empfinden, um diesem Kampf einen gewissen Ernst zu verleihen, sonst gerät er bald ins Lächerliche.

Aus diesem Grund ist die wahre kämpferische Einstellung des Menschen gegen Gott nie die Haltung der Massen. Der Prome-theismus ist der Menge wesentlich fremd. Die Masse ist von Natur aus bürgerlich. Sie besitzt weder große Gedanken noch starke Gefühle; sie ist banal, alltäglich und nie imstande, ausreichend Herzensglut zu erzeugen, um die Schranken der Alltäglichkeit zu durchbrechen und sich in reinere Regionen des Geistigen zu erheben. Ohne dies aber kann dem Herrn nie Kampf angesagt werden. Schreitet die Masse trotzdem dann und wann hinter ihren prometheischen Führern her und läßt sich zur Vernichtung der konkreten religiösen Erscheinungen bewegen, so tut sie es aus ganz anderen Gründen als ihre Führer. Die Menge tötet zwar Priester, vergewaltigt Nonnen, plündert und steckt Klöster und Kirchen in Brand, doch nicht deshalb, um Gott aus dem Sein zu vertreiben, wonach der kämpferische Mensch trachtet, sondern lediglich deshalb, um Rache, Habsucht und Wollust zu befriedigen. Die Masse ist nie von einer Metaphysik geleitet. Die konkret angereizten Instinkte regieren ihre Handlungen und halten die Masse zusammen. Ebben diese ab, so verliert auch die Masse ihre Kraft. Daher vermag sie nicht, von Gott durch Leugnen abzufallen. Diese Form des Abfalls ist für sie zu schwer, zu tief, zu metaphysisch. Sie fordert vom Menschen zuviel an Entschlossenheit und Beharrlichkeit, und das ist der Masse von Natur aus zuwider. Die Masse kann nur Werkzeug im Kampf gegen Gott werden, nicht aber Subjekt und Träger dieses Kampfes. Der Prometheismus entstammt nicht der Gesellschaft, sondern gerade der tiefsten Einsamkeit. Jeder Prometheus ist das Geschöpf des einsamen Daseins. In der Masse verliert der Mensch nun das Einsamsein, wird entpersönlicht, geistig entkräftet, zum Individuum gemacht, über dem die Gattung thront und sein Handeln bestimmt. Dadurch geht auch der kämpferische Charakter des menschlichen Geistes in der Masse verloren. Der Massenmensch ist kein Held mehr. Er ist fügsam und biegsam, und der Trotz, mit dem sich Prometheus so deutlich auszeichnet, ist dem Massenmenschen durchaus fremd. Mickiewcz' Konrad ringt mit Gott ebenfalls nicht in der Öffentlichkeit der Gesellschaft, sondern im Verließ des Gefängnisses in Vilnius, wo er von russischen Gendarmen eingesperrt wurde. Das Ringen des Menschen mit Gott vollzieht sich in der Einsamkeit der Seele. Daher kann es nie zu einer Massenerscheinung werden. Eine Menge von Pro-metheen ist ein Unding.

Die einzige Form, die der Abfall der Massen annehmen kann, ist das Vergessen Gottes. Es fordert vom Menschen kein Denken, kein Erleben, keine Gefühlsspannung. Im Gegenteil, es zwingt ihn gerade dazu, keine eigenen Gedanken und keine eigenen Gefühle zu haben. Die andern sollen für ihn denken und fühlen, kämpfen und leiden. Er selbst will nur seine Ruhe haben und sich in die Alltäglichkeit einhüllen, wo alles grau und eben ist, wo es keine Gipfel und keine Abgründe gibt. Die Gottesidee gehört selbstverständlich nicht dazu, denn — wir haben es schon gesagt — die Gottesidee erschüttert. Deshalb verbannt der Massenmensch sie aus seinem Dasein, nicht aber durch den Kampf, sondern dadurch, daß er sie einfach vergißt, sich um sie gar nicht kümmert, sich ihr gegenüber ganz gleichgültig verhält. Will also der Antichrist, wie erwähnt, „geologische Umwälzung" in der Geschichte der Menschheit einleiten, so vermag er dies nicht durch den Kampf zu erreichen, denn der Kampf tötet die Idee nicht, sondern nur durch die Förderung des Vergessens, der absoluten Gleichgültigkeit Gott gegenüber. Derselbe Teufel, der dem Iwan Karamasow die Theorie der „geologischen Umwälzung" unterbreitet, antwortet auf Iwans Frage: „Gibt es einen Gott oder gibt es keinen?" achselzuckend: „Ich weiß es nicht", und fügt eiligst hinzu: „Sieh, da habe ich ein großes Wort ausgesprochen."10. Fürwahr, dieses Wort ist groß, denn es ist der wahre Ausdruck der vergessenden Haltung des Massenmenschen. Der Massenmensch weiß nicht, ob Gott existiert oder nicht, er denkt überhaupt nicht daran, er lebt nicht in und durch Gott, deshalb weiß er auch nicht um seine Existenz. Die Antwort des Teufels auf Iwans Frage ist die richtige Formel für den apokalyptischen Abfall von Gott. Gegen das Ende der Geschichte vergißt die Menschheit, ob Gott existiert oder nicht.

Gerade dadurch aber erreicht sie die höchste Stufe ihrer Faktizität. Solange der Mensch noch weiß, daß Gott existiert, kann er ihn ablehnen, gegen ihn kämpfen, seine Spuren im Sein verwischen wollen, trotzdem aber steht Gott vor ihm als etwas ganz anderes, das in dieser Wirklichkeit nicht aufgeht und deshalb ihre Einzigkeit nicht bestätigt. Lebt die Gottesidee im Bewußtsein des Menschen, so kann dessen Faktizität nie vollkommen werden. Die Gottesidee ist das größte Hindernis auf dem Wege des Heimischwerdens des Menschen im Diesseits. Wenn aber diese Idee einmal in Vergessenheit gerät, dann gibt es nichts mehr, was das menschliche Dasein hienieden in Frage stellt und den Menschen selbst in seinem Innern aufwiegelt. Dann ist die Treue zur Erde gefestigt und verewigt. Das Vergessen Gottes macht die Faktizität lückenlos und die Verweltlichung der Geschichte absolut. Auf dem griechischen Areopag stand ein Altar für den unbekannten Gott, den die Griechen doch verehrten, ohne ihn zu kennen (vgl. Apg 17, 23). Wer baut aber einen Altar für den vergessenen Gott? Daher ist nicht der kämpferiche Prometheismus, sondern der bürgerliche Indifferentismus die abgeschlossene Gottlosigkeit, der A-theismus im direkten und tiefsten Sinn des Wortes. Solange der Mensch Gott leugnet und gegen ihn kämpft, ist er noch nicht A-theist, sondern vielmehr Anti-theist. Erreicht er aber einmal die Stufe der Gleichgültigkeit, weiß er nicht mehr, ob es einen Gott gibt oder nicht, dann schließt sich der Ring der Gottlosigkeit endgültig zu, so daß es keinen Ausweg mehr daraus gibt. Die Vertilgung der Gottesidee vollendet den Abfall des Menschen und wird zum Zeichen der apokalyptischen Epoche der Weltgeschichte. Wenn Gott von der Menschheit vergessen ist, bleibt ihm ja nichts anderes, als sich persönlich und unmittelbar zu zeigen. Das direkte Eingreifen Gottes in die Geschichte ist seine Antwort auf das Vergessen seiner Existenz11.

4.

LÄUTERUNG DES MENSCHLICHEN

Der Abfall der Massen von der Kirche bedeutet in sich ein schmerzliches, religiöses Drama, und je größeren Umfang er annimmt, desto tiefere Wunden schlägt er dem mystischen Leibe Christi. Jedem Verrat Jesu liegt ein Verhängnis zugrunde. Und doch ist der Abfall auch heilvoll: er erfüllt eine große läuternde Aufgabe im geschichtlichen Leben der Kirche, denn er befreit es von jenen schweren irdischen Anwüchsen, die ihm von der Masse zukommen, die aber die Kirche Jahrhunderte hindurch unentrinnnbar schleppen muß. Das Evangelium „allen Geschöpfen" zu verkündigen (Mk 16, 16), ist wohl wesentliche und dauernde Verpflichtung der Kirche. Doch je umfassender die Kirche dieser Verpflichtung nachkommt und je mehr verlorene Schafe sie heimholt, um so mehr schlechte Fische ergreift ihr Netz und um so mehr Unkraut wächst auf ihren Feldern. Zählt man Mitglieder der Kirche bereits nach Hunderten von Millionen, so besteht kein Zweifel, daß ein sehr großer Teil von ihnen sich nur dem Namen nach zum Christentum bekennt. Wenn diese nur am Gewand des Leibes Christi hängenden Mitglieder vom Antichrist eines Tages bedrängt werden, so fallen sie infolgedessen einfach von der Kirche ab, verleugnen leichten Herzens den Heiland und beteuern, sie hätten „diesen Menschen" (Mt 26, 74) nie gekannt. Damit drücken sie in der Tat eine tiefe Wahrheit aus, denn sie haben wirklich weder Christus gekannt noch nach seiner Lehre gelebt.

Doch solange sie, wenn auch nur rein formell, in der Kirche verbleiben, haben sie gewisse Rechte in ihr und stellen sogar Forderungen an sie, um von ihr gehört und erhört zu werden. Sie ersuchen stets die Kirche, ihr geschichtliches Leben so zu gestalten, wie es ihnen am besten erscheint. Die Kirche lebt unter dem ständigen Druck der Masse. Dieser Druck wird aber nicht dazu ausgeübt, um das Evangelium im Leben vollkommener zu verwirklichen, sondern um sich leichter darüber hinwegzusetzen, denn der Masse bleibt der Geist des Evangeliums immer fremd. Das Evangelium der Masse ist nur ein Bruchstück des Evangeliums Christi, nur eine Anpassung seiner Lehre an die Alltäglichkeit des Daseins. Die Masse zwingt die Kirche, das Evangelium so auszulegen, daß es das Aufgehen des Menschen in der Welt anerkennt, rechtfertigt und sogar billigt. Die inquisitorische ,Verbesserung' der Lehre Christi ist die beständige Forderung und Bestrebung der Masse. Deshalb hat die Kirche auf ihrem irdischen Pilgerweg nicht nur mit der Welt zu kämpfen, die da .draußen' steht, sondern gleichzeitig auch mit der Weltlichkeit in ihrem eigenen Schoß, denn das Auftauchen der Masse in der Religion ist noch gefährlicher als ihr Auftauchen in der Kultur. Der Zerfall des Persönlichen bedeutet hier auch den Zerfall der Religion selbst.

Es ist also ein wahres Wunder, daß Gott seine Kirche gerade durch ihren ewigen Feind vom Druck und Einfluß der Masse erlöst. Indem der Antichrist „Macht über alle Stämme und Völker, Sprachen und Länder" bekommt (Offb 13, 8), reißt er die Massen aus der Kirche heraus, vernichtet dadurch aber selbst jene für die kirchliche Sendung gefährlichen Gebilde, die eben in der Masse keimten und in ihr ihre Nahrung fanden. Nachdem die großen Massen der Kirche verlorengegangen sind, gewinnt sie ihre ursprüngliche Keuschheit und ihren heiligen Glanz zurück. Zwar erscheint sie vor den Augen der Welt arm und bescheiden, weil sie der irdischen Pracht beraubt ist. Doch innerlich kann sie deshalb „sich kleiden in reine, glänzende Leinwand" (Offb 19, 8—9) und sich als keusche Braut Christi für die Hochzeit des Lammes bereit halten. Der durch viele Versuchungen und Lockungen der Welt geschwächte Glaube bekommt die Festigkeit der ersten Pfingsten wieder, die im Laufe der Zeit vielleicht nur noch glimmende Liebe flammt von neuem auf, die vom irdischen Wohlstand beschattete Hoffnung richtet sich einzig und allein aufs Jenseits. Die Christen verharren „in der Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet" (Apg 2, 42), sie werden „ein Herz und eine Seele" (4, 32), wie es einst in Jerusalem gewesen war. Die Anwesenheit der großen Massen in der Kirche verlangt von der Kirche eine Organisierung und Technisierung ihrer göttlichen Mission. Es wird dementsprechend ein Apparat geschaffen, eine „Administration des Heiles" (P. Congar OP), die zwar notwendig und unausweichlich ist, denn die Kirche ist nicht nur eine pneumatische Heilsgemeinschaft, sondern zugleich auch eine Heilsanstalt, welche die Sichtbarkeit des in Raum und Zeit sich entfaltenden Christus trägt. Wenn jedoch dieser Anstaltscharakter der Kirdie um der Massen willen stark in den Vordergrund tritt, belastet er den mystischen Leib Christi schwer und droht sogar, das Göttliche in der Kirche durch das Menschliche in ihr zu verdrängen. All das wird durch den Abfall der Massen beseitigt. Auf eine relativ kleine Zahl von Gläubigen zurückgeführt, wird die Kirche von vielen geschichtlich-menschlichen Anwüchsen entlastet, sie erlangt von neuem ihre Freiheit in Wort und Tat, indem sie ihre Beziehung zur Welt und ihrem Fürst auf das Mindestmaß beschränkt.

In seiner Erzählung erwähnt Solowjew drei lästige geschichtliche Anwüchse, welche die Kirche durch den Abfall der Massen loswird: die Reichhaltigkeit der äußeren Formen im Katholizismus, die Unterwerfung unter die Staatsgewalt in der Orthodoxie und die negative Haltung gegenüber der christlichen Überlieferung im Protestantismus.

Die Reichhaltigkeit der äußeren Formen ist nach Solowjew die konkrete Erscheinung des Menschlichen in der römischen Kirche. Der Hof des Papstes, da er das Zentrum des gesamten katholischen Lebens bildet, ist in erster Linie mit dieser Erscheinung belastet.

Wohl waren all die Formen zu ihrer Zeit ein Opfer des Menschen für Gott den Erlöser gewesen. Der Mensch brachte sie in die Kirche hinein, um dadurch dem auferstandenen und triumphierenden Herrn die Ehre zu erweisen. Jedoch verbrannten sie nicht auf dem Opferaltar, sondern verewigten sich in der Geschichte, ohne aber ihren ursprünglichen Sinn und Geist behalten zu können. Früher oder später starben sie alle, wie auch jedes menschliche Werk, wenn es auch Gott geopfert wird, stirbt, und wurden somit zu toten Anwüchsen am Leibe Christi. Alle diese menschlichen Formen läßt Solowjew gegen das Ende der Geschichte fallen. Der päpstliche Hof, nachdem er aus Rom vertrieben worden war, fand „nach vielen Irrfahrten in Petersburg Zuflucht"12. Hier vereinfachte er sich in mancher Beziehung. „Ohne den wesentlichen und notwendigen Bestand seiner Kollegien und Offizien zu verändern", mußte er doch „den Charakter ihrer Tätigkeit vergeistigen und sein prächtiges Ritual und Zeremoniell bis auf ein Minimum reduzieren. Viele der eigentümlichen Gebräuche voll verführerischen Reizes wurden zwar formell nicht abgeschafft, kamen aber von Selbst außer Gebrauch." Es war keineswegs die Verneinung des menschlichen Beitrags zur Gestaltung des Reiches Christi. Solowjew behauptet ganz deutlich, daß der wesentlich notwendige Bestand der Kollegien und Offizien erhalten blieb. Das heißt, die menschliche Tätigkeit in der Kirche erwies sich als unumgänglich bis zum Ende der Geschichte. Doch das Papsttum ließ unwesentliche, irdische Formen und Gestalten fallen. Damit wollte Solowjew sagen, daß der menschliche Beitrag zur Gestaltung des mystischen Leibes Christi sich auf das wesentliche Minimum beschränken soll. Die Einfachheit und die äußere Armut sollen den Weg der Kirche durch Raum und Zeit bezeichnen, denn nur auf diese Weise kann sie sich von der üppig lebenden Welt unterscheiden und ihrem göttlichen Haupte ähnlich werden, das die Gestalt des kleinsten Bruders angenommen hat.

Die Geschichte aber entfaltete das Menschliche im Katholizismus viel zu künstlerisch, viel zu technisch, viel zu organisatorisch und juridisch. Der Glanz der Kirche glich beinahe dem der Welt. Damit waren die Massen selbstverständlich angezogen und zufriedengestellt. Doch im Wesen war es nicht die wahre Gestalt der Kirche, wie sie der Heilige Geist wollte. Deshalb ließ die göttliche Vorsehung zu, daß die Päpste aus der Ewigen Stadt verbannt wurden und lange Zeit durch viele Länder irrten, ohne einen Ort zu finden, wohin sie das Haupt legen könnten. Der pilgerische Charakter des Christen wurde dadurch am besten ausgedrückt und bestätigt. Die Kirche ist nicht von der Welt, deshalb soll sie nirgendwo ansässig werden, auch in den äußeren Formen und Techniken nicht. Sie soll alles überholen und alles hinter sich lassen, was ihr auf ihrem Wege nach dem Neuen Jerusalem entgegengebracht wird. Das Menschliche in der Kirche ist immer nur ein Opfer. Kein Opfer aber darf behalten werden. Es soll geschlachtet und verbrannt werden. Gegen das Ende der Geschichte verbrennt also die Kirche alles, was Könige und Fürsten, Stände und Gemeinschaften, Künstler und Meister der Eleganz auf ihren Altären dargebracht hatten, was die Masse aber bezauberte und was infolgedessen — gerade um ihretwillen — am Leben blieb. Das Fallen der äußeren Formen im Katholizismus ist dem tieferen Sinne nach das endgültige Vollziehen des geschichtlichen Opfers für Gott. Am Ende ihres historischen Weges steht die Kirche vor der Welt wie ein Pilger vor einem ansässigen Land- und Hausbesitzer. Sie steht vor ihm ohne Gold, ohne Silber, ohne Reisetasche, ohne zwei Röcke, ohne Schuhe, ohne Stab. Ist aber die Kirche die persönliche Präsenz Christi in der Geschichte, so kann es ihr nicht anders ergehen als dem Heiland selbst, der nicht nur gegeißelt und mit Dornen gekrönt, sondern auch seines Mantels und seiner Kleider beraubt wurde.

Die Unterwerfung unter die Staatsgewalt ist nach Solowjew der verhängnisvolle Anwuchs am Leibe der orthodoxen Kirche. Nach der Trennung von Rom verlor die Orthodoxie ihre Selbständigkeit und geriet in die Hände der weltlichen Herrscher. Der Staat nahm die orthodoxe Kirche in seinen Schutz und wandte politische Mittel auch in ihrem religiösen Bereich an, die, wie bereits gesagt, im Wesen Zwangsmittel sind und deshalb die Freiheit des menschlichen Gewissens stark beeinträchtigen. Die freie Entscheidung der Gläubigen war in der Orthodoxie stets von Staats wegen bedroht13. Anfangs, sagt Solowjew, strebte die östliche Kirche „nach der staatlichen Krone", später griff sie „nach dem staatlichen Schwert", und endlich war sie gezwungen, sich „mit der staatlichen Uniform" zu kleiden14. Anderseits, da der Staat immer mehr oder weniger national ist, wurde auch das Wirkungsfeld der orthodoxen Kirche von selbst lediglich auf einige Nationen beschränkt. Die Orthodoxie verzichtete praktisch auf die Universalität oder Katholizität und wurde zur lokalen Kirche vorwiegend der slawischen Völker. Vielleicht können wir eben hierin eine Antwort darauf finden, warum diese Kirche im letzten Jahrtausend fast keine Missionstätigkeit entfaltete. Die Sendung Christi, sein Evangelium nicht nur den Brüdern Slawen, sondern allen Geschöpfen zu predigen, verkümmerte in der Orthodoxie bis zur Unkenntlichkeit. Die Beeinträchtigung des Gewissens und die Vernachlässigung der universalen Sendung waren also Folgen des Sichversklavens an die staatliche Gewalt. Deswegen läßt Solowjew gegen das Ende der Geschichte den Schutz des Staates über die Orthodoxie fallen. Die offizielle Stellung der russischen Kirche hat sich „infolge der politischen Ereignisse grundlegend verändert". Die Orthodoxie verlor „viele Millionen ihrer scheinbaren, nominellen Glieder"; sie wurde mit der gesamten, stark zusammengeschrumpften Christenheit vom Antichrist verfolgt und in die Wüste verbannt. Darin aber sieht Solowjew gerade die Erneuerung dieser Kirche. „Ohne zahlenmäßig zu wachsen, wuchs diese erneuerte Kirche doch in der Kraft des Geistes." Ihr Führer auf dem Weltkonzil entlarvte den Antichrist, erlitt den Martyrertod, wurde vom Gottesgeist auferweckt und führte die Orthodoxie in die einst verlassene Mutterkirche Roms zurück.

Die Aufhebung des staatlichen Schutzes über die Kirche bedeutet keineswegs die Laizisierung des Staates selbst, wie es der Liberalismus des 19. Jahrhunderts getan hat. Damit will Solowjew nur sagen, daß der Schutz des Staates über das Evangelium keine Forderung des Heiligen Geistes, sondern nur eine geschichtliche Entwicklung des Menschlichen in der Kirche Christi ist. Manche Christen ermüden vom Ringen mit der Welt und gehen dann zu ihren Herrschern, um ihre göttliche Aufgabe mit diesen zu teilen. Sie vergessen den wesentlichen Unterschied von Kirche und Staat, den Papst Leo XIII. mit folgenden Worten ausgedrückt hat: „Gott hat die Sorge für das Menschengeschlecht unter zwei Gewalten verteilt: unter die kirchliche und die staatliche. Die eine ist über die göttlichen, die andere über die menschlichen Angelegenheiten gesetzt. Jede der beiden Gewalten ist in ihrem Bereich die höchste, jede hat aber auch ihre gewissen Grenzen, die ihr durch ihre Natur und ihren nächsten unmittelbaren Zweck gezogen sind. So wird jede wie von einem Kreis umschrieben, innerhalb dessen ihre Tätigkeit gemäß eigenen Rechts verläuft." 15 In der Geschichte der Orthodoxie waren diese Kreise zu stark ineinandergeraten. Läßt Solowjew sie durch das Fallen des staatlichen Schutzes über die Kirche auseinandergehen, so besagt er damit nur, daß die Selbständigkeit der apostolischen Sendung sogar in dem Fall erhalten werden soll, wenn der Staat sich auch bereit hält, die kirchliche Tätigkeit durch sein Schwert zu unterstützen, ja sie zu fördern und zu verteidigen. Die Antwort Jesu auf die Tat des Petrus im Garten von Gethsemani: „Stecke dein Schwert in die Scheide" (Jo 18, 11), ist zugleich auch die Antwort auf jeden Wunsch der Christen, ihre Grundsätze durch politische Zwangsmittel verwirklicht zu sehen. Gegen das Ende der Geschichte steckt der Staat das Verteidigungsschwert tatsächlich in die Scheide, um das andere herauszuziehen: das Schwert der Verbannung und der Verfolgung.

Das Menschliche im Protestantismus äußert sich nach Solowjew besonders in der negativen Haltung gegenüber der christlichen Uberlieferung. Wohl erkennt Solowjew „das Verdienst des Protestantismus", das in der steten Behauptung des Prinzips der Freiheit und der Unantastbarkeit des persönlichen Gewissens besteht, an16, deshalb schreibt er ihm eine wichtige heilsgeschichtliche Rolle zu, und zwar: die freie Antwort des Menschen auf den göttlichen Ruf in der Geschichte zu bewahren und durchzuführen. Anderseits übersieht Solowjew jedoch nicht, daß die ablehnende Haltung des Protestantismus gegenüber der Uberlieferung ihn von der christlichen Vergangenheit abschneidet, seine eigene Vergangenheit vernichtet und ihn somit zu einem wesentlich unhistorischen religiösen Phänomen macht. Niemand kann freilich bestreiten, daß die persönliche, dem Gewissen entstammende Entscheidung die nächste Norm für die subjektiven Akte des Menschen ist. Doch es ist leicht einzusehen, daß diese Norm ihrem Wesen nach a-historisch ist. Sie ist von Natur aus individuell und kann sich daher nie in den geschichtlichen Gebilden objektivieren, eine Gemeinschaft im Glauben bilden und sich zu einer objektiven, alles umfassenden Norm entwickeln. Die subjektive Norm sondert die Menschen voneinander ab, weil jeder von ihnen sein persönliches, von seinem Gewissen gestaltetes Leben unwiederholbar und unübertragbar führt. Die eigentlichen Träger der Geschichte sind aber nicht die Einzelnen, insoweit sie Individuen, d. h. inkom-munikable Substanzen sind, sondern dit Gemeinschaften als Mitseinsformen der freien Personen. Stützt sich also eine Konfession ausschließlich auf die subjektive Norm des persönlichen Gewissens, so vermag sie nie eine echte Gemeinschaft zu bilden und damit zu einem der Träger der religiösen Geschichte zu werden. Sie kann höchstens eine Gesellschaft sein, wenn wir uns hier an den von Tönnies eingeführten Unterschied von Gemeinschaft und Gesellschaft erinnern. Daher ist die negative Haltung des Protestantismus gegenüber der christlichen Überlieferung keine zufällige Erscheinung, sondern sie liegt in seinem Wesenscharakter selbst begründet. Sie ist nur logisch notwendige Folgerung aus der subjektiven Norm des Gewissens, das bereits die Tendenz zum Ahistorischen in sich selbst birgt. Anderseits sind die bemerkenswerten Leistungen der protestantischen Forscher auf dem Gebiete der Geschichtswissenschaft eine unbewußte Unternehmung, die wesenhafte Geschichtslosigkeit ihrer Konfession durch die starke Zuwendung zur Geschichtswissenschaft zu überdecken, vielleicht sogar zu überwinden. Trotzdem aber verzichtete der Protestantismus endlich auf diese negative Haltung, fand somit den Weg zur Geschichte und zugleich auch zur römischen Kirche. „Nach der Vereinigung eines beträchtlichen Teiles der anglikanischen mit der katholischen Kirche", schreibt Solowjew, „befreite er sich von seiner extrem negativen Tendenz, deren Anhänger offen übergingen zum religiösen Indifferentismus und Unglauben." Die Ablehnung der Überlieferung mündete im Laufe der Geschichte in die Ablehnung jeglicher Religion. Das war die Endphase des alten protestantischen Weges. „Nur die wahrhaft Gläubigen blieben in der evangelischen Kirche." Diese aber verließen den alten und fatalen Weg. Sie vereinigten „umfassende Gelehrsamkeit mit tiefer Religiosität" und strebten „immer stärker danach, in sich „ein lebendiges Abbild des echten Urchristentums neu erstehen zu lassen". Im Urchristentum fand der Protestantismus endlich auch den Zugang zum Papsttum. In der Wüste von Jericho drückte Professor Pauli, der Führer der evangelischen Kirche, dem Papst Petrus die Hand und sagte: „Tu es Petrus, jetzt ist es gründlich erwiesen und außer jeden Zweifel gesetzt." Dies geschah jedoch nicht deshalb, weil die von den Protestanten so eifrig getriebene Geschichtswissenschaft den Primat rationell bewiesen hätte, sondern weil der Papst im Konzilssaal den Antichrist durch das dreifache Anathema aus der Kirche ausstieß und dafür den Martertod erlitt. Als unerschütterlicher Fels der Kirche fungierte er bis zum Ende, wurde deshalb vom Gottesgeist zum Leben erweckt und setzte somit seine göttliche Berufung, die Gesamtkirche zu leiten, „außer jeden Zweifel". Der von Professor Pauli erwähnte Beweis ist nicht profan, er ist keine Offenbarung des Fleisches oder des Blutes, sondern Offenbarung des Vaters im Himmel (vgl. Mt 16, 17). Sinnvoll läßt also Solowjew den Professor Pauli die Worte Christi selbst wiederholen: „Tu es Petrus" (Mt 16, 18), und will damit betonen, daß der heilsgeschichtliche Weg den Protestantismus zum Katholizismus zurückführt. Die Erneuerung des Abbildes des echten Urchristentums stellte im Protestantismus das ihm einst verlorengegangene religiöse Mitsein wieder her und gliederte ihn in die Gesamtkirche ein, in deren Zentrum der Papst als Träger und Ausdruck der objektiven Norm steht. Das Menschliche in der evangelischen Kirche fand sich endlich dadurch zurecht, daß es sich von der höheren Gemeinschaft des mystischen Leibes Christi überwölben ließ, in der nicht nur das persönliche Gewissen, sondern zugleich auch das ewige Gesetz des Seins Geltung hat.

Der große Abfall erweist sich also nicht nur als ein schmerzliches religiöses Drama, sondern auch als ein reinigender Faktor im geschichtlichen Leben der Kirche. Menschlich betrachtet, ist er gewiß bedauernswert, doch im Lichte der Geschichtstheologie bedeutet er zweifellos einen Sieg des Lammes über den Drachen. Trotz der kleinen Zahl ihrer Anhänger kämpft die Kirche unablässig weiter und siegt am Ende, denn ihre Stärke besteht nicht im natürlichen Quantum, sondern im übernatürlichen Wert. Die Zaubermacht der Zahl ist der Bestandteil des antichristlichen Reiches. Im Reidie Christi hat sie keine entscheidende Bedeutung. Das Evangelium ist die Lehre von der Qualität, nicht von der Quantität. Ein Heiliger bedeutet hier viel mehr als tausend Laue, die Gott aus seinem Munde auszuspeien beginnt (vgl. Offb 3, 16). Die Versuchung der Zahl, der zu erliegen viele Christen bereit sind17, wird durch den großen Abfall endgültig überwunden. Angesichts der apokalyptischen Apostasie wird es unwiderlegbar klar, daß die Kirche fürwahr nicht durch die menschlichen, von der Geschichte gebildeten Anwüchse stark ist, sondern ausschließlich „durch des Herrn, unseres Gottes, Namen" (Ps 19, 8).

5.

RÜCKKEHR ZUM ANFANG

Des äußeren Glanzes beraubt und der Mehrheit ihrer Söhne verlustig, verändert sich die Kirche nicht nur in ihrem geschichtlichen Aufbau, sondern auch in ihrem inneren Leben selbst. Sollten wir dieser Veränderung einen Namen beilegen, so könnten wir sagen: die Kirche kehrt zu ihrem Anfang zurück. Gewiß, das ist keine Rückkehr im Sinne des Raumes oder der Zeit. Gegen das Ende der Geschichte ist die Kirche bereits zu einem großen Baum geworden, in dessen Zweigen die Völker und Kulturen der Erde ihre Wohnung gefunden haben. Es ist ihr deshalb unmöglich, sich in den ursprünglichen Zustand des kleinen Senfkorns zu versetzen und die ungeschiedene Urgestalt wieder anzunehmen. Jede Rückbildung des Organischen — die Kirche ist ja etwas Organisches — ist ausgeschlossen. Doch es ist wohl möglich, die frühlinghafte Lebenskraft des Senfkorns von neuem in sich strömen zu fühlen; eine Kraft, die das Alte wegspült und alles ins Neue verwandelt. Lesen wir in der Apostelgeschichte: „Sie verharrten in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet. Große Furcht kam über alle Seelen. Viele Wunder und Zeichen geschahen durch die Apostel ... Alle Gläubigen hielten zusammen und hatten alles gemeinsam ... Sie lobten Gott und waren beliebt beim ganzen Volke ... Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele ... Und große Gnade ruhte auf ihnen allen" (2, 42—47; 4, 32—34) — lesen wir dies, so spüren wir einen gewaltigen Hauch des Heiligen Geistes, der das kleine Senfkorn, das kleinste unter allen Samenkörnern, zum Wachstum treibt, seine Möglichkeiten entfaltet und seine Gestalt formt. Gerade in diesem Sinne kann man von der Rückkehr zum Anfang sprechen: zum heiligen Enthusiasmus der gläubigen Gemeinschaft, zum Geist des Opfers und der Liebe, zum Gottvertrauen, zur Abkehr von der Welt, zur Hingabe an die Sakramente und ans Gebet. Die Göttlichkeit der Kirche bricht dann sichtbar durch und verwandelt nicht nur die einzelne Seele, wie dies im Dasein der Heiligen der Fall ist, sondern auch die ganze Gemeinschaft in den lebendigen Tempel des Heiligen Geistes. Die Rückkehr zum Anfang ist im Leben der Kirche nichts anderes als die sichtbare Erscheinung der göttlichen Urkraft.

Diese Erscheinung wird aber erst dann möglich, wenn das Menschliche in der Kirche in den Hintergrund zurücktritt. Die Kirche ist, wie gesagt, das Gottmenschentum, d. h. die Vereinigung Gottes mit dem Menschen in Jesus Christus und durch ihn auch mit der Menschheit, ja mit dem ganzen Kosmos. Die Kirche ist in ihrem Wesen kosmisch: allumfassend, katholisch im tiefsten und ursprünglichen Sinn des Wortes. Daher kann sie weder eine rein pneumatische Gemeinschaft sein, in der nur Gott ohne Rücksicht auf menschliche Gebilde waltet, noch eine rein kulturelle Institution, in welcher der Mensch allein der Herrscher ist. Die Kirche ist Christus, deshalb göttlich und menschlich, pneumatisch und kulturell, himmlisch und irdisch zugleich. Sie ist nicht nur die keusche Braut des Lammes, sondern auch eine fehlerhafte Schöpfung der Völker. Der menschliche Bestandteil der Kirche ist ihr ebenso wesentlich wie die menschliche Natur der Person Jesu. Dieser Bestandteil jedoch altert und verkümmert; er ist allen Gefahren der Sünde, des Irrtums, der Erschöpfung ausgesetzt. Der große Baum wird im Lauf der Jahrhunderte von Schlinggewächsen umwunden, hie und da sogar überwuchert. Das menschliche Gesicht des Leibes Christi wird runzelig und zerfurcht. Die Kirche, insoweit sie eine menschliche Schöpfung ist, teilt das Los der Vergänglichkeit mit allen anderen diesseitigen Werken. Doch die Göttlichkeit in ihr bleibt ewig jung und mächtig. Sie bleibt dieselbe wie auch am ersten Pfingsttag. Und siehe, gerade gegen das Ende der Geschichte siegt die göttliche Jugend der Kirche über ihr menschliches Alter. Die göttliche Urkraft, welche die Kirche aus der engen Dachkammer in Jerusalem in die weite Welt hinausführte, erscheint sichtbar am Abschluß ihres langen historischen Weges, um die Gläubigen für den entscheidenden Kampf mit dem Drachen zu stärken.

Durch zwei symbolische Bilder drückt Solowjew die Rückkehr der Kirche zu ihrem Anfang aus: durch die sinnvolle Anwendung der Namen von Petrus, Johannes und Paulus und durch die Wiedervereinigung der Kirchen in der Wüste von Jericho. Wie wir bereits wissen, führten zu dem vom Weltherrscher zusammengerufenen Kirchenkonzil in Jerusalem der Papst Petrus die Katholiken, der Starez Johannes die Orthodoxen und der Professor Pauli die Protestanten. Alle drei Führer blieben Christus treu und wiesen die verführerischen Gaben des Kaisers zurück. Der Papst Petrus und der Starez Johannes bezahlten ihren Mut mit dem Leben, der Professor Pauli wurde in die Wüste verbannt. Die letzten Führer der Christenheit und Kämpfer gegen den Antichrist tragen also bei Solowjew die Namen der drei Apostel Christi. Ohne Zweifel hat Solowjew diese Namen absichtlich gewählt, denn sie bedeuten in Wirklichkeit nicht nur drei Jünger Jesu, drei menschliche Persönlichkeiten, sondern zugleich auch drei Grundsätze, die das gesamte Leben der Kirche regieren und es in seinem geschichtlichen Verlauf stets lenken. Seien diese Grundsätze in der Geschichte auch noch so verdunkelt, sie kommen am Ende in ihrem klaren Glanz ans Licht.

Was bedeutet Petrus in der Kirche? Gewiß den Felsen, auf den Christus seine Kirche, d. h. seine eigene Entfaltung in Raum und Zeit, baut (vgl. Mt 16,18). War aber Petrus aus sich heraus ein Fels? War er felsenfesten Charakters von Natur aus, so daß die Verheißung Christi nur eine Fortsetzung der natürlichen Anlage sein sollte? Weit entfernt davon! Keiner von den Aposteln Christi war so unstandhaft wie Petrus. Als Christus ihn am Galiläischen Meer erblickte und zu sich lud, indem er ihm versprach, ihn zum Menschenfischer zu machen, zögerte Petrus zwar keinen Augenblick, dieser Einladung Folge zu leisten. Sofort verließ er seine Netze und folgte Christus nach (vgl. Mk 1, 16—19). Doch nach einiger Zeit erkundigte er sich bei seinem Meister: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was wird uns also dafür zuteil werden?" (Mt 19, 27.) Als Petrus am Vorabend des Leidens Jesu von ihm selbst hörte, er werde von allen verlassen werden, entgegnete er mutig: „Herr, ich bin bereit, mit dir in Kerker und Tod zu gehen" (Lk 22, 33—34). Nach einer Stunde aber, als er von einer Magd im Hof des Kaiphas gefragt wurde, ob er nicht einer von jenen sei, die mit Jesus, dem Galiläer, waren, verleugnete Petrus das mehrmals: „Ich kenne den Menschen nicht" (Mt 26, 72).

Wir haben absichtlich nur diese zwei Beispiele gewählt, weil sie vielleicht am bezeichnendsten sind. Doch läßt sich ihre Reihe nach Belieben verlängern. Erinnern wir uns nur ans Benehmen Petri während der Fahrt auf dem See, bei der Verklärung Christi auf dem Berge, bei der Fußwaschung, und wir werden zugeben müssen, daß Petrus von Natur aus kein Held, nicht einmal ein Charakter war. Und trotzdem nannte ihn Christus bereits im Augenblick der Berufung zum Apostelamt Kephas, den Felsen (vgl. Jo 1, 42); auf ihn baute er seine Kirche, ihm vertraute er das Weiden seiner Lämmer und Schafe an und gab ihm endlich die Schlüssel des Himmelreiches (vgl. Mt 16, 19). Der Gegensatz zwischen der menschlichen Natur Petri und seiner göttlichen Berufung ist so offensichtlich, daß wir folgenden Schluß daraus ziehen müssen: der Fels, auf dem die Kirche steht, ist nicht von Natur, sondern aus der Gnade unerschütterlich. Petrus bedeutet den Sieg der göttlichen Gnade über die menschliche Natur. Er ist der sichtbare Ausdruck der verwandelnden Macht des Heiligen Geistes, einer Macht, die beugt, was verhärtet ist, wärmt, was erkaltet ist, lenkt, was da irre geht (Sequenz der Pfingstmesse). Legt also Solowjew dem letzten Papst den Namen Petrus bei, so will er damit uns deutlich sagen, die Kirche erhalte und behaupte sich im Kampf gegen den Antichrist nicht durch die menschliche Genialität, sondern gerade durch jene „superna gratia", die den wankelmütigen Simon zu Kephas macht und nach der wir in unserem ganzen Dasein rufen. Am Ende der Geschichte nimmt diese immerwährende Gnade sogar den Namen jenes Menschen an, den sie in den Eckstein ihres ewigen Baues verwandelte. Die Bezeichnung des letzten Papstes mit dem Namen Petrus bedeutet in der Erzählung Solowjews den Primat des Heiligen Geistes in der historischen Existenz der Kirche.

Kraft dieser göttlichen Gnade, die in Petrus als Prinzip der kirchlichen Autorität und Unfehlbarkeit zum Ausdruck kommt, stößt der letzte Papst den Antichrist wie einen „räudigen Hund auf ewig hinaus aus dem Garten Gottes" und übergibt ihn seinem Vater, dem Satan. Das dreifache Anathema, das im Konzilssaal so mutig und feierlich erklingt, offenbart allen den felsenfesten Charakter der Kirche, den diese bis zum letzten Abschnitt ihres langen Weges ungebrochen bewahrt. Doch diesem höchst sinnvollen Akt geht in der Erzählung noch ein anderer voraus, nämlich die Entlarvung des Antichrist, die Solowjew bereits dem zweiten Führer der christustreuen Gläubigen, dem Starez Johannes, vorbehält. Nachdem dieser vom Weltkaiser verlangt hatte, „jetzt und hier" Jesus Christus, „den Sohn Gottes, erschienen im Fleische, auferstanden und wiederkommend", zu bekennen, wandte er „seine erstaunten und erschrockenen Augen nicht ab vom Antlitz des schweigenden Kaisers, und plötzlich prallte er vor Schreck zurück und schrie, sich umwendend, mit gedrüdtter Stimme: ,Kindelein, der Antichrist'!" Diese Szene ist unermeßlich tief. Sie ist eine dichterische Veranschaulichung jener Gabe des Heiligen Geistes, die der hl. Paulus die „Unterscheidung der Geister" (1 Kor 12, 10) nennt und deren Träger gerade Johannes ist. In seinem ersten Brief hat der Apostel Johannes folgendes geschrieben: „Geliebte, trauet nicht jedem Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind" (4,1). Die Geister zu prüfen und sie zu unterscheiden, ist ebenfalls die ewige Aufgabe der Kirche. „Denn viele falsche Propheten sind in die Welt ausgegangen" (1 Jo 4, 2). Sie tun „große Zeichen und Wunder" (Mt 24, 24), sie schicken sich an, uns Christus zu zeigen — bald in der Wüste, bald in den Kammern (vgl. Mt 24, 26). Daher warnt uns der Heiland selbst davor, diesen ,Propheten' zu glauben und auf den von ihnen gezeigten ,Christus' achtzuhaben (vgl. Mt 24, 26—27). Die Gabe, die Geister zu unterscheiden, ist eine der fundamentalen Gnaden des Heiligen Geistes, um die christliche Existenz in der Welt erhalten und entwickeln zu können.

Einen sichtbaren Ausdruck hat diese Gnade eben in der Person des Apostels Johannes gefunden. Dieser göttliche Hellseher erfaßte am tiefsten nicht nur Gott selber, indem er ihn die Liebe nannte (vgl. 1 Jo 4, 9), nicht nur den Erlöser, indem er ihm den Namen Logos gab (vgl. Jo 1,14), sondern zugleich auch die Welt, indem er sie als Widersacherin Christi deutete. Johannes war das auserwählte Rohr, durch das der Heilige Geist seine Gnade zur Unterscheidung der Geister in die Kirche goß. Es ist bezeichnend, daß der erste Verräter Jesu ebenfalls durch Johannes entlarvt worden war. Dem Johannes winkte ja Petrus, zu fragen, „wer es ist" (Jo 13, 26). Johannes war der erste, der vom Heiland selbst erfuhr, wer ihn verraten werde. Und diese Berufung, Verräter Christi zu entlarven, erfüllt Johannes im gesamten Leben der Kirche während ihrer irdischen Pilgerschaft. Was ist eigentlich seine Offenbarung, wenn nicht eine große Bloßlegung der antichristlichen Mächte in der Geschichte? Sinnvoll also legt Solowjew seinem Starez den Namen Johannes bei und schreibt eben ihm die endgültige Entlarvung des Antichrist zu. In diesem Sinne ist Johannes mehr als nur eine menschliche Persönlichkeit. Er ist ein Prinzip des kirchlichen Lebens und Wirkens, und zwar das Prinzip der Unterscheidung der Geister. Er geht Petrus vor, denn das Prinzip der Autorität wirkt erst dann erfolgreich, wenn das Prinzip der Unterscheidung die Ideen schon entwirrt hat.

Trotzdem aber sind das Prinzip der Autorität und das Prinzip der Unterscheidung der Geister allein nicht ausreichend, um die göttliche Mission der Kirche in der Welt zu behaupten und durchzusetzen, denn sie beide verhalten sich dem Antichrist gegenüber mehr oder weniger passiv. Die visionäre Entlarvung des Widerparts Christi und seine formelle Ausscheidung aus der kirchlichen Gemeinschaft beseitigen ihn ja bei weitem noch nicht aus der Geschichte. Er bleibt da und wirkt bis zum Ende. Er greift die Christen aktiv an, deshalb haben auch sie ihm eine tätige Antwort darauf zu geben. Angesichts der antichristlichen Mächte müssen die Anhänger Christi nicht nur diese erkennen und gegen sie den Bannfluch schleudern, sondern sie müssen gleichzeitig auch handeln. An die beiden genannten Prinzipien muß sich noch ein drittes angliedern: das Prinzip der Tätigkeit, dessen fleischgewordener Ausdruck gerade der Apostel Paulus ist. Im Vergleich mit Petrus erscheint Paulus als eine Eiche gegenüber dem Schilfrohr. Er bricht zwar, aber er schwankt nicht. „Voll Wut und Mordlust gegen die Jünger des Herrn" (Apg 9,1) verfolgte er die ersten Christen, denn damit meinte er die alte israelitische Religion verteidigen zu können. Auf dem Wege nach Damaskus jedoch von der höheren Macht gerührt und auf den Boden geworfen, stellte er nur zwei Fragen an diese: „Wer bist du, Herr?", und: „Herr, was willst du, daß ich tun soll?" (Apg 9, 5—6.) Nachdem ihm seine neue Berufung klargeworden war, verteidigte Paulus das Christentum ebenso eifrig und mutig, wie er es früher verfolgt hatte. Die Gnade fand in ihm eine zur Tat geneigte Natur. Paulus ist Symbol der Mitwirkung des Menschen in der Religion. Er ist ein ewiger Hinweis darauf, daß das göttliche Senfkorn der Kirche der menschlichen Pflanzung und Pflege bedarf, um sich zum prophezeiten Baum zu entfalten.

Folgerichtig läßt Solowjew in seiner Erzählung neben Petrus und Johannes auch Paulus in der Person des Professors Pauli hervortreten. Die letzten wie auch die ersten Christen verhielten sich dem Antichrist gegenüber nicht passiv, sondern sie handelten. Den Szenen der Entlarvung und der Ausstoßung folgte die Szene der Tat. Nach der Ermordung des Papstes Petrus und des Starez Johannes war die Erregung der Christen im Konzilssaal selbstverständlich unsagbar. Alle waren „vor Furcht halb tot". Der einzige, der „einen klaren Kopf behalten hatte, war der Professor Pauli. Der allgemeine Schrecken hatte die Kräfte seines Geistes gewissermaßen geweckt... Mit sicheren Schritten betrat er die Estrade, setzte sich auf einen der leergewordenen Plätze eines Staatssekretärs, nahm ein Blatt Papier und begann etwas darauf zu schreiben." Er verfaßte ein Dokument, in dem der Weltkaiser für den wahren, bereits in der Offenbarung Gottes angekündigten Antichrist erklärt und die Richtlinien für das weitere Handeln der Christen festgelegt wurden: „allen Verkehr mit dem Verstoßenen und seiner greulichen Rotte abzubrechen und in die Wüste zu gehen, um dort die unfehlbare Wiederkunft unseres wahren Herrn Jesus Christus zu erwarten". Professor Pauli gab der Versammlung „ein aufforderndes Zeichen; alle gingen eilig auf die Empore und unterschrieben" das Dokument. Gleich darauf wurden die Leiber der Ermordeten auf Bahren gelegt, und die letzten Christen schritten „unter dem Gesang lateinischer, deutscher und kirchenslawischer Hymnen" aus der Stadt hinaus. Später, „am Abend des vierten Tages", begab sich Professor Pauli „mit neun Begleitern" aus der Wüste nach Jerusalem, stahl sich in die Stadt, holte die vom Antichrist geschändeten Leichname des Papstes Petrus und des Starez Johannes und kehrte „auf den gleichen Umgehungswegen" in die Wüste zurück. Das war das unentbehrliche menschliche Handeln in der gegebenen Situation des Christentums. Es ist zu bemerken, daß Professor Pauli ein Laie war. Zwar war er ein „hochgelehrter deutscher Theologe", jedoch kein Priester, „da die evangelische Konfession kein Priestertum im eigentlichen Sinne kennt". Damit wollte Solowjew offenbar sagen, daß das Prinzip der Tätigkeit sich nicht auf die Hierarchie beschränkt, sondern alle Christen angeht und sie alle zum Handeln verpflichtet. Die Tätigkeit des Christen in der Kirche ist die menschliche Antwort auf die Erlösungstat Christi. In dem Apostel Paulus erreichte diese Antwort eine besondere Fruchtbarkeit. Deswegen wurde Paulus zum Symbol der geheiligten Tat in der christlichen Existenz. Aus diesem Grunde trägt auch der letzte Führer der tatmutigen christlichen Gemeinschaft den Namen Pauli als einen deutlichen Hinweis darauf, daß die Tätigkeit des Menschen sich bis zum Ende der Geschichte in der Kirche lebendig erhält.

Indem Solowjew das petrinische, das johanneische und das pau-linische Prinzip am Ende der historischen Zeit sichtbar hervortreten läßt, will er uns tief ans Herz legen, daß keines von diesen Prinzipien, von anderen getrennt und in sich allein gelassen, imstande ist, das Leben der Kirche in seiner Fülle zu vertreten und noch weniger zu verteidigen. Nur in ihrer organischen Einheit sind sie dazu fähig. Nur dann, wenn die Autorität von der Unterscheidung der Geister getragen wird und beide durch die eifrige Tätigkeit der Christen objektiviert sind, kann die Kirche den Drohungen und Anschlägen des Antichrist trotzen und sich in der stürmischen Zeit ihrer irdischen Pilgerschaft behaupten. Petrus, Johannes und Paulus, diese drei Grundsäulen der Kirche und zugleich auch Grundsymbole ihres Wirkens auf Erden, sind derselben Wurzel entsprossen und können daher nicht voneinander getrennt werden. Sie weisen organisch und wesentlich aufeinander hin als verschiedene Gaben auf einen und denselben Geist (vgl. 1 Kor 12, 11). Sei der eine oder der andere von ihnen im Laufe der Zeit verdunkelt, verschwiegen, hie und da sogar der Gesamtheit entgegengestellt, sie erheben sich trotzdem gegen jede menschliche Entstellung oder Verkümmerung und verlangen endlich nach der göttlichen Fülle in der Verbundenheit. Die Einheit der Kirche ist daher nicht etwas Zufälliges oder Primitives, sondern ihr Wesen selbst: sie ist die Einheitlichkeit der Lebenskraft im Senfkorn.

Der Akt der Wiedervereinigung der Kirchen bildet die letzte Szene in der Erzählung Solowjews. Nachdem Professor Pauli mit den Leichnamen des Papstes Petrus und des Starez Johannes zurückgekehrt war und die Bahren auf die Erde gestellt hatte, erweckte der Geist Gottes die Ermordeten wieder zum Leben, und bald „standen die Wiederbelebten heil und unbeschädigt auf ihren Füßen". Dann aber begann Johannes: „Nun, Kindlein, seht ihr, wir haben uns auch nicht getrennt, und gebt acht, was ich euch jetzt sage: Es ist die Zeit, daß das letzte Gebet Christi über seine Jünger in Erfüllung gehe, daß sie eins seien, gleich wie er selbst mit dem Vater eins ist. Und so, Kind-lein, geben wir um dieser Eintracht in Christo willen unserem geliebten Bruder Petrus die Ehre. Er soll zum Schluß die Schafe Christi weiden. So sei es, Bruder!" Und er umarmte den Petrus. Da trat Professor Pauli heran. „Tu es Petrus", wandte er sich an den Papst, „jetzt ist es ja gründlich erwiesen und außer jeden Zweifel gesetzt." Und mit seiner Rechten drückte er fest dessen Hand, während er die Linke dem Starez Johannes mit den Worten reichte: „So also, Väterchen, nun sind wir ja eins in Christo." Damit vollzog sich die Vereinigung der Kirchen inmitten dunkler Nacht, an einem hochgelegenen und einsamen Ort in der Wüste.

Erinnern wir uns an die antidiristliche Vereinigung der Konfessionen im Konzilssaal durch Apollonius, so finden wir einen wesentlichen Unterschied zwischen diesen zwei Akten. Der Akt im Konzilssaal war ein politisches Ereignis, aus dem Willen des Weltkaisers entstanden. Deshalb ward er dokumentarisch festgelegt und unterschrieben. Im Wesen aber war er nichts anderes als die Fortsetzung der Welteinheit, die der Kaiser unter seiner Regierung erzwungen hatte. Daher war auch sein Charakter rein weltlich. Die Wiedervereinigung der Kirchen in der Wüste von Jericho war dagegen ein tiefer religiöser Akt. Die beiden Vertreter der von der katholischen Kirche losgetrennten Konfessionen — der Orthodoxie und des Protestantismus — erkannten den Primat des Papstes an und erwiesen ihm die Ehre als dem sichtbaren Haupt der universalen Kirche Christi. Dazu brauchten sie kein Dokument, keine Unterschrift, nur einen brüderlichen Kuß der Liebe und einen herzlichen Händedruck der Treue. Dies geschah nicht in einem Saal der Versammlung, sondern an einem einsamen Ort, der wohl als Symbol der Innerlichkeit verstanden werden kann. Drei ewige Prinzipien der Kirche, die immer in ihrer langen Geschichte am Leben waren, die aber ihre organische Einheit wegen der menschlichen Sünden und Fehler eingebüßt hatten, umarmten sich in Christo, der ihr Ursprung und ihr tragender Grund ist. Die Wiedervereinigung der Kirchen erfolgte nicht auf dem Papier, sondern im Geiste durch die Anerkennung der Worte Christi: „Tu es Petrus". Und nur solche Einheit ist vom Heiland in seinem Gebet eingeschlossen. Nur solche Einheit ist vom Heiligen Geist am Rande der Zeiten durchgeführt. Jede andere, die sich am runden Tisch der gleichberechtigten Konferenzteilnehmer vollzieht, trägt politischen Charakter und ist weltlicher Natur. Die Unterscheidung der Geister ist in diesem Punkt ebensowohl notwendig wie in jedem anderen.

Die Wiedervereinigung der Kirchen erfüllt die ursprüngliche Prophezeiung Christi: „es wird eine Herde und ein Hirt werden" (Jo 10, 16). Sie schließt aber gleichzeitig auch den irdischen Weltprozeß endgültig ab. Das „consummatum est" am Kreuze (vgl. Jo 19, 30) erweitert sich bis zur Universalität, und das große Erlösungsdrama, auf dem Kalvarienberg begonnen, erreicht dadurch seine letzte Vollendung. Einmal noch wird die geschichtliche Zeit voll: die zweite Ankunft Christi steht unmittelbar bevor. Als die letzten Führer der Christen, erzählt Solowjew, feststellten, daß sie schon „eins in Christo" sind, wurde das nächtliche Dunkel „plötzlich durch einen hellen Glanz" erleuchtet, und am Himmel erschien „ein großes Zeichen: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Die Erscheinung verharrte einige Zeit an der Stelle und bewegte sich dann langsam nach Süden. Papst Petrus erhob seinen Krummstab und rief: ,Das ist unser Panier! Ihm gehen wir nach!' Und begleitet von den beiden Ältesten und der ganzen Christenschar, ging er der Erscheinung nach — zum Berge Gottes, zum Sinai." Es war jedoch kein geschichtlicher Weg mehr. Er führte die Christen bereits ins Jenseits, denn als sie sich „von Sinai zum Zion" bewegten, tat sich der Himmel „in einem großen Blitz" auf, und der Christus kam „in königlichem Gewände" und „mit den Nägelmalen an den ausgebreiteten Händen" herab. Einig und treu begegnete die Kirche ihrem göttlichem Haupte und vereinigte sich mit ihm für ewig. Das große Zeichen holte die Christenheit und den ganzen erlösten Kosmos endgültig heim.

Der Antichrist, der „mit einem unzählbaren Heere aus verschiedenen heidnischen Stämmen" gegen die aufständischen Juden18 hinausgezogen war, wurde samt seinen Regimentern und seinem unzertrennlichen Begleiter Apollonius durch Feuerströme eines riesigen Vulkans am Toten Meer verschlungen. Der Kampf um das Reich Gottes auf Erden war vollendet. Die Geschichte erreichte den Abschluß ihres langen Weges. Zu den am Leben gebliebenen Christen, die aus der Wüste kamen, gesellten sich „alle vom Antichrist getöteten Juden und Christen: diese waren wiederauferstanden und regierten mit Christo tausend Jahre". Das Gute siegte, nicht aber auf dem Weg der natürlichen Entwicklung oder der schöpferischen Umgestaltung der Welt, sondern durch das direkte Eingreifen Gottes in den historischen Prozeß. Das zeitliche Dasein wurde durch das überzeitliche Leben im Neuen Jerusalem abgelöst.

Papst Leo XIII., Enzyklika „Octobri mense", 22. Sept. 1891.
Papst Leo XIII., Enzyklika „Octobri mense".
3 Vgl. Papst Pius XII., Enzyklika„Mystici Corporis Christi" (29. Juni 1943): „Es ist offenkundig, daß die Christgläubigen unbedingt der Hilfe des göttlichen Erlösers bedürfen .. . Jedoch muß auch festgestellt werden, so seltsam es erscheinen mag, daß Christus nach der Hilfe seiner Glieder verlangt... Überdies will unser Erlöser ... die Mitwirkung der Glieder seines mystischen Leibes bei der Ausführung des Erlös ungswerkes."

4 Vgl. Abt Bernhard OSB, Dreifaches Priestertum, Neresheim 1947; Yves M. J. Congar OP, Jalons pour une théologie du Laïcat, Paris 1953.
 Daß der Mensch sich durch den Mord zum Richter über das Dasein seines Mitmenschen wirklich zu erheben sucht, hat uns Dostojewskij in „Schuld und Sühne" am eindrucksvollsten gezeigt. „Ich wollte ein Napoleon werden", so erklärt Raskolnikow den tiefsten Grund seines Frevels, „und habe sie deshalb ermordet ... Ich erriet damals, Sonja, daß die Macht dem gegeben wird, der es wagt, sich zu bücken und sie zu nehmen. Hier gibt es nur eins: Wagen... Ich wollte es wagen und erschlug sie... ich wollte es nur wagen, Sonja, das ist der ganze Grund."
 Die Forderung des Blutes von der Hand eines jeden Menschen wurde zum tragenden Grund der Gesetzgebung Moses': „Wer einen Menschen erschlägt mit der Absicht, zu morden, sterbe des Todes" (Ex 21, 12). Dieses Gesetz war im Alten Testament so umfangreich, daß es sogar gestattete, das auch ohne Absicht, zu morden, vergossene Blut zu rächen. Wollte sich einer, der unabsichtlich das Blut vergossen hatte, dieser gesetzmäßigen Rache entziehen, so mußte er in eine der von Moses bestimmten Zufluchtsstädte fliehen und sich dort vor die Gemeinde stellen. Wurde er für unschuldig befunden, so durfte er noch nicht die Stadt verlassen, sondern sollte daselbst bleiben, „bis der Hohepriester, der mit dem heiligen Öle gesalbt ist, stirbt" (Nm 35, 25—28). Das war „ewiges Gesetz" in allen israelitischen Wohnsitzen, wie es Moses selbst nennt (35, 29).
7 Aischylos. Ubersetzung und Interpretation von W. Leyhausen, Berlin 1948, S. 119 u. 150.
Übersetzung von S. Lipiner, Leipzig 1887, S. 152.
Totenfeier S. 151—152.
10  Die Brüder Karamasow S. 1198.
11  Im Vergessen Gottes können wir vielleicht auch eine Erklärung finden, warum Christus von seiner zweiten Ankunft als von einer Überraschung für die Welt so nachdrücklich spricht (vgl. Mt 24, 27 36—41; Mk 13,33—37; Lk 17,24—35). Wenn sich der apokalyptische Abfall von Gott durch den Kampf vollziehen würde, könnten die Menschen von Christus nicht so unvermutet überrascht werden wie Sodoma in den Tagen Lots vom Feuerregen (vgl. Lk 17,28), denn der prometheische Kampf erfordert ebenso ein gewisses, wenn auch verweltlichtes Wachsein. Dagegen lullt das Vergessen die Menschheit in Sicherheit ein, sie denkt weder an Gott noch an seinen Sohn mehr, erlebt daher sein Erscheinen als Einbruch des Diebes in ihr ruhiges mitternächtliches Dasein.
12 Petersburg als Zufluchtsort des Papsttums bedeutet den Zusammenbruch des früheren Solowjewschen Traumes, das theokratische Reich aus der Vereinigung des römischen Papstes mit dem russischen Zar erstehen zu sehen. „Der mächtige Zar", schrieb Solowjew in seinem Artikel „Das Judentum und die christliche Frage" (1884), „wird seine hilfsbereite Hand dem verfolgten Hohenpriester ausstrecken. Dann werden auch die wahren Propheten aus der Mitte aller Völker hervorgehen und Zeugnis sowohl für den Zar als auch für den Priester
ablegen" (vgl. Močulskij S. 150). An Stelle dessen ist der verbannte Papst in Petersburg „unter der Bedingung aufgenommen worden, sich hier und im ganzen Lande der Propaganda zu enthalten". An Stelle der wahren Propheten erschien Apollonius, der falsche Prophet, der sowohl die kirchliche Gewalt (als ,Papst') wie auch die weltliche (als Kanzler des Weltstaates) entwürdigte.
13 Aus diesem Grund konnte auch die Vereinigung Solowjews mit der römischen Kirche, die am 18. Februar 1896 in Moskau stattfand, erst 1910 bekanntwerden; sonst wären sowohl Solowjew selbst als auch Pater A. N. Tolstoj, der ihn in die katholische Kirche aufnahm, vom Staat als Abtrünnige von der Orthodoxie bestraft worden.
14 Solowjew, Über die geistige Macht in Rußland, 1881 (vgl. Močulskij S. 135).
15 Enzyklika „Immortale Dei", 1. Nov. 1885.
16 Vgl. Močulskij S. 142; L. Müller, Solowjew und der Protestantismus, Freiburg 1951, S. 42—47.
17  Die Zahl als die eindrucksvollste Erscheinung der Masse besitzt in der Tat eine bezaubernde und anziehende Macht. Sie verführt nicht nur Personen, sondern sogar Kulturen und geschichtliche Epochen, indem sie den Mangel an Qualität mit einem Ubermaß an Quantität überdeckt. Die Zahl ist die Maske des Wertes. Aus diesem Grund stützt sich der Antichrist immer auf eine große Zahl. Er will stets den Namen der Legion führen (vgl. Lk 8, 31). Ein gewisser Kult der Zahl ist eines der bezeidinenden Merkmale des Antichristlichen. Mit Recht behauptet deshalb G. Marcel: „Nur wenn wir uns von dieser Magie der Zahl frei machen, dürfen wir hoffen, im Geistigen zu bleiben, das heißt in der Wahrheit" (Pessimismus und eschatologisches Bewußtseins, in: „Dokumente" 1, 1950, S. 60). Aus diesem Grund hat Gott die von David unternommene Volkszählung verworfen und eine Pest als Strafe dafür über Israel geschickt (vgl. 2 Sam 24).
18  In seinem Artikel „Das Judentum und die christliche Frage" (1884) schrieb Solowjew: „Wie einst die Blüte des Judentums (Maria, d. Verf.) als empfängliches Milieu zur Menschwerdung Gottes diente, so wird auch das künftige Israel als tätiger Vermittler zur Vermenschlichung des materiellen Lebens und der Natur zwecks der Schöpfung der neuen Erde, auf der die Gerechtigkeit lebt, dienen." Diese hohe heilsgeschichtliche Rolle ist jedoch dem Judentum in der Erzählung vom Antichrist abgesprochen. Als der Antichrist seine Residenz nach Jerusalem verlegt hatte, hatten die Juden „ihn als Messias anerkannt, und ihre Begeisterung und Ergebenheit war ins Grenzenlose gestiegen". Erst als sie feststellten, daß der Weltkaiser kein Vollblutisraelit war, standen sie „wie ein Mann gegen den verschlagenen Betrüger und frechen Usurpator" auf.

NAMEN- UND SACHVERZEICHNIS

Abel 158.
Abfall 31 ff. 76 195 198 203.
Aischylos 22 196.
Aksakow, I. 74.
Angebot 145 ff.
Angst 85.
Ankunft (Christi) 27 ff. 202
221 ff.

Antichrist:
— Fälscher 45 73 80.
— Gegensatz zu Christus 70.
— in der Geschichte 40.
— seine Herkunft 66 77 79.
— immerwährende Erscheinung 42 ff.
— als leibliches Kunstwerk 69 71.
— Lehrer 127.
— in der Natur 38 ff.
— als Person 41 ff.
— Politiker 111.
— seine Symbole 31 37.
— sein Untergang 222.
— als Usurpator 73 103 108 110 150 165.
— sein Wesen 41.
— Wohltäter 127 ff. 160 164. Antitheismus 202.

Apostel 65 ff. 83.
Armut 163 ff.
Atheismus 22 48 124 202.
Auferstehung:
— Christi 62 ff.
— universale 5.

Aufklärung 36.
Augenblick (exist.) 123.
Augustinus 4 69 100 101.
Autorität 94 ff. 216.

Berdjajew, N. 20 21 36 40 97 131.
Bernhard, Abt 189.
Bernhart, J. 39.
Böhme, J. 21.

Böse l ff. 49.
— Begriff 3 ff.
— gesellschaftliches 2.
— individuelles 2.
— physisches 3.
— sein Problem 3.
— sein Sieg in der Natur 33.
— Träger 4.
— als Unzulänglichkeit 1 14.

Botschaft (antichr.) 136 138 ff. 140.
Bourgeois 197.
Brot 175 180.
Bulgakow, S. 172.

Caritas 51.
Chaldun, Ibn 34.
Christ 188 192.

Christus:
— Alpha und Omega 61.
— als Band 140.
— seine Fälschung 41.
— seine Frage 54 56.
— Friedensstifter 152 155.
— und die Geschichte 26 ff. 29.
— Haupt der Kirche 192.
— Herr des Daseins 143.
— als Kämpfer 32.
— sein Leib 203 206.
— Person und Persönlichkeit 25.
— Präsenz in der Kirche 60.
— und das Schöne 70 ff.

Christus :
— in der Hl. Schrift 100 ff.
— als Umstürzler 185 ff.
— Urbild des Menschen 137.
— seine Versuchung 175.
— als Vorgänger 56 58.
— Wesen des Christentums 55 103.

Civitas (Dei und diaboli) 129.
Congar, Y. M. J. 189 204.

Dambrauskas-Jakštas, A. 17 29.
Dämonismus 39.
Dasein 142 ff.
Diesseits 139.
Ding 80 ff.
Dogma 115.
Dostojewskij, F. 3 47 63 73 74 75 87 122 123 157 191 201.
Drohung 146 ff.
Duns Scott 25 41.
Durchschnittlichkeit 131.

Eigenliebe 47 50 ff. 79 85 ff.
Einheit 140 ff. 153 156 ff.
— der Kirche 219 ff.

Entchristlichung 179.
Entelechie 140.
Entmassung 133.
Entscheidung 23 31 ff.
Erkenntnislehre 80.
Erlösung 178.
Evangelium 134 ff. 140.
Ewigweibliches 3.
Exegese 99 ff.
Existenzphilosophie 20 123.

Faktizität 138 ff. 165 185.
Falk, H. 75.
Feigheit 148 ff.
Fleischwerdung s. Menschwerdung.
Fortschrittstheorie 36.
Freiheit 154.
Friede 151 ff.

Ganzheit 141.
Gegenwart 162.
Gemeinschaft 210.

Geschichte:
— Antwort des Menschen 30 32.
— Begriff 17 19 34 ff.
— Bühne der Erlösung 59.
— als christozentrischer Verlauf 29 ff.
— ihr Drama 35.
— ihr Ende 27 ff. 33 ff.
— Geschick des Menschen 20 ff.
— als Kampf 16 32 ff.
— als Kulturwerdung 19.
— und Martyrium 190 193.
— Noumenon 20.
— ihr Prolog im Himmel 17.
— Offenbarung des Diabolischen 40.
— Offenbarung des Gottmensdi-tums 24.
— als Religionswerdung 20.
— Sehnsucht nach Christus 26.
— ihre Träger 210.
— als Unterscheidungszeit 32 ff.
 

Geschichtsphilosophie 8 9 ff. 14 16 23 37.
Geschichtstheologie 16 40.
Gesellschaft 210.
Gewalt 111 ff. 150.
Glaube 46 179 204.
Glück 174.
Goethe 18 84.
Gott 5 11.
Gottähnlichkeit 169.
Gottesidee 121 ff. 125 201 ff.
Gottesverehrung 118 ff.
Gottlosigkeit s. Atheismus. Gottmensch tum 4 27 111 141 213.

Guardini, R. 72 155 173.
Gute 4, 33.

Haß 52 104 158 ff.
Heidegger, M. 20 85.
Heiligkeit 70.
Hingabe 77 ff.
Hoffnung 162 ff. 204.
Hunger 163 ff.

Ich (fleischliches) 138.
Idealität 138.

Indifferentismus 114 116ff. 119 121 124.
Immanentismus 8.

Jerusalem 106.
Job 17 ff.
Joël, К. 23.
Johannes (Apostel) 169 214 216 ff.
Juden 84 222.

Kain 124 158.
Kampf 1 ff. 4 6 50 92 196 199 222.
Katholizismus 205 ff.
Katholizität 120.
Kirche 97 ff. 120 126 175 ff. 212.
— Ausschaltung aus dem Leben 177 ff.
— ihr Drama in der Geschichte
182.
— ihre Einheit 219 ff.
— und die äußeren Formen 205 207.
— als Gottmenschtum 213.
— und die Masse 203 ff.
— und das Menschliche 213 ff.
— als Seinshaftes 177.
— ihre Übernatürlichkeit 59.
— und die Urkirche 213.
— ihre Verfolgung 184 187 193.
— ihre Versuchung 176 180 ff.
— ihre Weltwerdung 180 ff.

Kirchenvereinigung 119 124
220 ff.
Kollektiv s. Masse. Kreuz 9 108.
Kreuzerhöhung 107 110.
Kreuzopfer 188.
Kult 115 ff. 118 128.

Kultur 58 90.
— Begriff 19.
— und die Geschichte 19 21.
— Untergang 34.
 

Kulturphilosophie 34.

Laizismus 111.
Leib 70 ff. 78 161.
Leid 7 ff.
Leo XII. 12 116 187 208.
Leugnen (Gottes) 195.
Leyhausen, W. 196.
Liberalismus 208.

Liebe 46 ff. 77 ff. 110 123 142 204 217.
— zum Antichrist 145 147 149.
— zu Christus 143 ff.
— zu Gott 142.
— Gottes zum Menschen 154.
— zum Nächsten 142.
— im sozialen Leben 155.

Liebeswerk 51.
Lipiner, S. 87 197.
Liturgie 173.
Lüge 77 79 81 ff. 88 140.

Macht 72 175 180.
Marcel, G. 212.
Martyrium 184 189 ff.
Masse 131 ff. 149 198 200 ff.
Massenmord 113 184.
Materialismus 91 ff.
Mensch:
— Bild Gottes 191.
— Empörer 22.
— Existenz 110.
— Geschöpf 19.
— Hirt des Seins 85.
— Mitarbeiter Christi 206.
— Pilger 124.
— Schöpfer 18.
— Symbol des apokalyptischen Tieres 90.
Mensdi:
— transzendierendes Wesen 137.
Menschgott 123.
Menschwerdung 26 89 90 111.
Messias 63.
Meßopfer 188 ff.
Mickiewicz, Ad. 87 197 199.
Mitsein 48 78 142 ff. 157 159.
Močulskij, К. 3 5 11 12 14 75 206 209.
Moral 127.
Mord 52 ff. 147 190 ff.
Moses 191 192.
Müller, L. 107 209.
Mythos 21 102.

Nächste 157.
Natur 21 38.
Neuer Bund 153.
Newman, J. H. 40.
Nichtsein 85 ff.
Nietzsche 118.
Norm (der Moral) 209 211.

Offenbarung 80.
Opfer 29 141 153 ff. 205 207.
Optimismus 35.
Ortega у Gasset 131.
Orthodoxie 207 ff.
Orwell, G. 150 159.

Papsttum 76 94 ff. 211.
Paradies 8 14 ff.
Paulus 218 ff.
Person 70 131 178 191.
Personwerdung 133.
Pessimismus 34.
Petrus 214 ff.
Pius XII. 131 132 188.
Politik 111 ff.
Potentia obedientialis 136 138.
Priestertum (allgem.) 189.
Prometheismus 124 196 200.
Protestantismus 209 ff.

Rache 191 ff.
Rahner, H. 172.
Reform (protest.) 120.
Reich (antichr.) 126 129 130 132 158.
Reichtum 164.

Religion 47 115.
— Begriff 19.
— Beziehung zu Gott 22.
— Form der Geschichte 20.
— Offenbarung Gottes 25.
— Vollendung der Geschichte 21 23.

Renan 56.
Rom 105.

Sattsein 161 ff. 167.
Scheeben, M. J. 20.
Schönheit 67 69 ff. 169 ff.
Schrift, Hl. 99 ff.
Selbsttranszendieren 135.
Selbstverleugnung 50.
Skeptizismus 117.
Solowjew 1—16.
Sophia 107 171 ff.
Sozialreform 160 ff 166 ff.
Spengler, O. 34.
Spiel 171 ff.
Spiritualismus 92 ff.
Staat 207 ff.
Strauß, Fr. 56.
Strémooukhoff, D. 107.
Sünde 15.
Synkretismus 141.
Szylkarski, Wl. 15 75.

Tätigkeit 217 ff.
Teufel 47 49.
— als Ankläger 17.
— Feind des Daseins 85.
— Spotter 87.
— Vater der Lüge 81 ff.
Theokratie 10 12.
Theosophie 10 11.
Theresia v. Avila 47.
Theurgie 10 13.
Thomas v. A. 4 26.
Tod 3 5 7 ff. 62 64 71 143.
Tolstoj, A. N. 207.
Tolstoj,
L. 5 6.

Überlieferung 96 ff. 209 ff.
Unfehlbarkeit 216.
Unterscheidung 217.
Unterwegssein 124.
Unzucht 78 ff.
Urbild 80 ff.
Usurpator 157 191.

Verfolgungen 183 ff. 187.
Vergessen (Gottes) 195 197 ff.
201 ff.
Vergnügen 168 170.
Vergöttlichung 181.
Verklärung 7 71.
Viatorsein 162.
Vico, G. 34.
Vorgänger 58.

Wachsein 202.
Wahrheit 79 ff.
Welt 185 ff. 217 220.
Weltende 5 194.
Weltlichkeit 204.
Weltwerdung 180 ff.
Wert 69 211 ff.
Wohlstand 160 ff. 165 ff.
Wohltätigkeit 51.
Wunder 175 180.
Wüste 179 ff.

Zahl 211 ff.
Zeit 23 ff. 27 36.
Zukunft 162.